Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Disziplin kann man lernen
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Man lernt ja nie aus. Aber in manchen Lebensphasen lernt man besonders viel – vorausgesetzt, man bekommt die Chance dazu. Eine besonders intensive Lernerfahrung habe ich nicht in der Schule oder an der Universität gemacht, sondern im Krankenhaus. Es war die Zeit, als man als junger Erwachsener in Deutschland noch Wehr- oder Zivildienst leisten musste. Ich entschied mich für einen 15-monatigen Einsatz in einer Klinik in Dresden. Morgens klingelte der Wecker um 4.40 Uhr, anschließend gondelte ich in einer quietschenden Straßenbahn quer durch die Stadt zur Arbeit. Mehrere Monate lang schob ich Patienten in Betten oder Rollstühlen über die Flure oder half, Verletzte aus dem Hubschrauber zum Operationssaal zu tragen. Verstorbene mussten von den Stationen abgeholt und ins Kühlhaus gebracht werden. In vielen Gesprächen lernte ich Schwestern, Pfleger, Ärzte und das Schicksal von Erkrankten kennen.
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Dann durfte ich in den OP-Saal wechseln und dort helfen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Behandlungen von Knochenbrüchen, Tumoren und andere Eingriffe ich miterlebt habe, aber es waren viele. Und als ich nach 15 Monaten meinen Abschied nahm, war ich ein anderer Mensch geworden. Ich hatte Leid und Hoffnung erlebt, von tragischen und ermutigenden Schicksalen erfahren. Ich hatte einen Gutteil meines jugendlichen Leichtsinns und wohl auch meiner Naivität verloren – und dafür einen großen Respekt vor den Winkelzügen des Lebens und vor anderen Menschen gewonnen. Diese Erfahrung in jungen Jahren hat mich für mein ganzes Leben geprägt.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen, aber wenn ich heute Heranwachsenden begegne, dann ertappe ich mich gelegentlich dabei, dass ich denke: Der oder die ist ja noch ganz schön grün hinter den Ohren. Und auch ziemlich selbstbezogen. Dem oder der hätte ein Pflichtdienst gutgetan. Um zu lernen, dass man selbst nicht immer das Maß aller Dinge ist. Dass unsere Gesellschaft nur dann stabil bleibt, wenn man sich aktiv für sie einsetzt. Aber auch, um sich vermeintlich altmodische Qualitäten wie Disziplin, Pünktlichkeit und Respekt anzueignen, die vielen jungen Leuten zu Hause oder in der Schule nicht mehr beigebracht zu werden scheinen. Schon einmal habe ich hier den Eindruck notiert, dass Disziplin in unserer bunten, individualisierten und gelegentlich zum Hedonismus neigenden Gesellschaft wichtiger denn je ist.
Heute ist das Thema aktueller denn je. Wenn einige Mitmenschen ohne Maske in der U-Bahn hocken, andere ihren Hass ins Internet kübeln oder manche Fußgängerzonen verwüsten, dann ist es an der Zeit, einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, ob der Staat stärker dabei helfen kann, jungen Leuten Anstand und Selbstbeherrschung beizubringen. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat gestern ihren "Bundeswehr-Freiwilligendienst als Beitrag für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland" vorgestellt, aber ich denke, der greift viel zu kurz.
Interessanter ist der Vorstoß von drei Oberbürgermeistern aus Tübingen, Schorndorf und Schwäbisch Gmünd. Boris Palmer (Grüne), Matthias Klopfer (SPD) und Richard Arnold (CDU) haben einen Brief an den Ministerpräsidenten und den Innenminister Baden-Württembergs geschrieben, in dem sie Vorschläge machen, wie sich Gewaltausbrüche wie jüngst in Stuttgart und Frankfurt künftig verhindern lassen. Immer öfter beobachten sie Respektlosigkeit gegenüber Polizisten, Rettungsdiensten oder Behördenmitarbeitern, von Rotzbuben-Gehabe bis zu roher Gewalt. Und oft hätten die Täter einen Migrationshintergrund. "Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir in dieser Diskussion mit einer pauschalen, dumpfen Brandmarkung junger Menschen als fanatisierte, marodierende Ausländerhorden ebenso wenig weiterkommen wie mit einer von der eigenen Moral berauschten sozialpädagogischen Betreuungsromantik", schreiben die drei und schlagen zweierlei vor: erstens entschlossene Antworten des Rechtsstaats. Boris Palmer hat mir das Anliegen gestern so erklärt:
"Die Wurzel des Gewaltproblems bei jungen, zugewanderten Männern ist die Sozialisation. Viele kommen aus Gesellschaften, in denen männliche Gewalt häufig als normal empfunden wird. Natürlich haben sie diese Prägung nicht einfach bei der Einreise nach Deutschland abgelegt. Aus dem Lagebericht zur Kriminalität im Kontext von Zuwanderung wissen wir, dass unter den Asylsuchenden rund 50.000 Mehrfachstraftäter sind. Das sind nur etwa vier Prozent der Asylsuchenden, aber die machen uns massive Probleme. Die Liberalität unseres Rechtsstaates verstehen sie als Schwäche. Weil wir nicht rechtzeitig Stopp sagen, geraten sie auf eine schiefe Bahn, an deren Ende schwere Gewalt stehen kann."
Und weiter: "Ob kürzlich zugereiste oder hier lebende Männer mit Migrationshintergrund: Für Mehrfach-Gewalttäter, die andere anstecken – so, wie wir es in Stuttgart und Frankfurt gesehen haben – reichen die bestehenden Integrationsangebote nicht aus. Wer sich nicht an die Regeln des friedlichen Zusammenlebens hält und mehrfach Gesetze bricht, dem müssen wir erst die gelbe und dann die rote Karte zeigen. Und zwar schnell, nicht erst, wenn die Leute nach zahlreichen Straftaten vor dem Richter stehen. Man kann die Leute natürlich nach den ersten ein, zwei leichten Straftaten nicht sofort ins Gefängnis schicken. Geld haben sie oft auch nicht. Aber man kann sie zurück in die Erstaufnahmeeinrichtungen schicken und ihnen so signalisieren: So geht’s nicht! Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, dann wirst du nicht mehr unterstützt und verlierst das Privileg auf eine gestellte Wohnung. Wir sollten das auch deshalb machen, um zu verhindern, dass Bilder wie aus Stuttgart oder Frankfurt den Rassismus in der Bevölkerung nähren. Denn die allermeisten Flüchtlinge leben ja friedlich hier. Sie dürfen nicht für die kleine Gruppe der Gewalttäter in Mithaftung genommen werden."
Den drei Oberbürgermeistern geht es aber nicht nur um Gewalttäter, ihr zweiter Vorschlag klingt noch interessanter: Sie fordern einen verpflichtenden gesellschaftlichen Grunddienst für alle jungen Menschen, die in unserem Land leben – unabhängig von der jeweiligen Staatsbürgerschaft. Boris Palmer hat es mir so erklärt:
"Das Leben ist der beste Lehrmeister. Wir brauchen mehr Zusammenhalt in unserer Gesellschaft, Ichlinge gibt es schon genug. Durch einen verpflichtenden Sozialdienst kämen Menschen aus unterschiedlichen Bevölkerungsmilieus in Kontakt: der Asylbewerber aus Afghanistan mit dem Professorensohn aus Hamburg. Eine Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland braucht den Kontakt zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsschichten. Man macht einen Sanitäter vielleicht nicht mehr blöd an, wenn man selbst mal als Sanitäter gearbeitet hat.“
Selbst wenn man das eine oder andere an dem Vorstoß, dem Brief oder auch an Boris Palmer selbst kritisieren mag – grundsätzlich ist die Idee sicher nicht verkehrt, zum einen absehbare Kriminalitätskarrieren frühzeitig zu unterbrechen und zum anderen junge Leute einen Sozialdienst leisten zu lassen, um den Kit in unserer Gesellschaft zu stärken.
Ich glaube aber, dass so ein Dienst noch viel mehr bewirken kann. Er kann ein entscheidender Baustein in der Persönlichkeitsentwicklung aller Bürger sein. Ob in der Bundeswehr, im Krankenhaus, im Seniorenheim, in der Kita, im Jugendzentrum, oder, oder, oder: Ich finde, dass jeder junge Mensch in unserem Land einen Dienst für die Gesellschaft leisten sollte. Verpflichtend. Gut organisiert. Beginnend mit einem Bildungsseminar, in dem sie die Grundlagen der deutschen Demokratie erlernen – Gewaltenteilung, Rechtsstaat, politische Beteiligungsmöglichkeiten, Medienkompetenz und so weiter. Und dann praktische Arbeit: Kranke pflegen, Alte versorgen, Erzieher unterstützen, Obdachlose betreuen, Stadtteile begrünen und vieles mehr. Sie müssen dazu ja nicht zwingend eine Uniform tragen wie in Frankreich. Aber vielleicht wäre es gar nicht verkehrt. Sie könnte nicht Stigma sein, sondern Stolz auslösen: Seht her, ich gehöre zu denen, die gerade Dienst für unser Land tun!
Falls Sie nun einwenden, aber dann kommen die jungen Leute doch später an die Uni, in die Ausbildung, in den Job, dann erlaube ich mir zu entgegnen: Genau. Und das ist gut so. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von rund 80 Jahren bleibt genügend Zeit. Ich denke: Man kann von einem Sozialdienst mehr profitieren als von einem hastigen Einstieg ins Arbeitsleben. So erging es zumindest mir. Damals, in einem Dresdner Krankenhaus.
WAS STEHT AN?
Sie hießen Jan Willem, Marta, Svenja, Christian, Vanessa, Eike, Marina, Fenja, Clara, Giulia, Clancie, Marie Anjelina, Fabian, Cian, Kathinka, Lidia, Anna, Kevin, Benedict, Dennis und Elmar. Sie kamen aus Deutschland, Australien, China, Italien, den Niederlanden und Spanien. 21 junge Menschen starben heute vor zehn Jahren, als sie bei der Loveparade in Duisburg das Leben feiern wollten. Mehr als 650 weitere Menschen wurden verletzt, viele weitere haben seelische Wunden davongetragen. Der jahrelange Strafprozess ist ohne Urteil eingestellt worden, eine Schmach für die Justiz und eine Ohrfeige für Angehörige und Freunde der Opfer. Viele können es nicht verstehen, dass der Veranstalter Rainer Schaller, der Oberbürgermeister Adolf Sauerland, der Sicherheitsdezernent Wolfgang Rabe und die Polizeiführer nie auf der Anklagebank saßen. Mein Kollege Steven Sowa wirft einen eindringlichen Blick auf die Katastrophe und zeigt, dass diese keinesfalls in einer "Massenpanik" wurzelte, wie immer wieder kolportiert wird. Im Gegenteil: Es gab konkrete Gründe für den Tod der jungen Leute.
Die EU-Kommission stellt heute ihre Strategie für eine Sicherheitsunion vor. Es geht unter anderem um den Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität. Außerdem legt die Kommission einen Plan zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern vor. Die Zahl der Fälle hat in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen.
WAS LESEN?
Der EU-Gipfel endete mit einem umstrittenen Ergebnis. Trotzdem sei das weit verbreitete EU-Bashing völlig fehl am Platz, meint unsere Kolumnistin Lamya Kaddor. Denn die Probleme wurzelten gar nicht in Brüssel.
Schon vor sieben Jahren gab es in der Tönnies-Fleischfabrik ein Drama: Ein Mitarbeiter erstach beinahe seinen Vorgesetzten, der ihn zuvor lange gepeinigt hatte. Wie konnte es dazu kommen und hat sich die Lage im Betrieb seither verbessert? Meine Kollegen Lars Wienand und Noah Platschko sind den Fragen nachgegangen.
WAS AMÜSIERT MICH?
Na, hoffentlich kommt es nicht so weit!
Ich wünsche Ihnen einen Tag voller Frohsinn (und Rücksicht) und dann ein schönes Wochenende. Am Montag schreibt mein Kollege Florian Wichert den Tagesanbruch, von mir lesen Sie am Dienstag wieder. Herzliche Grüße,
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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