Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Es ist höchste Zeit, eine Grenze zu ziehen
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Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Virologen seien die Weisen unserer Zeit, hört man nun öfter. Wie die Auguren im alten Rom, die Gelehrten im Mittelalter oder gar Gandalf der Graurock im "Herrn der Ringe" würden sie uns den Weg durch die Krise weisen. Virologen seien die Scharlatane unserer Zeit, hört man nun öfter. Sie würden sich aufplustern wie eitle Gockel, heute dies und morgen das sagen und durch ihre Panikmache Millionen Existenzen zerstören. Das eine wie das andere ist ein Zerrbild, klar. Aber es scheint viele Leute zu geben, denen das auf die eine oder andere Art nichts ausmacht. Die einen lauschen andächtig jedem neuen Podcast von Herrn Drosten, hängen jeden zweiten Abend an den Lippen des Talkshow-Königs Karl Lauterbach und retweeten im Viertelstundentakt jedes neue Detail einer epidemiologischen Studie. Die anderen kritzeln Verwünschungen und Flüche gegen die Genannten in die Schmuddelecken auf Facebook und Twitter oder auf ihre Autoheckklappe. Christian Drosten ist drauf und dran, für manche dieser Leute zu einer ähnlichen Hassfigur zu werden wie Greta Thunberg.
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Das ist übel. Schlimmer noch: Es ist gefährlich. Man muss kein Drosten-Jünger sein, um anzuerkennen, dass dieser Mann nicht nur ein herausragender Forscher ist, sondern auch die Gabe besitzt, komplizierte wissenschaftliche Zusammenhänge anschaulich zu erklären. Vieles, was wir Corona-Laien über das Virus wissen (oder zu wissen glauben), hat seinen Ursprung in den Sendungen des Berliner Charité-Experten. Mit den vier Worten "aber der Drosten sagt" macht man im Büro, am Küchentisch oder neuerdings auch wieder im Restaurant den entscheidenden Stich in jeder Diskussion. Man glaubt ihm ja so gern. Denn frei von jeder Eitelkeit besitzt der Mann die rare Gabe der Selbstkritik. In kaum einem seiner Podcasts vergisst er, auf Aspekte hinzuweisen, die er nicht beurteilen könne: Dafür fehle ihm die Kompetenz, dafür gebe es andere Fachleute. Anders als der ebenfalls omnipräsente Alexander Kekulé macht Herr Drosten auch nicht den Fehler, den Politikern vorzuschreiben, was sie zu tun hätten. Er ist Wissenschaftler und redet als Wissenschaftler, Punktum. So hat er sich binnen drei Monaten eine enorme Autorität erarbeitet, weit über seine Fangemeinde hinaus.
Leider schützt ihn diese Aura nicht vor Angriffen. Es begann mit Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Armin Laschet, der Virologen zur besten Sendezeit im Fernsehen vorwarf, sie würden alle paar Tage ihre Meinung ändern. Da kaum anzunehmen ist, dass ein Mann, der es zum Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes geschafft hat, das Wesen der Wissenschaft nicht verstanden hat, lässt sich seine Bemerkung nur mit einem Anflug von Populismus erklären. Selbstverständlich müssen Wissenschaftler ihre Meinung ändern. Das ist das Wesen ihrer Arbeit. Anders als Politiker müssen sie ihren Kenntnisstand ständig hinterfragen, weitere Erkenntnisse bewerten und neue Schlüsse daraus ziehen. Was gestern richtig gewesen ist, kann heute falsch sein und umgekehrt. So entsteht wissenschaftlicher Fortschritt. Wer das nicht wahrhaben will, guckt vielleicht lieber ein paar Verschwörungsfilmchen auf YouTube. Kann jeder machen, solange er andere nicht damit behelligt. Gefährlich wird es aber, wenn öffentliche Amtsträger beginnen, dem Unsinn den Boden zu bereiten. Dann werden Menschen zu Unrecht an den Pranger gestellt, ihre wertvolle Arbeit diskreditiert und am Ende womöglich sogar neue Erkenntnisse über die Epidemie verhindert. Denn Wissenschaftler dürften es sich inzwischen zweimal überlegen, ob sie sich in die öffentliche Debatte einmischen, wenn sie dort Anwürfen wie Herr Drosten oder Herr Lauterbach ausgesetzt sind.
Denn es kommt ja noch ärger. Die Art und Weise, wie Springers Boulevardblatt "Bild" seit Tagen versucht, Herrn Drostens Forschungsergebnisse und Reputation in Zweifel zu ziehen, erinnert eher an einen Feldzug als an Recherche. Wenn Fakten einer Meinung folgen anstatt umgekehrt, sollte man hellhörig werden. Meine Kollegen Nicole Sagener, Jonas Mueller-Töwe und Patrick Diekmann haben den Fall hier beschrieben.
Die übelsten Attacken auf die Virologen aber haben ihren Ursprung in hasserfüllten Hirnen. Das sind jene Leute, die Wissenschaftler im Internet beschimpfen – und einige gehen noch weiter: Nach Informationen von t-online.de hat Karl Lauterbach zwei Morddrohungen erhalten. Auch ein Drohpaket bekam er zugeschickt – ebenso wie Christian Drosten. Das Virus des virtuellen Hasses springt ins reale Leben über. Wer darin eine Parallele zur eskalierenden Gehässigkeit gegen Zugewanderte in der Flüchtlingskrise sieht, liegt womöglich nicht verkehrt.
Es ist höchste Zeit, hier und jetzt eine Grenze zu ziehen. Seriöse Medien bemühen sich um eine differenzierte Berichterstattung, statt Menschen mit Kampagnen zu überziehen. Verantwortungsbewusste Politiker unterlassen populistische Attacken auf Wissenschaftler. Und umsichtige Strafverfolgungsbehörden tun schnell ihre Pflicht, die Urheber brutaler Drohungen zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen.
WAS STEHT AN?
Die Politik ist ein hartes Geschäft; wer sich ihr aussetzt, braucht starke Nerven, ein dickes Fell und eine robuste Gesundheit. Jeder Politiker hat seinen individuellen Stil, doch bei aller Vorsicht vor Pauschalisierung lassen sich wiederkehrende Typen ausmachen. Es gibt den Typus Sachpolitiker. Er kann sich in Akten vergraben und zu jeder Detailfrage etwas ebenso Fundiertes wie Umständliches sagen, begeisternd oder mitreißend wirkt er selten. Finanzminister Olaf Scholz darf man zu dieser Kategorie zählen, Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso. Dann gibt es den Typus Rampenlichtpolitiker. Er steht immer ganz vorn auf der Bühne und wirft sich mit messerscharfen rhetorischen Waffen in jedes Talkshow-Gefecht, aber gelegentlich fragt man sich, ob das, was er zum Besten gibt, wirklich Hand und Fuß hat. FDP-Chef Christian Lindner darf man bei allem Respekt in diese Schublade stecken, Wirtschaftsminister Peter Altmaier dito. Und dann gibt es den Typus Leidenschaftspolitiker. Er brennt so sehr für eine Sache, dass er Begeisterungsstürme entfachen kann, übersieht es in seinem Sturm und Drang aber schnell, wenn die Gegner sich über den wandelnden Vulkan lustig machen und die eigenen Leute sich in die Büsche schlagen.
Martin Schulz wird es uns sicher nachsehen, wenn wir ihn dieser Kategorie zuordnen. Er hat nicht nur einen herzhaften Humor und die Fähigkeit, fünfe gerade sein zu lassen, sondern ist auch ein besonders leidenschaftlicher Leidenschaftspolitiker. Sein Lebensthema ist Europa, was bei seiner Herkunft aus dem Dreiländereck Deutschland/Belgien/Niederlande nicht verwunderlich ist. Als SPD-Politiker reüssierte er im Europaparlament in Brüssel, trieb als dessen Präsident gemeinsam mit seinem Freund Jean-Claude Juncker die Staats- und Regierungschefs vor sich her, unterschätzte dann das politische Haifischbecken Berlin und überschätzte seine Fähigkeiten als Parteichef. Schließlich ging er im letzten Bundestagswahlkampf mit Maus und Mann unter: Gerade mal 20,5 Prozent holte er, das schlechteste SPD-Ergebnis der Nachkriegsgeschichte. Schulz hatte nichts dagegen, dass ein "Spiegel"-Journalist sein Debakel minutiös protokollierte, steckte aber auch die folgende Häme weg und versöhnte sich sogar mit seinem Intimfeind Olaf Scholz. Ja, heute kann er sich sogar vorstellen, dem Olaf im nächsten Wahlkampf zu helfen, was der nüchterne Olaf wohl wirklich gut brauchen könnte.
Erst einmal aber sitzt Martin Schulz in einem kleinen Abgeordnetenbüro neben dem Bundestag in Berlin und schenkt Kaffee aus. Weil die t-online.de-Redakteure im Jackett gekommen sind, hat er sich auch noch rasch eines übergeworfen, worauf hinzuweisen er nicht vergisst. Dann legt er los und reist mit seinen Gästen in einer Tour d’Horizon zu den Spannungsfeldern der europäischen Politik: Er erklärt, warum der 500-Milliarden-Hilfsfonds ein enormer Schritt nach vorn ist, aber die Bundeskanzlerin und der französische Präsident eigentlich nur die Lorbeeren zweier anderer Politiker ernten. Er erläutert seine Ansicht, warum Frau Merkel immer viel zu spät handelt und warum es den vier Abweichlern Österreich, Schweden, Dänemark und den Niederlanden nicht gelingen wird, den Milliardenfonds zu verhindern. Und er berichtet, wie dreist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die anderen Staats- und Regierungschefs beim Flüchtlingsstreit ausmanövriert. Er kommentiert, argumentiert und gestikuliert. Und er freut sich, wenn ihm wieder eine gute Pointe gelungen ist. Man hört ihm gern zu, diesem Martin Schulz, wenn er erzählt, was in Brüsseler Verhandlungsrunden vor sich geht, wenn die Türen sich geschlossen haben. Dann merkt man ihm seine Ausbildung zum Buchhändler und seine Liebe zu packenden Geschichten an. Deshalb ist es ein ausführliches, aber, wie wir finden, lebendiges Gespräch geworden, das unser Reporter Johannes Bebermeier und ich geführt haben: mit Martin Schulz, dem vielleicht leidenschaftlichsten Europäer in Berlin.
Nicht nur Leidenschafts-, sondern auch Sach- und Rampenlichtpolitiker schauen heute nach Brüssel: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen stellt im Europaparlament die Details ihres Corona-Wiederaufbauprogramms vor, das den siebenjährigen Haushaltsrahmen der EU prägen soll.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und BKA-Präsident Holger Münch wiederum präsentieren in Berlin die neue Polizeiliche Kriminalstatistik mit den Fallzahlen politisch motivierter Kriminalität.
Die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer beraten mit Kanzlerin Merkel, wie sie die Folgen der Corona-Krise dämpfen, Forschungseinrichtungen stärken und Lehren aus den 30 Jahren deutscher Einheit ziehen können.
Vor dem Kanzleramt protestiert unterdessen das Aktivistenbündnis Campact gegen das Neun-Milliarden-Paket für die Lufthansa – weil die Bundesregierung dem Konzern Rettungsgeld spendiert, ohne ihm Bedingungen für mehr Klimaschutz oder fairere Steuerzahlung zu setzen. Mein Kollege Mauritius Kloft erklärt Ihnen das umstrittene Verfahren. Saskia Leidinger und Florian Schmidt liefern sich ein Pro und Kontra zur Frage, ob der Staat bei der Fluglinie nicht wenigstens ein kleines Wörtchen mitreden sollte.
Vor der Untersuchungskammer des Berufungsgerichts in Paris wird der 84-jährige Félicien Kabuga angehört. Er wurde am Samstag festgenommen und soll vor 26 Jahren mit seiner Miliz für einen Großteil der Morde an mindestens 800.000 Tutsi und gemäßigten Hutu in Ruanda verantwortlich gewesen sein.
WAS LESEN, HÖREN UND ANSCHAUEN?
Viele anregende E-Mails von Leserinnen und Lesern des Tagesanbruchs erreichen uns in diesen Tagen. Manche sind so bedenkenswert, dass man am liebsten daraus zitieren würde. Also habe ich Mareile Henke um Erlaubnis gefragt. Ich darf:
"Ein herzliches Hallo an das von mir hochgeschätzte Team von t-online.de und vielen Dank für die täglichen Beiträge. Stets informativ und sprachlich gut formuliert. Einfach lesenswert", schreibt Frau Henke (und wir sagen Danke), dann fügt sie hinzu: "Nach meinem gestrigen Friseurbesuch standen mir die Haare zu Berge. Nicht aufgrund fachlicher Inkompetenz meiner Friseurin, sondern ob der Gespräche, die ich mit anhören musste. Und ich fragte mich, was manche Menschen in den vergangenen drei Monaten mitbekommen haben von dem, was Virologen, Epidemiologen, Mediziner und Gesundheitsexperten uns mitteilten. Sehr wenig, wie mir scheint. Der Grund? Man will einfache Antworten auf (scheinbar) einfache Fragen. Dass dies unmöglich ist, will so mancher nicht wahrhaben. Vielleicht aber sollte man das Unmögliche doch wagen. Es wenigstens versuchen. Ich hab’s versucht:
- Das Virus Covid-19 ist neu, es ist unsichtbar. Es richtet in jeder Altersgruppe sichtbare wie unsichtbare körperliche Schäden an. Und es kann tödlich sein.
- Ziel ist es, den Wirkungskreis von Covid-19 kleinzuhalten und seine Wirkung einzudämmen.
- Um dieses Ziel zu erreichen, sind Beschränkungen des täglichen Lebens sowie zeitnahes Erfassen und unverzügliche Behandlung unabdingbar.
- Der Rückgang von Infektionszahlen ist Resultat konsequenten Vorgehens und beruht nicht auf dem Verschwinden von Covid-19.
- Jede Lockerung der Beschränkungen, ob offiziell oder inoffiziell, birgt die Gefahr vermehrter Infektionen in sich. Nicht wir haben das Virus in der Hand, sondern das Virus hat uns in der Hand.
- Solange es gegen Covid-19 keinen Impfstoff und kein Medikament gibt, sind wir dem Virus ausgeliefert. Mit Abstand, Maske und persönlicher Hygiene können wir uns schützen. Sicher aber sind wir auch damit nicht. Nur eben sicherer.
- Wer sich und die Seinen, wer das Leben liebt, nimmt die Hinweise der Fachleute ernst und richtet sich nach ihnen. Alles andere ist gefährlich. Für die Gesundheit und für das Leben.
Ob diese sieben Sätze hilfreich wären? Ich denke doch. Schade, dass es ein solches Plakat nicht gibt. Nun ja, mir fiel’s eben ein, als ich so beim Friseur saß ..."
Immer weiter lockern die Bundesländer die Kontaktsperre – doch nach wie vor gilt eine Obergrenze von Neuinfektionen. Die Zeitraffer-Animationen meiner Kollegen Arno Wölk, Martin Trotz und Cem Özer zeigen Ihnen, wo die Obergrenze gesprengt wird – und in welchen eigentlich "Corona-freien" Landkreisen sich das Virus plötzlich wieder verbreitet.
Die zeitweise leeren Supermarkt-Regale haben bei vielen Bürgern ein neues Bewusstsein dafür geschaffen, wo und wie Lebensmittel produziert werden – meinen zumindest die Agrarwissenschaftler Annette Piorr und Frank Ewert. Alles nur regional anzubauen und zu verkaufen, sei aber auch nicht die Lösung, sagen sie in unserem Podcast "Tonspur Wissen". Welche Vorteile ein globalisierter Lebensmittelmarkt hat und warum wir trotzdem Bauern wertschätzen sollten, hören Sie hier.
WAS AMÜSIERT MICH?
Gewinnen kann jeder. Aber ein guter Verlierer zu sein, das ist echt schwer.
Ich wünsche Ihnen einen souveränen Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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