Was heute wichtig ist Was die AfD so stark macht
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Knapp zwei Wochen bleiben noch bis zu den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, und so wie es aussieht, wird die AfD große Triumphe feiern. Schon bevor das Wahlergebnis überhaupt feststeht, bemühen sich Politiker und Publizisten darum, die Entwicklung einzuordnen. Matthias Platzeck, früher Ministerpräsident Brandenburgs, heute Chef der Kommission 30 Jahre Deutsche Einheit, sieht bei Teilen der Ostdeutschen eine "ungute Grundstimmung". Dazu habe eine Reihe von Krisenerfahrungen beigetragen: "Zusammenbruch nach 1990, Finanzkrise 2008 und Flüchtlingskrise 2015, alles in einer Generation", sagt er. "Bei nicht wenigen Menschen hat sich das Gefühl ausgebildet, der Staat, von dem sie das eigentlich erwarten, habe nicht mehr alles im Griff und schütze sie nicht mehr hinreichend."
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Seit Jahren ist in vielen Medien zudem vom "abgehängten Osten" die Rede, da wird das Bild eines Jammertals gezeichnet. Mein Kollege David Ruch hat sich von Bürgern in Görlitz erzählen lassen, warum das ein Zerrbild ist: "Der Blick auf die ostdeutschen Problemlagen sollte nicht die vielschichtigen Herausforderungen in einer heterogenen Region und die positiven Entwicklungen außer Acht lassen", schreibt er.
Pauschalisierung ist Unsinn, keine Frage. Aber beim Namen sollte man die Probleme schon nennen. Warum ist die gesellschaftliche Stimmung in Teilen Ostdeutschlands so aufgeheizt, warum sind so viele Menschen enttäuscht von den etablierten Parteien, warum unterstützen so viele die AfD? Das habe ich Petra Köpping gefragt, sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration. Die SPD-Politikerin kandidiert für den Parteivorsitz und hat eine Streitschrift verfasst: "Integriert doch erst mal uns!" In unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, aber auch in Lebensbrüchen und Entwurzelungen sieht sie eine wesentliche Ursache für die Verbitterung vieler Menschen im Osten. Sie schreibt über rücksichtslose Treuhand-Entscheidungen, die Geringschätzung von Berufsabschlüssen und den Verlust von Betriebsrenten, aber auch über die Abwanderung einer ganzen Generation in den Westen – sowie den verächtlichen Generalverdacht, dass die Leute im Osten politisch rückständig seien. Hatten ja in einer Diktatur gelebt.
Mir leuchten diese Erklärungen ein, zumal sie mir auch in Gesprächen mit Bürgern in Sachsen, wo ich Anfang der Neunzigerjahre gelebt habe, gespiegelt werden. Alle diese Gründe sind irgendwie verständlich – aber führen sie wirklich dazu, dass so viele Menschen heute einer Partei zuneigen, in der Rechtsextremisten immer unverfrorener den Ton angeben? Petra Köpping hat meine Frage beantwortet, indem sie an die Demonstrationen, Ausschreitungen und öffentlichen Debatten nach einem Mord in Chemnitz erinnerte:
"Die Ereignisse in Chemnitz sind jetzt ein Jahr her. Die Menschen ärgern sich darüber, dass die Sachsen in der Öffentlichkeit immerzu als rechts dargestellt werden. In vielen Medien wird nicht differenziert berichtet, sondern pauschalisiert. Das ärgert die Leute. Und es hat zur Folge, dass es unter vielen Menschen eine zunehmende Solidarisierung gibt, dass sie sagen: Okay, wenn ich als rechts oder als Nazi bezeichnet werde, dann bin ich eben so! Das höre ich immer wieder auf der Straße im Wahlkampf – auch von Menschen, die sich früher gar nicht politisch eingebracht haben. Viele Medien berichten zu selten über die positive Arbeit in Sachsen, dabei gibt es die. Die Mehrheit der Menschen setzt sich für demokratische Prozesse ein, manchmal unter schwierigeren Bedingungen als in anderen Bundesländern."
Ist die Unterstützung für die AfD also nur ein Protestventil? Drei Themen gebe es, die den Wahlkampf in Sachsen bestimmten, sagt Petra Köpping – erstens die Migrationspolitik, zweitens Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland, drittens die Sicherheitslage:
"Zwar ist die Kriminalitätsrate insgesamt gesunken, aber das ist ja nur die halbe Wahrheit, denn an öffentlichen Brennpunkten hat sie zugenommen. Diese differenzierte Betrachtung vermissen viele Menschen. Selbst wenn in Ostdeutschland weniger Migranten leben und es deshalb auch weniger Kriminalität von ihnen gibt: Entwicklungen wie die Gewalt- oder die Clankriminalität anderswo in der Republik werden natürlich auch in Sachsen sehr genau beobachtet."
Nun muss man der Bundesregierung zugutehalten, dass sie diese Herausforderungen inzwischen ernster nimmt und entschlossener handelt als früher. Bundesinnenminister Seehofer treibt schärfere Gesetze voran, die Sicherheitsbehörden werden verstärkt und beginnen härter durchzugreifen. "Die Fallzahlen der Kriminalität insgesamt gehen zurück. In einigen Bereichen, wie dem Wohnungseinbruch, der traditionell große Angst auslöst, haben wir sogar einen deutlichen Rückgang", sagte BKA-Chef Holger Münch vergangene Woche im t-online.de-Interview – räumte aber ein: "Bei der Gewaltkriminalität verhält es sich ein bisschen anders: Hier haben wir eine Stagnation der Fallzahlen und sehen, dass eine kleine Gruppe von Zugewanderten aus bestimmten Herkunftsländern signifikant auffälliger ist. Wir müssen diese Entwicklung nicht nur zur Kenntnis, sondern sehr ernst nehmen und daraus Konsequenzen ziehen."
Bekommt die Polizei dieses Problem in den Griff, bemühen sich mehr Medien um eine differenzierte Berichterstattung und berücksichtigt die Bundespolitik öfter die spezifischen Herausforderungen in den neuen Bundesländern, dann könnte sich die Stimmung dort vielleicht ein bisschen verbessern. Knapp zwei Wochen werden dafür aber nicht reichen.
WAS STEHT AN?
Man freut sich ja immer über Besuch. Morgen kommt der frisch gebackene britische Premierminister Boris Johnson zu Angela Merkel nach Berlin, am nächsten Tag reist er weiter zu Emmanuel Macron nach Paris. Der Herr mit der sorgsam auf wirr getrimmten Frisur möchte mit seinen "Freunden und Partnern" von Angesicht zu Angesicht über den Brexit sprechen. "Freunde und Partner", das sagt er jetzt plötzlich ganz oft. Das klingt so harmlos, deshalb möchte ich es kurz übersetzen: "Seht her, ich bin nett und kooperativ. An mir liegt es also nicht."
Sofern Herr Johnson der Linie folgt, die er öffentlich ausgegeben hat, geht die Substanz der Treffen über die persönliche Begegnung indes nicht hinaus. Im direkten Gespräch möchte er vor allem wiederholen, was er zuvor schon per Telefon zum Besten gegeben hat: Der Backstop muss weg! Denn das ist die größte Kröte: die Versicherung, dass es zwischen der Irischen Republik und Nordirland keine harte Grenze mit Zollkontrollen geben wird – zur Not auch auf Kosten der britischen Handlungsfreiheit. Nichts hat die Brexit-Hardliner dermaßen in Rage gebracht wie diese Zusicherung. Boris Johnson reitet auf den Flügeln dieses Zorns. Seine Botschaft will er nun also auch noch einmal höchstpersönlich überbringen. Er sei "zuversichtlich", dass die EU sich bewegen werde, sagt er – ungerührt davon, dass er seine Zuversicht aus der Luft gegriffen hat. Ob es in den bevorstehenden Verhandlungen Fortschritte geben werde, wurde er von Journalisten gefragt. "Nun, ich fürchte, das liegt sehr in der Hand unserer Freunde", parierte er. Noch einmal zur Erinnerung: Mit Freunden meint er uns.
Das Schreckgespenst, das der Premier als Alternative an die Wand malt, nimmt immer konkretere Formen an. Großbritannien sei gewappnet für den "harten Brexit", den Ausstieg ohne Abkommen, wenn denn bis zum 31. Oktober keine Einigung zustande komme, tönt es aus dem Umfeld des Regierungschefs. Das Geschichtenerzählen beherrscht man dort ziemlich gut. Ein internes Dossier, das am Wochenende an die Presse gelangte, skizzierte dagegen ein Horrorszenario: Ohne Deal müsse mit monatelangem Chaos an den Häfen, Lebensmittelknappheit, Medikamentenmangel und endlosen Staus an den Tankstellen gerechnet werden. Gewiss, das ist ein Lagebild zur Vorbereitung auf den schlimmstmöglichen Fall, nicht der erwartete Verlauf. Aber es lässt erahnen, wie tief der Abgrund ist, falls man stolpert.
Gibt es Hoffnung? Schauen wir uns um. Die größte Oppositionspartei in Großbritannien kann sich nicht entscheiden, was sie will: In der EU bleiben – oder lieber mit einem leidlich guten Deal hinaus? Parteichef Jeremy Corbyn antwortet mit vielsagendem Schweigen. Er selbst gilt als Kritiker der EU, während viele seiner Parteifeinde, Pardon: -freunde, sie auf keinen Fall verlassen wollen. Nur in einem ist man sich bei Labour einig: Ein Ausstieg ohne Abkommen muss um jeden Preis verhindert werden. Herr Corbyn hat sich deshalb vergangene Woche großherzig als Übergangspremier angeboten. Die Reaktion im Parlament: nee, nee, nee. Die EU-Freunde in Großbritannien sind derzeit sehr mit sich selbst beschäftigt.
Der weiße Ritter, der die Rettung bringt, muss also aus einer anderen Richtung kommen. Und tatsächlich, galoppiert nicht dort jemand in der Ferne, leuchtend gegen den Sonnenuntergang, eine Gestalt mit wirrem blondem Haar? Boris Johnson ist ein prinzipienloser Windbeutel und genau deshalb unsere größte Hoffnung auf einen irgendwie noch halbwegs glimpflichen Ausgang der Brexit-Farce. Sein großes Ziel, den Einzug in Downing Street Number 10, hat er nach jahrelangen Machtkämpfchen endlich erreicht. Sollte der Ausstieg aus der EU aber nun unter seiner Regierung zur Katastrophe ausarten, kann der Möbelwagen den Motor gleich laufen lassen. Noch nie fand Herr Johnson, dass seine Aussagen von gestern dem opportunen Kurswechsel von morgen im Weg stehen sollten. Der weiße Reiter säße sehr gern noch ein Weilchen im Sattel – und würde dafür wohl auch die dickste Kröte schlucken. Er ist ein Meister im Bluffen, wie mein Kollege Stefan Rook analysiert. Unser "Freund und Partner" eben. Freuen wir uns also auf seinen Besuch.
Thomas Middelhoff war ganz oben: Top-Job, riesen Villa, Privatjet. Er drehte für Bertelsmann und Arcandor das ganz große Rad, bis er sich von seiner eigenen Großartigkeit, Eitelkeit und Geltungssucht mitreißen ließ und selbst unter die Räder geriet. In diesem Fall die Räder der Justiz. Das Landgericht Essen verurteilte ihn 2014 wegen Untreue und Steuerhinterziehung zu drei Jahren Haft. Nun hat Herr Middelhoff ein Buch geschrieben, das den reumütigen Titel "Schuldig. Vom Scheitern und Wiederauferstehen" trägt, aber wohl vor allem dem Zweck dienen soll, seinen Autor nach all den negativen Schlagzeilen wieder ins rechte Licht zu rücken. Heute stellt er das Werk mit großem Tamtam im Haus der Bundespressekonferenz vor, wo sonst die Kanzlerin, Bundesminister und Abgeordnete Auskunft geben. Mir fällt dazu nur ein Spruch von Fjodor Dostojewski ein, der sogar noch ein kleines bisschen großartiger war als der großartige Thomas Middelhoff: "Die Einbildung des Größenwahnsinnigen wird immer stärker sein als jede Wahrheit, die er erfahren könnte."
DIE GUTE NACHRICHT
Aus Frankreich schwappt eine blitzsaubere Massenbewegung zu uns herüber: Bei der #fillthebottle-Challenge hat jedermann die Aufgabe, mit einer leeren Flasche loszuziehen und Zigarettenkippen von der Straße einzusammeln. So sieht das zum Beispiel in Wuppertal aus.
WAS LESEN?
Die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg sind auch deshalb so brisant, weil sie das politische Gefüge der Republik beeinflussen können. In beiden Bundesländern stilisieren sich ausgerechnet Björn Höcke und andere AfD-Politiker als Erben der friedlichen Revolution vor 30 Jahren. Das ist absurd, schreibt unser Kolumnist Gerhard Spörl – trifft aber einen Nerv.
WAS AMÜSIERT MICH?
Aus der CDU hört man in diesen Tagen ja allerhand Gerüchte.
Ich wünsche Ihnen einen optimistischen Tag. Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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