Strukturschwache Regionen im Osten Nicht abgehängt, sondern nicht verstanden
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Auch 30 Jahre nach der Wende kämpfen viele Regionen in Ostdeutschland mit Strukturproblemen. Aber abgehängt, das sind sie nicht, sagen zwei Politiker aus dem Osten. Das Problem liege woanders.
Die Wahl in Sachsen bewegt Deutschland – doch in der Arbeitsagentur in Görlitz bewegt sich seit vergangener Woche fast nichts. Zwei Wochen lang kommen in der Geschäftsstelle nur Terminkunden dran. Grund: ein temporärer Personalengpass. Wer kurzfristig Hilfe braucht, der wird ins 30 Kilometer entfernte Löbau gebeten. Oder ins 50 Kilometer entfernte Bautzen.
Görlitz, das ist der östlichste Landkreis Deutschlands mit der gleichnamigen Kreisstadt. Hinter der Neiße-Grenze beginnt das, was für viele immer noch der Ostblock ist. Jenseits des Flusses liegt Polen, im Süden grenzt der Kreis an Tschechien. Nach der Wende 1989 zogen viele Menschen von hier fort. Rund 37.000 Einwohner hat der Landkreis (Einwohnerzahl: rund 255.000) seit 1991 durch Abwanderung verloren – ein Minus von knapp 13 Prozent. In Sachsen weist er heute die höchste Arbeitslosigkeit (7,5 Prozent) aller Landkreise aus.
Macht das Görlitz zu einem Problemfall? Strukturschwach, schrumpfend, abgehängt? Letzteres ist ein Label, das man nach der Wende Regionen wie Görlitz oft aufgedrückt hat. Dann war wieder vom "abgehängten Osten" die Rede, von einer einheitlich ostdeutschen Stimmungs- und Gemengelage aus hoher Arbeitslosigkeit, infrastruktureller Rückständigkeit und weit verbreiteter Desillusionierung. Der ganze Osten: ein Jammertal. Wer sich hier etwas aufzubauen versuchte, der galt aus westdeutscher Perspektive vielen als mindestens mutig, wenn nicht verrückt.
"Unverständnis für die Probleme auf dem Land"
Was heißt denn hier abgehängt, fragen sich viele Menschen im Osten. Als abgehängt sieht man sich nicht, dafür allzu oft als unverstanden. Stefan Zierke, SPD-Bundestagsabgeordneter für die Uckermark und den Barnim in Brandenburg, hält den Begriff allenfalls tauglich für knallige Zeitungsüberschriften. In seiner Heimatregion empfinde er das aber nicht so. "Sicherlich fühle ich mich in unserem ländlichen Raum in einigen Bereichen nicht unbedingt bevorteilt. Aber es geht weniger ums Abgehängtsein, als vielmehr um das Unverständnis für die Probleme auf dem Land."
Bernd Lange aus Görlitz sieht das ähnlich. Er ist seit 2001 für die CDU Landrat in Ost-Sachsen, zunächst im Niederschlesischen Oberlausitzkreis, seit 2008 im fusionierten Landkreis Görlitz. "Es gab eine Reihe politischer Äußerungen, die mir nicht gefallen haben, weil sie den Osten als zurückgeblieben dargestellt haben", sagt Lange. In Görlitz sei man aber sehr wohl eingebunden in die Solidargemeinschaft von Bund und Ländern. Lange nennt als Beispiele die enge Zusammenarbeit beim Naturschutz oder die Rettung der maroden Innenstädte nach der Wende.
Die Leistungsträger gingen als erste
Unbestritten wirken die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erschütterungen des politischen Umbruchs bis heute nach. Statistiken lassen das auch im Jahr 30 nach der Wende erkennen. Es gibt anhaltende negative Trends und weiterhin bestehende strukturelle Defizite. Doch der Blick auf die ostdeutschen Problemlagen sollte nicht die vielschichtigen Herausforderungen in einer heterogenen Region und die positiven Entwicklungen außer Acht lassen.
Eine der folgenreichsten Entwicklungen für die östlichen Bundesländer war der Aderlass an Menschen nach dem Fall der Mauer. Seit 1990 verließen weit über eine Million ehemalige DDR-Bürger die östlichen Bundesländer in Richtung Westen. Viele von ihnen jung, viele gut ausgebildet. In Görlitz ging das mit dem Niedergang der örtlichen Industrie einher, erläutert Landrat Lange: der Textilindustrie im Norden der Region, der Glasindustrie im Süden. "Die Betriebe wurden auf zehn Prozent ihrer vorherigen Kapazität heruntergefahren. Viele Leute sind damals weggegangen, und die Leistungsträger waren die Ersten. Die fehlen uns bis heute."
120 Arbeitsstunden mehr als der Kollege im Westen
Das ist auch ein Grund, warum der Osten bei Löhnen bis heute dem Westen hinterherhinkt. Die ostdeutschen Flächenländer belegen im Ranking der Bruttolöhne in Deutschland noch immer die letzten Plätze. Die Arbeitnehmer im Osten müssen dafür auch länger arbeiten. Ein Beschäftigter in Thüringen leistet im Jahr rund 120 Arbeitsstunden mehr als sein Kollege in Rheinland-Pfalz. Er arbeitet also etwa drei Wochen mehr.
Das hängt unter anderem mit der schwächeren Tarifbindung im Osten zusammen, aber auch mit dem großen Niedriglohnsektor: In den östlichen Bundesländern verdient mehr als ein Viertel der Beschäftigten weniger als 2.000 Euro brutto im Monat. Im Westen sind es gut 13 Prozent. Auch die Wirtschaftsstruktur unterscheidet sich stark vom Westen. In Ostdeutschland sind vor allem kleinere und mittlere Betriebe ansässig, während die Zentralen großer Konzerne, auch der im Osten aktiven, fast ausschließlich im Westen zu finden sind. Auch das drückt das Gehaltsniveau im Osten und man findet weniger Spitzenverdiener.
Ein Problem, das im ganzen Land zu spüren ist
Dennoch hat sich auf dem Arbeitsmarkt im Osten vieles zum Positiven gewendet. Die hohe Arbeitslosigkeit der Nachwendezeit gehört der Vergangenheit an. Waren 1999 noch 17 Prozent der Erwerbspersonen im Osten ohne Beschäftigung – im Westen gut acht Prozent –, betrug die Quote im Juli noch 6,3 Prozent, im Westen 4,7. Thüringen und Sachsen mit 5,2 bzw. 5,3 Prozent liegen nur noch knapp über dem Durchschnitt von aktuell 5 Prozent. Landkreise wie die Uckermark oder Görlitz suchen heute händeringend nach Fachkräften – ein bundesweites, kein ostdeutsches Problem.
Und auch der Trend zur Abwanderung ist gestoppt. Es ziehen heute mehr Menschen nach Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern als fort. In Sachsen-Anhalt ist das Wanderungssaldo nahezu ausgeglichen. Dass die Bundesländer trotzdem weiter schrumpfen, liegt daran, dass die Sterbefälle die Geburten noch deutlich übersteigen. Brandenburg kann als einziges Flächenland im Osten wegen der hohen Wanderungsgewinne im Speckgürtel um Berlin auch in der Summe wachsen.
Neues Selbstbewusstsein entsteht
Nach den schwierigen Jahren schöpfen Regionen wie Görlitz heute wieder Hoffnung: wegen des Mutes jener, die geblieben sind. Und wegen der neuen Perspektiven im Osten Europas. Landrat Bernd Lange sagt: "Es ist bewundernswert, wie viel Durchhaltevermögen manche hier gezeigt haben, die hier Firmen aufgebaut haben. Sie müssen ja sehen, dass bei den Menschen nach der Wende viel Selbstvertrauen verloren gegangen ist. Und das ist auch noch nicht überwunden. Aber die, die hier blieben, haben ein großes Risiko getragen. Und daraus ist auch neues Selbstbewusstsein entstanden."
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Stefan Zierke freut sich über neue Einwohner, die aus dem Osten zu ihm in die Uckermark kommen. "Die Nähe zu Polen bringt uns neuen Zuwachs, in den Kitas und den Schulen. Bürger aus Polen kaufen sich Häuschen hier. Sie leben hier, bewirtschaften Gaststätten. Manche von ihnen arbeiten in Deutschland, andere in Polen." Landrat Lange sieht in der grenzübergreifenden Partnerschaft ähnliche Chancen. Er arbeitet in Görlitz mit daran, das Dreiländereck mit den Nachbarn Tschechien und Polen zur Metropolregion zu entwickeln.
Lange sagt, die Landesregierung habe die Herausforderungen lange unterschätzt. "Viele Jahre hat man die Strukturschwäche aus Landessicht ignoriert und sich zu wenig mit den Ursachen beschäftigt. Dadurch sind die Leute vergnatzt."
Als Beispiel nennt der Landrat den Ausbau der Infrastruktur, der für seine Region von zentraler Bedeutung sei. "Nehmen Sie die Bahnstrecke von Görlitz nach Wrocław. Die EU hat sie schon Anfang der 90er-Jahre als Teil des europäischen Verkehrskorridors E3 definiert. Doch bis heute ist sie auf unserer Seite nicht elektrifiziert. Und da spüre ich auch nicht, dass das beim Bund Priorität hat."
"Berlin hat verschmutzte Luft – wir nicht"
Der Abgeordnete Stefan Zierke sieht ein generelles, gar nicht so sehr ostdeutsches Problem. Politik, so sagt er, werde viel zu oft aus der Perspektive der Städte gemacht und nehme die Probleme auf dem Land oft gar nicht wahr. Als Beispiel nennt er den Umweltschutz: "60 Prozent der Uckermark sind Naturschutzgebiet, wir produzieren all unseren Strom aus erneuerbarer Energie. Wir heizen unsere Häuser mit Erdwärme. Wir geben unsere Flächen für Moore her."
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Doch diese Leistungen würden oft übersehen und zu wenig honoriert, sagt Zierke. Stattdessen stoße man in seiner Region immer wieder auf Probleme mit dem Umweltschutz. Ständig würden schärfere Umweltauflagen verlangt. "Nun heißt es, wir sollen auf den Diesel verzichten. Städte wie Berlin oder Stuttgart haben sicherlich ein Problem mit Luftverschmutzung, wir aber nicht. Auf dem Land blickt man anders auf dieses Thema. Die Leute hier können nicht einfach auf diese Fahrzeuge verzichten."
Andere Regeln für Stadt und Land
Zierke fordert, dass sich in der Politik etwas ändert – nicht im Umgang mit dem Osten, sondern mit dem ländlichen Raum im Allgemeinen. Für den öffentlichen Nahverkehr oder Privatinvestitionen braucht es nach seiner Ansicht ein anderes Regelwerk auf dem Land. Als Beispiel nennt der SPD-Politiker den Ausbau umweltfreundlicher Mobilität, die unkomplizierter werden müsse. "Ruf- und Bürgerbusse haben sich bei uns etabliert. Der nächste Schritt muss das autonome Fahren sein. Die Städte sind voll. Auf dem Land ist genug Platz für diese Innovation."
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Auch Landrat Bernd Lange wünscht sich mehr Verständnis für die Belange in seiner Grenzregion, und dass der Ausbau der Infrastruktur in Görlitz nicht so erschwert wird. Die amtierende Landesregierung sieht er auf einem guten Weg. "Seit den letzten zwei Jahren bemüht man sich intensiv, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen." Vielleicht bleibt Görlitz die Schließung der Arbeitsagentur dann künftig erspart.
(Mitarbeit: Jannis Seelbach)
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