Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Von der Leyens dringendste Aufgabe
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
ein kurzer Hinweis: Alle Tagesanbruch-Ausgaben finden Sie hier. Die Audio-Ausgabe steht jeden Morgen um 6 Uhr auch auf dieser Seite.
Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Internationale Politik ist der Versuch, auf der Basis von Interessen, Macht und Interaktion Ordnung ins Chaos zu bringen. Der Versuch kann gelingen, er kann aber auch scheitern, und er nimmt manchmal überraschende Wege. So kann es kommen, dass Carola Racketes Rettungsaktion auf dem Mittelmeer, ein grausames Bombardement in Libyen und Ursula von der Leyens plötzlicher Karrieresprung miteinander zusammenhängen. Wir lesen die Nachrichten, wir sehen die Fernsehbilder, wir diskutieren am Küchentisch darüber. Aber oftmals lesen, sehen und diskutieren wir nur das Offensichtliche, während die Hintergründe im Dunkeln bleiben. Deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen. Der Reihe nach.
Tagelang hat die deutsche Kapitänin Carola Rackete die Schlagzeilen bestimmt. Ihre Entscheidung, afrikanische Migranten aus dem Meer zu retten und gegen den Willen der italienischen Regierung nach Lampedusa zu bringen, löste eine erregte Debatte darüber aus, wie Europa mit dem “Flüchtlingsproblem“ im Mittelmeer umgehen soll. Viele Berichte, viele TV-Beiträge, Tausende Leserkommentare im Internet. Nur einen Bruchteil dieser Aufmerksamkeit erfuhr dagegen ein anderes schwerwiegendes Ereignis: Bei einem Luftangriff auf ein Lager von Migranten an der libyschen Küste sind in der Nacht zum Mittwoch 44 Menschen getötet und mindestens 130 verletzt worden. Ein Arzt schilderte die Lage: "Das Lager war zerstört. Es war schrecklich, überall war Blut." Fotos zeigen Trümmer, verzweifelte Überlebende, Leichensäcke. Der Angriff traf die Schwächsten der Schwachen: Mehr als 600 Migranten sind in dem Lager eingepfercht. Auf der Flucht vor Krieg, Armut, Verfolgung oder auf der Suche nach einem besseren Leben waren sie aus dem Sudan, Eritrea, Somalia oder Westafrika hergekommen, viele wollen weiter nach Europa. Die UN sprechen von einem Kriegsverbrechen.
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Verantwortlich für den Luftangriff, da sind sich internationale Beobachter einig, ist General Khalifa Haftar. Der Kriegsherr beherrscht den Osten und Süden Libyens und wirft seine Truppen nun gegen die Hauptstadt Tripolis, die bisher von der gewählten Regierung gehalten wird. Die genießt zwar den Rückhalt der Vereinten Nationen, verliert aber an Boden. Umso bemerkenswerter war die herbe Niederlage, die Haftar vergangene Woche in einer wichtigen Schlacht einstecken musste. Seine Reaktion kam prompt: Nun fährt er schwerere Geschütze auf, lässt dicht besiedeltes Gebiet bombardieren. Das Magazin "Foreign Policy" charakterisierte den General kürzlich als "größenwahnsinnig".
Mit so einem Potentaten macht man sich nicht gemein, sondern versucht ihn in die Schranken zu weisen, sollte man meinen. Leider haben gesunder Menschenverstand und Moral in der internationalen Politik einen schweren Stand. So auch hier, denn Frankreich, die USA, Russland, Ägypten und mehrere Golfstaaten tun exakt das Gegenteil. In welchem Ausmaß diese Länder den libyschen Kriegsfürsten unterstützen, hat jetzt der Politikwissenschaftler Tarek Megerisi in einem Aufsatz mit dem aufschlussreichen Titel “Libya’s global civil war“ aufgedeckt. Er zeigt: Der Krieg auf der anderen Seite des Mittelmeers tobt vor allem deshalb, weil ausländische Mächte ihn befeuern.
An erster Stelle sind die Vereinigten Arabischen Emirate zu nennen, deren Kronprinz sich kürzlich in Berlin von Kanzlerin und Bundespräsident hofieren ließ. In Angst, auch sie könnten eines Tages von einem Aufstand weggefegt werden, bekämpfen die Emirate die libysche Regierung aus ehemaligen Aufständischen. Sie haben General Haftar einen Militärflughafen gebaut und Kampfdrohnen gekauft, sie finanzieren ihm sogar einen Trupp amerikanischer Söldner. Darunter sind – wir denken an die Bilder von dem bombardierten Migrantenlager – ausgebildete Kampfpiloten. Ihr Boss ist Erik Prince. Sein Name ist den meisten Menschen heute kaum mehr geläufig. Vor zwölf Jahren war das anders, da gelangte seine damalige Söldnerfirma Blackwater im Irak zu traurigem Ruhm, als deren Kämpfer zahlreiche Zivilisten erschossen. Nun heißt die Firma Academi, nun operiert sie in Libyen.
Auch russische Söldner trainieren Haftars Soldaten. Sie gehören zur Gruppe Wagner, einer Söldnertruppe unter dem Kommando von Wladimir Putins Freund Jewgeni Prigoschin, die schon in der Ukraine und in Syrien für den Kreml die Drecksarbeit erledigte. Komplett wird das Bild des Kampfgetümmels aber erst, wenn man auch die französischen Militärberater, Donald Trumps telefonische Ertüchtigung für Herrn Haftar sowie die Saudis hinzunimmt. Letztere haben die Propaganda für den Kriegsfürsten in die Hand genommen und eine beispiellose Kampagne in den sozialen Medien inszeniert: Seit Wochen bombardieren sie die libysche Bevölkerung mit Lobpreisungen und Heldengeschichten des tapferen Generals; das Phänomen Fake News erreicht ganz neue Dimensionen.
Warum all der Aufwand? Um eigene Interessen durchzusetzen. Es geht um Geostrategie, um Libyens riesige Öl- und Gasvorkommen, um die Angst vor Rebellionen im eigenen Land – und darum, internationale Rivalen auszustechen. Zum Beispiel Katar und die Türkei, die lieber die gewählte Regierung der Aufständischen unterstützen. Mehr als 700 Menschen kamen in den Kämpfen seit April ums Leben, mehr als 4.000 wurden verletzt, mehr als 70.000 vertrieben.
Diese Hintergründe sollte man kennen, wenn man die Herren Macron, Trump und Putin zu einer “Waffenruhe“ in Libyen aufrufen hört. Scheinheiligkeit ist ein zu kleines Wort für ihre Appelle. Wenn sie “Waffenruhe“ sagen, meinen sie “Haftars Sieg“. Während sie “Waffenruhe“ sagen, lassen sie ihren Warlord Zivillisten bombardieren. Wenn sie “Waffenruhe“ sagen, ziehen sie die Strippen und heizen die Kämpfe weiter an.
Falls Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich nun unwillkürlich an den Beginn der Bürgerkriege in Syrien und im Jemen erinnern, verstehen Sie womöglich, warum ich diesem Thema heute so viele Zeilen widme. Amerika, Russland, die Golfstaaten, aber auch der EU-Staat Frankreich sind drauf und dran, vor der Haustür Europas einen neuen Flächenbrand anzufachen – mit schlimmen Folgen: mehr Tote, mehr Elend, mehr Flüchtlinge. Dass die EU-Staaten diese grausame Machtpolitik zulassen, während sie zugleich Flüchtlingen auf dem Mittelmeer und in libyschen Internierungslagern jede Hilfe verweigern, lässt sich mit Blindheit nicht mehr erklären. Kaltherzigkeit, Verantwortungslosigkeit und Dummheit sind die richtigen Worte dafür. Die Profiteure des Krieges in Libyen seien vor allem Milizen, IS-Terroristen und Menschenschmuggler, schreibt Tarek Megerisi. “Das stellt eine ernstzunehmende Gefahr nicht nur für Libyen und seine Nachbarländer dar, sondern auch für Europa, das noch anfälliger für Terroristen und Menschenschmuggler wird.“ Wir dürfen davon ausgehen, dass nach Haftars Angriff auf das Migrantenlager noch mehr Menschen versuchen werden, übers Mittelmeer zu flüchten.
Womit wir endlich bei Ursula von der Leyen wären. Ihre Nominierung für den EU-Chefsessel ist überraschend (sie galt vielen im Bundeskabinett als lame duck), gewagt (sie könnte noch am EU-Parlament scheitern) – aber auch eine große Chance. Als langjährige Verteidigungsministerin kennt sie nicht nur die europäische Sicherheitslage aus dem Effeff. Anders als der scheidende Kommissionspräsident Juncker ist sie auch mit den Taktiken russischer und amerikanischer Militärs bestens vertraut. Sie kann Krisensituationen einschätzen und internationale Konflikte durchschauen. Sie kann geradezu enthusiastisch davon erzählen, wie sich mithilfe künstlicher Intelligenz militärische Lagebilder erstellen lassen. “Das ist ein großer Fortschritt, wenn es darum geht, schnell die richtige militärische Entscheidung zu treffen“, sagte sie kürzlich im Interview mit t-online.de.
Von der Leyen ist resolut, umtriebig und hat bewiesen, dass sie vor komplizierten Problemen ebenso wenig zurückscheut wie vor mächtigen Gegnern. Kurz: Sie hat alles, was die oberste Vertreterin der EU jetzt braucht, um Europas vielleicht größtes Sicherheitsproblem zu lösen. Es gilt, erst Frankreichs Präsidenten Macron zu überzeugen, die Unterstützung für General Haftar einzustellen. Und dann Moskau, Washington, Riad, Abu Dhabi, Ankara, Doha, Tripolis, Bengasi und die EU zu Friedensverhandlungen an einen Tisch zu bringen. Die Ziele könnten ein von EU-Satelliten überwachtes Waffenembargo, der Umbau Libyens zu einem föderalen Kantonalstaat, europäische Investitionen, feste Kontingente für Migranten und ein Rücknahmeabkommen für illegal Eingereiste sein. Eine riesige Aufgabe. Aber vielleicht gerade richtig für eine tatkräftige EU-Chefin, die versucht, Ordnung ins Chaos der internationalen Politik zu bringen.
WAS STEHT AN?
In Bremen geht die rot-grün-rote Regierungsbildung voran. Heute Abend trifft sich der SPD-Landesvorstand zum Grübeln, wer neuer Bürgermeister werden soll. Favorit ist Fraktionschef Andreas Bovenschulte. Falls Sie den nicht kennen, grämen Sie sich nicht. Den bisherigen Bürgermeister kannte bundesweit auch kaum jemand.
Den Namen Wolfram König hingegen sollten Sie sich merken. Der Präsident des Bundesamtes für kerntechnische Entsorgungssicherheit hat großen Einfluss darauf, wo das künftige Endlager für ausrangierte AKW-Brennstäbe gegraben wird. Heute Nachmittag informiert er über den Zwischenstand der Suche.
WAS LESEN?
Die Folgen der Klimakrise sind vielerorts spürbar. Nach Überschwemmungen und Stürmen wurden Bürger bislang großzügig unterstützt. Jetzt ziehen mehrere Landesregierungen die Reißleine: Sie wollen bei Naturkatastrophen keine Hilfsgelder mehr bezahlen. Es sind einfach zu viele geworden (die Katastrophen, nicht die Gelder). Falls Sie ein Haus besitzen, sollten Sie diesen Text meines Kollegen Lars Wienand lesen.
WAS AMÜSIERT MICH?
Stellen Sie sich vor, Sie fahren über die Autobahn – und plötzlich werden Sie von maskierten Polizisten angehalten, aus dem Wagen gezerrt, mit Waffen bedroht. Und dann bekommen Sie: lebenslänglich. Amüsant, oder?
Ich wünsche Ihnen einen Tag voller schöner Überraschungen.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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