Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Dass wir das noch erleben dürfen: China entdeckt die Menschenrechte. "Jemanden ohne Angabe von Gründen zu inhaftieren, ist eine offensichtliche Menschenrechtsverletzung", verkündete ein Ministeriumssprecher in Peking. Bevor Sie sich nun auf die Öffnung der Straflager freuen, muss ich Ihnen noch schnell verraten, für welches Ministerium er spricht: das für auswärtige Angelegenheiten. In Kanada nämlich, im Transitbereich des Flughafens Vancouver, ist eine Chinesin beim Umsteigen verhaftet worden: Meng Wanzhou, Finanzvorstand des Technologieriesen Huawei und zugleich die Tochter des Unternehmensgründers. Die Firma kennen Sie wahrscheinlich von den Smartphones Ihrer Freunde/Kinder/Enkel (oder gar Ihrem eigenen). In der Tat ist Huawei inzwischen zum weltweit zweitgrößten Handyproduzenten aufgestiegen und wächst weiter rasend schnell.
Doch noch größeres Gewicht hat Huawei im Markt für Telekommunikationsequipment, das für den Aufbau von Mobilfunknetzen gebraucht wird und unsere praktischen Smartphones überhaupt erst nutzbar macht – egal, von welchem Hersteller diese stammen. Die Firma ist deshalb mehr als nur ein gewöhnliches Unternehmen. Sie ist Chinas strategisches Instrument auf dem Weg zur weltweit führenden Technologie-Nation. Westliche Geheimdienste sehen in Huawei dagegen ein trojanisches Pferd für den Cyberkrieg und fürchten heimliche Hintertüren in den Geräten. Sie ahnen schon: Schwergewichtiger geht’s nimmer. Und nun sitzt die Nummer Zwei der Firma in Kanada hinter Gittern.
Die enorme Sprengkraft dieses Vorgangs erschließt sich allerdings erst, wenn man berücksichtigt, wer hinter der Verhaftung steckt. Die kanadischen Behörden handelten auf Bitten der USA. Über den genauen Vorwurf herrscht Stillschweigen – dennoch ist durchgesickert: Die Amerikaner werfen Huawei vor, sich über die Sanktionen hinwegzusetzen, mit denen sie den Iran bestrafen. So ist das in unserer globalisierten Welt: Außenpolitische und wirtschaftliche Interessen sind oft ein und dasselbe.
Kurzfristig ist das Ganze eine Ohrfeige für die Chinesen. Mittelfristig werden sie wohl hart zurückschlagen. Deshalb ist die Affäre langfristig ein herber Rückschlag für alle, die den Handelskrieg zwischen Washington und Peking einzudämmen versuchen.
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WAS STEHT AN?
Schön sind sie nicht, die Hamburger Messehallen, eher zweckmäßig. Aber sie bieten genug Platz, und das ist entscheidend. Wer im politischen Journalismus etwas auf sich hält, der bahnt sich heute früh einen Weg durch die Menschenmenge vor dem Eingang im Karoviertel, schiebt sich durch die Sicherheitsschleuse und dann nach links in den Saal, ergattert dort zur Rechten einen Platz auf der viel zu kleinen Pressetribüne – und verfolgt dann mit wachen Augen und gespitzten Ohren acht, neun, zehn Stunden lang das Geschehen. Sage und schreibe 1.600 Journalisten aus aller Welt werden vom CDU-Parteitag berichten (darunter 4 von t-online.de) – bei 1.001 Delegierten. Ist das angemessen?
Politische Veranstaltungen in unserem Land sind selten überraschend, aber heute ist das anders. Heute wissen wir schon am Morgen, während wir noch ein wenig schlaftrunken zum ersten Kaffee greifen (oder schon auf der Pressetribüne sitzen): Diese Veranstaltung markiert eine Zäsur in der deutschen Parteiengeschichte. Nach 18 Jahren tritt Angela Merkel als CDU-Chefin ab, die letzte Phase ihrer Kanzlerschaft ist eingeläutet – und die Partei kungelt den Führungswechsel nicht im Hinterzimmer aus, sondern gestaltet ihn als fast schon basisdemokratischen Prozess. Man mag zur CDU stehen, wie man will, aber sie hat es nach acht lähmend-chaotischen Groko-Monaten binnen zwei Wochen geschafft, die demokratische Kultur konstruktiv zu beleben. Der Wahlkampf zwischen Friedrich Merz, Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn war fair, anregend und profilbildend. Allerdings sind dabei von den drei Kandidaten mancherorts Klischees gezeichnet worden, die mit der Realität wenig zu tun haben.
Friedrich Merz erschien in manchen Medien als neoliberaler Gottseibeiuns, der den deutschen Sozialstaat amerikanischen Raubtierkapitalisten ausliefern wolle. Annegret Kramp-Karrenbauer verspottete man als Merkel-Doppelgängerin, die sich dem Narkosekurs verschrieben habe. Jens Spahn wurde als Ehrgeizling ohne Werte und Prinzipien karikiert. Selbst wenn in jedem Zerrbild ein Fünkchen Wahrheit aufflackern mag: So pauschal ist das schlicht und einfach Quatsch.
Das vielleicht bemerkenswerteste Ergebnis dieses Dreikampfs war die inhaltliche Nähe der drei Bewerber. Ja, Friedrich Merz forderte leidenschaftlich eine Stärkung des Mittelstandes und überraschte manchen mit progressiven Ansichten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ja, Annegret Kramp-Karrenbauer plädierte für die Abschiebung von Straftätern ins Bürgerkriegsland Syrien und sorgte mit ihrer kategorischen Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der AfD für Aufsehen. Ja, Jens Spahn setzte sich mit seiner EU-kritischen Haltung ab und trommelte zur Verwunderung vieler vehement für den Klimaschutz. Aber in Wahrheit fassten alle drei damit Positionen in ihre eigenen Worte, die nicht nur bei vielen Parteimitgliedern auf Zustimmung treffen dürften, sondern die im Zweifel auch alle drei mit mehr oder weniger gutem Gewissen vertreten könnten. "Die wenigen konkreten Vorschläge, die in der Welt sind, decken sich in bemerkenswertem Umfang", schreibt unser Politikreporter Jonas Schaible in seiner lesenswerten Analyse des Wahlkampfes der drei Matadoren. "Im Kern gibt es nur zwei Themen, die wirklich schwer zu vereinende Lager erzeugen: Einerseits den richtigen Umgang mit Zumutungen gesellschaftlicher Veränderungen, auch, aber nicht nur durch Flüchtlinge. Andererseits Angela Merkel als Person."
Wie hältst du’s mit Merkel? Das könnte tatsächlich die entscheidende Frage sein, wenn die Delegierten heute nach all den Reden ihr Kreuzchen machen: Bewertet man ihre 13-jährige Regierungszeit im Großen und Ganzen so positiv, dass man sich zwar eine Korrektur, aber nicht ein Ende dieses Politikstils wünscht – mit dem Vorteil der geschmeidigen Kontinuität, aber zugleich dem Nachteil des fehlenden Aufbruchs? Dann wäre Kramp-Karrenbauer die richtige Wahl. Oder wählt man einen Bruch in Stil, Ton und Begleitpersonal – mit dem Charme des Neuanfangs, aber zugleich dem Risiko, viele Wähler in der Mitte zu verprellen und zurück zur SPD zu treiben? Dann wäre Merz die richtige Wahl. Oder will man weder das eine noch das andere und verlangt nach einem Generationswechsel, weil man endlich eine Person an den Hebeln der Macht sehen will, deren Gesicht man nicht schon seit 25 Jahren kennt? Dann wäre Spahn die richtige Wahl.
Die Frau, die im Kern dieser Richtungsentscheidung steht, wird gegen 11.30 Uhr ihre letzte Rede als CDU-Vorsitzende halten. Wenn man so will: ihr Vermächtnis. Meine Kollegen Tatjana Heid, Jonas Schaible, Gerhard Spörl und ich werden ihren Auftritt ebenso verfolgen wie die anschließende Wahl ihrer Nachfolgerin, pardon, ihres Nachfolgers. Unsere Beobachtungen werden wir in den Liveticker schreiben, den Sie den ganzen Tag über auf t-online.de finden. Und anschließend in unsere Analysen. Ich freue mich, wenn Sie uns auf Ihrem Smartphone oder vor Ihrem PC Gesellschaft leisten mögen. Ist schließlich eine historische Zäsur in der deutschen Parteiengeschichte.
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Universalgelehrte sind selten geworden, aber Noam Chomsky darf man getrost einen nennen. Als Linguist verewigte er sich in der Sprachforschung und Grammatik, aber seine Schriften zu Politik, Psychologie und Philosophie sind nicht minder eindrucksvoll. Wieder und wieder hat er die Welt erklärt, ihre Machtstrukturen und vor allem die Dynamik der amerikanischen Gesellschaft. Manche nennen ihn "links", aber das greift zu kurz. Eher ist er durch und durch ein kritischer Humanist, der messerscharf beobachtet und formuliert. "Mutwilliges Töten unschuldiger Zivilisten ist Terrorismus und kein Krieg gegen den Terrorismus", ist so eine Formulierung, mit der Chomsky in einem einzigen Satz die Außenpolitik George W. Bushs entlarvte. Einen anderen richtete er nach innen: "In den Vereinigten Staaten ist das politische System nur am Rande von Bedeutung. Es gibt zwei sogenannte Parteien, aber sie sind in Wirklichkeit Fraktionen der gleichen Partei, der Geschäftspartei. Beide repräsentieren eine Reihe von Geschäftsinteressen. Sie können sogar ihre Positionen um 180 Grad wenden, ohne dass es überhaupt jemand merkt."
Tröstlich an seiner Kritik des amerikanischen Machtsystems ist: Sie offenbart zugleich die Stärke der amerikanischen Demokratie. Intellektuelle können Politiker hart kritisieren und deren Fehler schonungslos sezieren. Die Lügen der Bush-Regierung wurden von Autoren wie Chomsky und Susan Sontag analysiert und gebrandmarkt. Die Machenschaften der Mächtigen werden ans Licht der Öffentlichkeit geholt. Im totalitären China wäre das undenkbar, dort landen Kritiker im Arbeitslager. Im autoritären Russland wäre es aussichtslos, dort werden Kritiker so lange mit Gerichtsverfahren überzogen, bis sie diskreditiert sind oder klein beigeben.
120 Bücher hat Noam Chomsky geschrieben. Heute wird er 90 Jahre alt – und schreibt und schreibt. Und bleibt. Seine Ausdauer hat er mal mit seiner "Fahrrad-Theorie" erklärt: "Solange du weiterfährst, fällst du nicht hin." Merke ich mir.
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WAS LESEN?
Wie man sich doch täuschen kann. Ich hielt diesen Mann immer für einen blasierten Schnulzensänger. Wenn ein Lied "Das schöne Mädchen von Seite eins" heißt, was soll man dann schon erwarten? Ja, was soll man erwarten, wenn der Mann dann plötzlich in unserem Newsroom in Berlin steht, vollkommen unprätentiös und charmant nicht nur von den Höhen, sondern auch den Tiefen seines bewegten Lebens erzählt, von den Depressionen und Schicksalsschlägen, wenn er in wenigen klugen Sätzen die Politik seines ehemaligen Nachbarn Donald Trump auseinandernimmt und dann meinen Kollegen Luca Cordes, Jerome Baldowski und Nicolas Lindken ausführlich Rede und Antwort steht? Dann kann man eigentlich nur zweierlei sagen: Howard Carpendale ist eine eindrucksvolle, sympathische Persönlichkeit. Und man sollte nie viel auf die eigenen Vorurteile geben.
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WAS FASZINIERT MICH?
Folgende Situation: Sie sind Fotograf. Gleich ein halbes Dutzend Models sind angerückt, stehen in exquisiten, wallenden Gewändern vor Ihnen: knallige Farben, flatternde Tücher. Sie sollen Ihrer Kreativität bitte freien Lauf lassen. Was machen Sie? Klar: Alle ins Wasser schubsen. Weil die Fotos dann so aussehen wie auf barocken Gemälden. Hat die hier auch so gemacht.
Ich wünsche Ihnen einen famosen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Ab morgen früh können Sie in einer Spezialausgabe des Audio-Tagesanbruchs am Wochenende hören, was ich auf dem CDU-Parteitag erlebt habe: Am Samstag ab 6 Uhr hier.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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