Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
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WAS WAR?
Was tut ein Ganove, wenn er in seinem Kiez unter Druck gerät, seine Macht schwindet, die Probleme wachsen? Ganz einfach: Er zettelt im Kiez seines Rivalen um die Ecke eine Schlägerei an, beschimpft den Gegenspieler als gefährlichen Feind und versammelt seine eigenen Leute hinter sich, um dem Typen da drüben mal zu zeigen, was ‘ne Harke ist. Und plötzlich spricht keiner seiner Leute mehr über die Probleme im eigenen Kiez. Denn die viel größeren Probleme sind ja dort drüben, wo der gefährliche Feind droht.
Verzeihen Sie mir bitte diesen kleinen Ausflug in die Belletristik, aber manchmal hilft so etwas, um die komplexe Gemengelage der Weltpolitik anschaulicher zu beschreiben.
Die Zustimmungswerte von Präsident Putin in der russischen Bevölkerung sind in den vergangenen Monaten eingebrochen. Die kriselnde Wirtschaft schränkt den Lebensstandard von immer mehr Menschen ein, zugleich fragen viele immer lauter, wo eigentlich all die Rubel aus den Öl- und Gasexporten bleiben, warum die Renten gekürzt und die Lebensarbeitszeit erhöht wird, während die Leute im Kreml sich schicke Datschen leisten und rauschende Feste feiern.
Da kommt die Eskalation zwischen russischen und ukrainischen Truppen vor der Krim den Leuten im Kreml gerade recht. So recht, dass wir naiv sein müssten, um zu glauben, da sei nicht ein bisschen nachgeholfen worden. Der Verdacht liegt nahe, dass Herr Putin wieder einmal ein Ablenkungsmanöver inszeniert hat, wie er es schon im Konflikt um die Krim im Jahr 2014 und später im Syrien-Krieg tat: Er sucht sich einen Gegner im Ausland, baut ihn zum Feind auf, zettelt einen Streit mit ihm an und hofft darauf, dass sich seine Landsleute hinter ihm als Anführer versammeln. Wer will schon den Häuptling kritisieren, wenn die eigenen Landsleute drüben im anderen Kiez unter Feuer stehen?
"Politik der Ewigkeit", nennt der amerikanische Historiker Timothy Snyder das Putin’sche Machtsystem in seinem Buch "Der Weg in die Unfreiheit". Die Kamarilla im Kreml beschwört demnach eine idealisierte slawische Vergangenheit, kreiert permanent neue äußere Feinde, schürt Konflikte und Kriege, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken, wirft Kritikern Propaganda vor, während sie selbst permanent lügt und im Ausland populistische Gruppen und Parteien unterstützt, um die gegnerischen Systeme zu zermürben – und hält sich so Jahr um Jahr an der Macht. Ein düsteres Szenario, dessen konkrete Folgen wir in diesen Tagen wieder in den Nachrichten sehen – wenn es so plakativ zutrifft.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass es für eine Eskalation immer zwei Seiten braucht. Der Typ im anderen Kiez muss ähnlich unerbittlich und engstirnig um sich schlagen, damit der Konflikt auflodert. Vor der Krimkrise 2014 haben die EU und die US-Regierung die Konfrontation mit Russland durch eine einseitige Expansionspolitik angefacht. Heute, im Herbst 2018, ist es der ukrainische Präsident Poroschenko, der gerne und lauthals gen Moskau faucht, statt die Situation zu beruhigen. Denn auch er steht innenpolitisch unter Druck. Die Korruption in der Ukraine grassiert noch krasser als früher, Ende März droht Poroschenko die Abwahl. Auch er lenkt offensichtlich gern durch eine außenpolitische Krise von seinem eigenen Versagen ab.
Wo sind die Sheriffs, die die Ganoven in ihre Kieze zurückpfeifen? Viel zu tun für die Diplomaten in New York, Genf und Brüssel.
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Vor knapp zwei Jahren, am 19. Dezember 2016, stahl der Tunesier Anis Amri einen Lastwagen, ermordete den Fahrer und steuerte den Lkw anschließend auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. 12 Menschen starben, mehr als 70 Menschen wurden verletzt. Es war der schwerste islamistische Anschlag in Deutschland.
Zwei Jahre später ist die Aufarbeitung der Terrorattacke immer noch nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Trotz intensiver Polizeiermittlungen, diverser Untersuchungsausschüsse und journalistischer Recherchen liegen die Hintergründe teilweise immer noch im Dunkeln. Vor allem die Antwort auf die große Frage: Wie war es möglich, dass ein den Behörden bekannter Gefährder, der immer wieder observiert wurde, unbehelligt seinen perfiden Mordplan aushecken, mit Hintermännern in Nordafrika kommunizieren, sich im Umfeld einer islamistischen Moschee bewegen, die Tat begehen und anschließend nach Italien fliehen konnte?
Die bisherige Antwort auf diese dröhnende Frage lautet: Er konnte es, weil sich die Sicherheitsbehörden in Berlin, in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg und auf der Bundesebene nicht koordinierten, weil sie schlampten, weil sie einander Informationen verschwiegen. In den Ohren von den Angehörigen der Opfer, aber auch aller Bürger, die auf einen starken Rechtsstaat vertrauen, muss diese Antwort wie Hohn klingen. Das Dröhnen aber wird nach zwei Jahren nicht leiser, sondern lauter, denn nach und nach dringen immer mehr haarsträubende Details an die Öffentlichkeit. Sie bestimmen nun nicht mehr die Schlagzeilen auf den Titelseiten der Zeitungen, sie stehen nicht mehr ganz oben auf den Nachrichten-Websites, sondern eher unter ferner liefen. Aber sie sie scheinen all jene zu bestätigen, die den Verdacht hegen, dass es in diesem Fall nicht nur um Schlamperei geht, sondern auch um Vertuschung, vielleicht gar um Destruktion.
Erst verheimlichte der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, dem Bundestagsuntersuchungsausschuss, dass seine Geheimdienstler eine Kontaktperson im Umfeld Anis Amris hatten. Sie wussten, dass Amri mit IS-Kämpfern in Libyen kommunizierte und sich nach Tipps für einen Anschlag erkundigte.
Nun kommt heraus: Der Attentäter hatte offenbar einen V-Mann des Berliner Landeskriminalamts in seinen Terrorplan eingeweiht. Ob der Informant sein Wissen wirklich erst nach dem Attentat an die Ermittler weitergab, wie es der Chef des chaotischen LKA beteuert, ist unklar. Aber dass diese Information erst jetzt bekannt wird, zwei Jahre nach dem Anschlag, dass sie erst von Journalisten recherchiert werden muss, statt dass die staatlichen Behörden offen und transparent darüber kommunizieren, offenbart, wie schwer sich die Sicherheitsbehörden in der Hauptstadt immer noch mit einer stringenten, vertrauenerweckenden Arbeit tun. Natürlich: Manchmal braucht es Heimlichtuerei, um Ermittlungen oder Informanten nicht zu gefährden. Aber allein schon aus Respekt vor den mehr als 80 Opfern und ihren Angehörigen sollten Polizei und Verfassungsschützer endlich alle Fakten auf den Tisch legen, die sie kennen. Namen von Informanten können dabei geschwärzt werden.
Das Vertrauen vieler Bürger in die Sicherheitsbehörden ist ramponiert. Manche fordern gar, den Bundesverfassungsschutz komplett abzuschaffen, etwa der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele in einem Gastbeitrag. Ich denke: Das geht zu weit. Die Gefahren, denen unser demokratischer Rechtsstaat im Inland ausgesetzt ist – Rechts- und Linksextremismus, Islamismus, organisierte Kriminalität – sind zu groß, als dass ihre Bekämpfung allein der Polizei überlassen werden könnte. Zwingend aber muss der Verfassungsschutz von Grund auf reformiert und künftig sehr viel genauer kontrolliert werden. Unter Herrn Maaßen war das nicht möglich. Deshalb ist dies jetzt die wichtigste Aufgabe für seinen Nachfolger Thomas Haldenwang. Sonst drängt sich irgendwann der Eindruck auf, dass die Gefahren für unseren Staat nicht nur von Kriminellen drohen. Sondern auch von innen, aus dem Apparat heraus.
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WAS STEHT AN?
In Berlin findet heute Vormittag die Auftaktveranstaltung zur vierten Deutschen Islamkonferenz statt. Unsere Kolumnistin Lamya Kaddor sagt: Bisher brachte die Islamkonferenz wenig zustande – doch diesmal könnte alles anders werden.
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In Brüssel stellt die EU-Kommission heute ihre Strategie für den langfristigen Klimaschutz vor. Die Zeit drängt: Am 3. Dezember beginnt im polnischen Katowice die nächste Weltklimakonferenz.
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Bundeskanzlerin Merkel empfängt heute gleich zwei ranghohe Gäste: erst Thailands Premierminister Prayut Chan-o-cha, dann den armenischen Staatspräsidenten Armen Sarkissjan.
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In Karlsruhe wird heute die Ausstellung "Mykene – Die sagenhafte Welt des Agamemnon" vorgestellt, erstmals seit Jahrzehnten widmet sich wieder ein deutsches Museum ausführlich der ersten Hochkultur auf dem europäischen Festland. Gezeigt werden rund 400 Exponate, darunter einige der bedeutendsten archäologischen Fundstücke Griechenlands. Als Student schmökerte ich vor vielen Jahren C.W. Cerams Klassiker "Götter, Gräber und Gelehrte", in dem er die Hochkultur von Mykene und die Ausgrabungen Heinrich Schliemanns spannend wie einen Krimi beschreibt. Schade, dass ich heute nicht in Karlsruhe sein kann.
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GLÜCKSPILZ DES TAGES
Für den Syrer Hassan al Kontar verwandelt sich ein Albtraum in einen Traum: Er lebt nun endlich bei seiner Familie in Kanada. Der Weg dorthin war eine Odyssee: Erst floh er vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Als sein Visum ablief, strandete er in einem Flughafengebäude in Malaysia, musste dort sieben Monate ausharren, wurde verhaftet. Doch er hatte viele Unterstützer. Gleich nach seiner Freilassung twitterte er gestern: "Lasst uns beten für die Menschen, die noch in Flüchtlingslagern ausharren müssen."
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GRAFIK DES TAGES
Was haben Analysten und Journalisten nicht alles über Bitcoins geschrieben! Die neue Weltwährung, die Reichmacher, die Geschäftsidee des Jahrhunderts! Zwölf Monate später ist Ernüchterung eingekehrt. Zu Recht, wenn man sich diese Grafik meiner Kollegen von Statista ansieht.
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WAS LESEN?
Der deutsche Wohnungsmarkt ist vielerorts intransparent, überteuert und schlecht organisiert. Aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts muss die Bundesregierung nun die Erhebung der Grundsteuer neu regeln. Was gut gemeint ist, könnte am Ende zum Schaden von Millionen Eigentümern und Mietern geraten – und einen gigantischen Bürokratieaufwand produzieren: Mehr als 36 Millionen Häuser und Wohnungen müssten neu ausgemessen, bewertet und zur Steuer veranlagt werden. Unsere Wirtschaftskolumnistin Ursula Weidenfeld hat das Drama wie gewohnt präzise für Sie entwirrt.
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WAS AMÜSIERT MICH?
Eigentlich ist es ein Etikettenschwindel: Die Band Joy Division machte nicht besonders fröhliche Musik. Ihr Hit "Love Will Tear Us Apart" im Jahr 1980 war von den Eheproblemen des Sängers Ian Curtis und seinem depressiven Gemütszustand inspiriert. Noch vor Veröffentlichung der Single beging er Suizid. Bevor Sie sich jetzt fragen, wohin ich Sie gerade führen will, möchte ich Ihnen rasch eine Gruppe Blechbläser vorstellen, die sich der Sache noch mal angenommen … oder eher: sie auf den Kopf gestellt hat. Aber wie!
Ich wünsche Ihnen einen optimistischen Tag.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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