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Tagesanbruch: Vergewaltigung und Tötung – Jede Gewalttat ist eine zu viel


Meinung
Was ist eine Meinung?

Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.

Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 05.11.2018Lesedauer: 7 Min.
Tatort der Gruppenvergewaltigung in einem Industriegebiet in Freiburg.Vergrößern des Bildes
Tatort der Gruppenvergewaltigung in einem Industriegebiet in Freiburg. (Quelle: Patrick Seeger/ dpa/dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Größere Bedeutung/Vorrang: So definiert der Duden das Wort Priorität. Was also hat gerade in der Bundespolitik die größte Bedeutung, was hat Vorrang? Wer sich in diesen Tagen im Regierungsviertel umhört, wer Nachrichtenportale und Zeitungen liest, wer Radio hört und Fernsehen guckt, stellt rasch fest: Der Pflegenotstand ist es jedenfalls nicht. Auch der Wohnungsmangel, die Klimakrise, die unzähligen Funklöcher, die Überstunden von Polizisten, die Verarmung vieler Kinder, Senioren, Geringverdiener sind es nicht. Die Regierungsparteien beschäftigen sich in diesen Tagen vor allem mit: sich selbst.

In der CDU gibt es kein wichtigeres Thema mehr als die Frage, wer sie künftig führen darf. Merz, Kramp-Karrenbauer, Spahn? Hektische Telefonate, taktische Manöver, Stimmengewirr. Ein jeder versucht, seine Truppen zu mobilisieren, seinem Kandidaten oder seiner Kandidatin Vorteile zu verschaffen und die vermeintliche Schwäche der jeweils anderen hervorzukehren. Dabei muss man bei Lichte besehen sagen: Die Unterschiede sind zwar da, aber sie sind nicht gewaltig. Weder wird Friedrich Merz die CDU in einen neoliberalen Wirtschaftslobbyverein verwandeln können noch ist Annegret Kramp-Karrenbauer willens und in der Lage, die Partei in eine bessere SPD umzuformen. Und Jens Spahn? Ist bislang noch nicht einmal in der Lage, spürbare Begeisterung für seine konservative Rückbesinnung heraufzubeschwören.

Auch die SPD beschäftigt sich in erster Linie mit sich selbst, ringt um ihren Kurs und um die Frage, wer sie überhaupt sein will, wer sie führen soll. Nach vorsichtiger Schätzung wird das so weitergehen, bis die Partei entweder in den Umfragen bei einer einstelligen Prozentzahl angekommen ist oder sie die große Koalition in Berlin aufkündigt. Das lange Interview der Vorsitzenden Andrea Nahles in der "Süddeutschen Zeitung" am Wochenende und die Reaktionen darauf haben vor allem eines gezeigt: In der Partei herrscht eine ebenso umfassende wie erschreckende Orientierungslosigkeit. Man soll ja mit Floskeln vorsichtig sein, aber hier passt mal eine: Könnten Kurt Schumacher und Willy Brandt sehen, was ihre politischen Enkel da gerade anrichten, sie würden sich im Grabe umdrehen.

Während die großen (ehemals großen?) Parteien also derzeit vorwiegend um sich selbst kreisen, haben die meisten Bürger in meiner Wahrnehmung ganz andere Probleme. Manche fragen sich, was aus Deutschland, aus ihren Jobs, ihren Kindern, ihnen selbst werden soll, wenn es mit dem Klimawandel, der verschlafenen Digitalisierung und der ungebremsten Alterung unserer Gesellschaft so weitergeht. Andere verzweifeln an Wuchermieten oder fehlenden Kita-Plätzen, wieder andere ärgern sich maßlos, weil sie von dem Autokonzern, dem sie ihren Diesel abgekauft haben, betrogen wurden und nun auch noch von der Politik im Stich gelassen werden.

Und noch etwas kommt hinzu: Bei vielen Menschen meine ich wahrzunehmen, wächst ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit. Sie fühlen sich an ihrem Heimatort, in ihrer Innenstadt, in ihrem Land nicht mehr gänzlich sicher. Dieses Gefühl ist schwer zu greifen, da es der rückläufigen Kriminalstatistik widerspricht. Dennoch ist es virulent. Nicht in jeder Stadt und in jedem Bundesland gleichermaßen, aber doch so stark, dass wir es nicht überhören können. Nicht überhören sollten.

Der Grund für diese Verunsicherung liegt in gewalttätigen Ereignissen, die uns in den Nachrichten entgegenspringen, die uns erschüttern, über die wir am Küchentisch, auf der Arbeit und in der Bahn reden.

Ich könnte die Liste fortsetzen, aber schon jeder dieser Fälle ist einer zu viel.

Behalten wir einen kühlen Kopf, müssen wir sagen: Entgegen anderslautender Behauptungen mancher Hitzköpfe ist Deutschland ein funktionierender Rechtsstaat. Polizei, Gerichte und Geheimdienste leisten überwiegend gute Arbeit. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass überwiegend eben nicht reicht, dass es blinde Flecken in unserer Sicherheitsarchitektur gibt – und dass die Bundes- und einige Landesregierungen mehr tun könnten, um dies zu ändern. Gerichtsverfahren ziehen sich in die Länge, Abschiebungen von Gewalttätern scheitern an zahlreichen Vorschriften, Verfassungsschützer unterschätzen die Gefahr von rechts, manche Innenstädte gleichen nachts gefühlten No-go-Zonen, vor allem viele Frauen empfinden es offenbar so.

Andernorts funktioniert das besser. Zum Beispiel in der Schweiz. Auch dort gibt es Kriminalität. Aber anders als hierzulande wurden die Polizeibehörden dort nicht jahrelang kleingespart, sondern kontinuierlich gut ausgestattet. Anders als hier verfolgen die Sicherheitsbehörden dort vielerorts eine Null-Toleranz-Strategie. Selbst kleine Gesetzesbrüche werden schnell und entschieden geahndet. Was hält uns, was hält die Entscheider in Berlin und in den Landeshauptstädten eigentlich davon ab, sich an der Schweiz ein Beispiel zu nehmen? Ich wage mal eine Prognose: Täten sie es, würden ihre Zustimmungswerte in den Umfragen schnell wieder steigen. Etwas anderes müssten sie dann allerdings einstellen: sich überwiegend mit sich selbst zu beschäftigen.

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WAS STEHT AN?

Freiburg, Chemnitz, Kandel: Was tun mit jungen Männern, die aus Syrien, dem Irak, Afghanistan nach Deutschland geflohen sind und hier schwere Straftaten begehen – darf man sie nach Verurteilung und Verbüßen ihrer Haftstrafe in ein Krisengebiet abschieben? Die rechtlichen Hürden dafür sind hoch, in das Bürgerkriegsland Syrien wird bislang gar nicht abgeschoben. Nach der Gruppenvergewaltigung in Freiburg gibt es jetzt einzelne Stimmen, die das für falsch halten. "Unsere Verantwortung für die Sicherheit der Bürger verpflichtet uns, alle Hebel des Rechtsstaats in Bewegung zu setzen, um syrische Straftäter und Gefährder außer Landes zu bringen, sobald es die Lage erlaubt", sagt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann.

Auch unsere Kolumnistin Lamya Kaddor fordert, dass Abschiebungen in Bürgerkriegsländer möglich sein müssten: "Wird ein Geflüchteter zu einer Haftstrafe wegen einer Straftat verurteilt, ist ein Abschiebeverfahren zu prüfen und ebenfalls zügig zu vollziehen. Wenn ein Mensch gezielt einem anderen Menschen schadet oder schaden will, wäre das moralisch vertretbar." Aufgabe der Politik sei es, auf diplomatischer Ebene solche Abschiebungen zu ermöglichen. Schauen wir mal, ob die Bundespolitik heute zwischen ihren Personaldebatten Zeit für eine Diskussion über dieses Thema findet. Nötig wäre es.

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Diese Woche steht im Zeichen der US-Politik. Am Dienstag werden bei den Kongresswahlen alle 435 Sitze des Abgeordnetenhauses und 35 der 100 Sitze im Senat neu vergeben. Beobachter sagen den oppositionellen Demokraten gute Chancen voraus, zumindest das Abgeordnetenhaus von den Republikanern zurückzuerobern. Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold hat die vergangenen Wochen mit Wählern und Politikern in Staaten wie Arizona, Texas, Virginia gesprochen. Er schildert die Stimmung im Land so:

"Egal, mit wem man im Land spricht, nach wenigen Sätzen ist man stets beim Thema Donald Trump. Das Land ist gespalten, und das wird im Wahlkampf sehr deutlich: Trump steht gar nicht zur Abstimmung, doch für beide Seiten ist seine Person wichtiger als die Kandidaten auf dem Wahlzettel. Seine Anhänger wollen ihm Rückendeckung geben, indem sie seine Mehrheit im Parlament bestätigen. Seine Gegner wollen den Wechsel, damit Trump endlich aus dem Parlament kontrolliert wird. Es ist erschreckend, wie oft mir hier Leute ganz unterschiedlicher Herkunft berichten, wie das Thema Trump auch Gespräche in ihren Familien und im Kollegenkreis vergiftet. Für den Dienstag wird es darauf ankommen, welche Seite ihre Leute besser mobilisiert. Die Sprachlosigkeit zwischen den Lagern wird aber in jedem Fall bleiben."

Die womöglich entscheidende Rolle, die Frauen bei dieser Wahl spielen, beschreibt unser Korrespondent in einer Reportage aus dem 7. Wahlbezirk in Virginia, der das Amerika des Jahres 2018 wie im Brennglas abbildet: Eine frühere CIA-Agentin will für die Demokraten einen erzrepublikanischen Wahlkreis erobern.

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Diese Geschichte möchte ich zu Ende erzählen. Vergangene Woche hatte ich auf die entsetzlichen Folgen des Krieges im Jemen hingewiesen und Ihnen Fotos der "New York Times" gezeigt, die dem Hunger ein Gesicht geben. Das erste dieser Bilder zeigt Amal Hussein, ein siebenjähriges Mädchen mit großen, ausdrucksstarken Augen und einem ernsten Gesicht, Armen wie Streichhölzern und Rippen, die von den Gestalten aus einem Totentanz stammen könnten. Ein Anblick, der weltweit viele Menschen bewegt hat. Ihre Geschichte ist nun zu Ende. Das Mädchen ist am vergangenen Donnerstag gestorben.

Ihr können wir nicht mehr helfen, aber immer noch den anderen 1.800.000 hungernden Kindern, die im Jemen schwer unterernährt sind. Ja, genau. Eins Komma acht Millionen Kinder sind schwer unterernährt. Wir können weiterhin verlangen, dass Deutschland und Europa ihr Gewicht in die Waagschale werfen und die Kriegstreiber, insbesondere Saudi-Arabien, mit Sanktionen belegen. Und wir können Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen unterstützen, die in diesem gefährlichen Umfeld tätig sind. Damit nicht noch mehr Geschichten zu Ende erzählt werden müssen.

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FRAGE DES TAGES

Warum bildet die Bundeswehr trotz des Mordes an dem Publizisten Jamal Khashoggi und des brutalen Krieges im Jemen weiter saudi-arabische Soldaten aus?

Recherchen der Deutschen Presse-Agentur haben ergeben, dass an der Bundeswehr-Führungsakademie in Hamburg derzeit sieben Offiziersanwärter der saudischen Streitkräfte geschult werden. Sicher, sieben sind nicht viele. Aber das Signal der Bundesregierung an die Mächtigen in Riad könnte kaum größer sein: Ja, ja, wir genehmigen während der Ermittlungen im Fall Khashoggi keine neuen Waffenexporte mehr. Aber erstens bleiben die bereits erteilten Ausfuhrgenehmigungen bestehen (allein in diesem Jahr sind das schon Rüstungsgüter im Wert von mehr als 400 Millionen Euro). Und zweitens stört es uns nicht, Offiziere auszubilden, die später vielleicht Angriffe im Jemen befehlen.

An dieser Stelle dürfen sich alle Ministeriumsmitarbeiter, die den Tagesanbruch lesen, bitte mal eben an drei Zahlen erinnern: Wegen des Krieges im Jemen sind 22 Millionen Menschen in Not, 7 Millionen Menschen hungern, und 1,8 Millionen Kinder: siehe oben.

Aber Deutschland bildet weiter saudische Offiziere aus. Mir fehlen die Worte.

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WAS RÜHRT MICH?

Kennen Sie das? Ein lieber Freund, eine gute Kollegin oder ein reizender Verwandter schickt Ihnen eine Nachricht per SMS oder WhatsApp. Sie tippen darauf – und dann vergessen Sie die Zeit. So fasziniert, amüsiert und gerührt sind Sie von dem, was Sie dort sehen. Dabei sind es ja nur ein paar Striche und ein altbekanntes Musikstück. Aber beides zusammen, das ist spektakulär, das macht aus einer kleinen Nachricht ein kleines Wunder. So geht es jedenfalls mir. Ihnen auch?

Ich wünsche Ihnen einen frohen Start in die Woche.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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