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Tagesanbruch: Deutschland braucht kluge Flüchtlingspolitik statt Polemik


Meinung
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Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 28.06.2018Lesedauer: 6 Min.
Asyldebatte aus dem Ruder gelaufen: Horst SeehoferVergrößern des Bildes
Asyldebatte aus dem Ruder gelaufen: Horst Seehofer (Quelle: dpa)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

die Welt steht noch und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Das zweitgrößte Korallenriff der Welt konnte gerettet werden und ist nicht mehr gefährdet. Familien in Deutschland profitieren ab dem kommenden Jahr von milliardenschweren Reformen – aber auch Millionen weitere Bürger sollen finanziell entlastet werden. Vielerorts scheint heute die Sonne, der Urlaub steht vor der Tür, morgen Abend beginnt das Wochenende. Gute Nachrichten an diesem Donnerstagmorgen!

Und jetzt bitte einmal durchatmen, noch einen Schluck Kaffee trinken und dann zu den weniger guten:

Pässe ins Leere, Laufwege ins Nichts, die Abwehr noch zittriger als der Torwart, das Mittelfeld einfallslos, der Angriff bieder. Wer so spielt, der ist zu Recht ausgeschieden. Wer seit Wochen so spielt, der kann sich nicht beklagen, wenn er massive Kritik auf sich zieht. "So wird das nix mit der Titelverteidigung", schrieb ich nach dem Testspiel gegen Brasilien im 'Tagesanbruch' des 28. März. "Wenn das der aktuelle Leistungsstand der deutschen Nationalmannschaft gewesen sein soll, wäre es vielleicht besser, wenn Joachim Löw die Reise mit seinen Jungs nach Russland gar nicht erst antritt. Um sich ein 0:2 gegen Südkorea zu ersparen." Ich wünschte, ich hätte damals Unrecht gehabt.

Und nun? Schade, schade, schade. Aber erstens können wir jetzt ganz entspannt zuschauen, wie Ronaldo ein Ding nach dem anderen reinballert und wie England seinen zweiten WM-Titel erkämpft. Und zweitens war das gestern nur ein Fußballspiel – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Kein Grund, in diesem Land jetzt in kollektive Depression zu verfallen.

Sportlich muss sich allerdings eine ganze Menge ändern. Sagten viele t-online.de-Leser in unserer Live-Debatte. Und so kommentiert auch unser Nationalmannschaftsreporter Luis Reiß in seiner messerscharfen Analyse. Mich hat er jedenfalls überzeugt.

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WAS STEHT AN?

Entweder Bundestrainer Löw baut sein Team komplett um – oder er tritt zurück: Das ist die These meines Kollegen Luis Reiß. Klingt schlüssig. Und weil sie so schlüssig klingt, könnte man auf die Idee kommen, zwischen Fußball und Politik eine Parallele zu ziehen, den "Bundes-" vorne stehen zu lassen, aber dahinter statt des "-trainers" die "-kanzlerin" zu hängen. Wenn ich mir ansehe, welche Häme und welche Verachtung für die Regierenden gestern nach dem verlorenen WM-Spiel durch Facebook und Twitter geisterten, wird mir mulmig. Okay, der Gedanke scheint naheliegend: Hier eine in die Jahre gekommene Kickertruppe ohne Elan und Erfolg, dort eine seit Jahren vor sich hin regierende große Koalition, die ebenfalls den Schwung und die Geschlossenheit verloren hat. Warum nicht diese Truppe auch einfach austauschen?

Weil sich Politik und Fußball vollkommen unterscheiden. Weil diese Regierung nicht aufgestellt, sondern demokratisch gewählt wurde und sich per Eid verpflichtet hat, unser Land vier Jahre lang zu regieren. Weil diese Regierung zwar gegenwärtig ein jämmerliches Bild abgibt – aber die meisten Ministerien trotzdem fundierte Arbeit leisten. Siehe zum Beispiel die oben erwähnte Familienpolitik. Weil es in einer Welt der Trumps, Kims, Salvinis und Gaulands Augenmaß und Stabilität braucht und weil man einfach ein besseres Gefühl hat, wenn man morgens aufwacht und weiß: Da sind Leute, die haben den Laden einigermaßen im Griff. Ganz normal, ganz spießig, ganz beruhigend.

Mein Eindruck ist: Eine Mehrheit der Bürger wünscht sich dieses Gefühl. Die Kanzlerin und ihr Innenminister sollen die Flüchtlingspolitik endlich dauerhaft und verlässlich regeln, aber sie sollen nicht ihre persönliche Fehde in den Vordergrund stellen. Und auch nicht aus wahltaktischen Gründen einen Konflikt aufbauschen, der sich bei nüchterner Betrachtung ziemlich geräuschlos ausräumen ließe. Dafür bräuchte es allerdings Vertrauen zwischen den Kontrahenten, und das ist gegenwärtig erschüttert.

Horst Seehofers Auftritt gestern Abend bei "Maischberger" deute ich so, dass er bereit ist, das Vertrauen wieder aufzubauen: hart in der Sache, aber nicht abgeneigt, den Konflikt zu befrieden.

Angela Merkel hat heute die Chance, ihm ebenfalls einen Schritt entgegenzukommen: Am Morgen hält sie im Bundestag ihre Regierungserklärung zum Europäischen Rat und zum Nato-Treffen. Am Nachmittag fliegt sie nach Brüssel zum zweitägigen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs. Dort stehen gleich mehrere schwierige Themen auf der Agenda – Sicherheit und Verteidigung, die langfristige EU-Finanzplanung, die Reform der Eurozone, der Stand der Brexit-Verhandlungen – aber all diese Themen werden von der Flüchtlingspolitik überschattet. Die Kanzlerin braucht dringend einen Erfolg. Und seien es nur bilaterale Abkommen mit drei oder vier Staaten über die Rückführung von andernorts bereits registrierten Asylbewerbern. So könnte sie demonstrieren, dass sie das Heft noch in der Hand hat – und in der Sache klammheimlich Seehofers harte Linie übernehmen.

Das mag man ein schmutziges Geschäft nennen, aber so geht Politik.

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Was aber gar nicht geht, ist die Kurzsichtigkeit in der Debatte über Asylbewerber. Da zanken sich CDU und CSU bis aufs Blut über den richtigen Umgang mit derzeit wenigen Tausend Menschen an der deutschen Grenze – und tun zugleich viel zu wenig, um das Problem an seiner Wurzel zu bekämpfen.

  • Was geschieht denn, wenn Italien als Reaktion auf eine härtere deutsche Grenzpolitik Flüchtlinge nicht mehr registriert, sondern wie vor drei Jahren einfach so nach Deutschland weiterschickt? Was hat es Seehofer dann gebracht, auf der Zurückweisung bereits registrierter Asylbewerber zu beharren und dafür die gesamte Bundesregierung aufs Spiel zu setzen?
  • Meinen die Hardliner in der CSU wirklich, sie könnten Menschen einfach nach Afrika zurückschippern und dort irgendwo absetzen? Vielleicht haben Sie Texte wie diesen noch nicht gelesen.

Nein, für eine praktikable und langfristig wirksame Flüchtlings- und Asylpolitik braucht es mehr als Parolen und Polemik. Zum Beispiel dies:

  • Eine gemeinsame Haltung Europas und ein zwischen allen EU-Staaten abgestimmtes Asylrecht.
  • Kluge Entwicklungshilfe, wie sie der Chef der Welthungerhilfe kürzlich beschrieben hat.
  • Politische Abkommen, Geld und wirtschaftliche Anreize zur Stabilisierung der Transitländer wie Mali und Niger. Dafür müssten die Europäer aber mehr tun als das, was man aus Wüstenstädten wie Agadez hört.
  • Die EU müsste aufhören, den afrikanischen Kontinent mit subventionierten Lebensmitteln zu überschwemmen und die dortige Wirtschaft zu schwächen.
  • Brüssel müsste sich dafür einsetzen, dass europäischen Firmen die massenhafte Fischerei vor Westafrikas Küsten verboten wird.
  • Deutschland müsste ein Einwanderungsgesetz erlassen, das nach transparenten Kriterien und gegebenenfalls auch Quoten die Arbeitsmigration regelt und Integration zur Chefsache macht.
  • Und, und, und …

Kurz gesagt: Erst mal die Hausaufgaben machen, statt mit dem Kopf durch die Wand zu wollen.
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WAS LESEN?

Der erste Lesetipp kommt auch heute von einem Gast: Michael Ebert ist Chefredakteur des "SZ Magazins". Er schreibt: "Vor gut 30 Jahren wurde die Elefantenkuh Bibi in ihrer Heimat Simbabwe eingefangen und ins damalige Ost-Berlin verkauft. Die Bestellung hatte das Ministerium für Außenhandel der DDR aufgegeben, dem Zoologischen Garten im Westen wollte man in nichts nachstehen. Für das Tier begann ein Leidensweg, der bis heute andauert. Autor Patrick Bauer und Fotograf Mario Wezel haben das Leben der Elefantenkuh Bibi in einer großartigen Reportage im "SZ-Magazin" nachgezeichnet. Es ist eine Geschichte, die mich zu Tränen gerührt hat, voller Herz und Wut und Verstand, und sie war völlig zu Recht in diesem Jahr für den Theodor-Wolff-Preis nominiert."

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Von mir bekommen Sie auch noch einen Lesetipp: Im Jahr 1991 entdeckten Wanderer in den Ötztaler Alpen eine Sensation – eine gut erhaltene Gletschermumie, die schnell den Namen "Ötzi" erhielt. Vor mehr als 5.000 Jahren war der Mann einem Mord zum Opfer gefallen, bis heute untersuchen Forscher seinen Leichnam immer wieder und finden dabei immer neue Überraschungen. Jetzt kommt heraus: Ötzi war auch noch einer weiteren Bedrohung ausgesetzt. Unsere Archäologieautorin Angelika Franz weiß, welcher.

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WAS FASZINIERT MICH?

"Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt", sangen einst die Comedian Harmonists. Aber was ist, wenn man nicht singen kann und auch nicht hören? Aber trotzdem unbedingt ein Spiel bei der Fußball-WM miterleben will? Ja, dann braucht man wirklich gute Freunde. Der blinde und taube Brasilianer Carlos Junior hat sie.

Ich wünsche Ihnen gute Freunde.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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