Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Entwicklungspolitik Was wirklich gegen Armut und Flucht hilft
Europa zieht seine Grenzen hoch, um Flüchtlinge abzuwehren. Dabei wäre eine kluge Entwicklungshilfe in Krisenländern viel sinnvoller. Welthungerhilfe-Chef Till Wahnbaeck erklärt, was es dafür braucht.
Gerade komme ich aus der Zentralafrikanischen Republik zurück. Das Land ist eines der härtesten Pflaster der Welt. Von den 188 Ländern im Human Development Index belegt Zentralafrika Platz 188. 40 Prozent der Kinder sind mangelernährt, in einigen Regionen sind 70 Prozent der Frauen und Mädchen vergewaltigt worden. Strom gibt es nicht: Sobald Strommasten aufgebaut werden, sind am nächsten Morgen die Kabel geklaut, denn Kupfer ist wertvoll.
Im vergangenen Jahr war ich im Norden Äthiopiens. Dort haben mir Frauen weinend die Stelle gezeigt, an der Kinder aus dem Dorf verhungert sind. In Somalia war ich bei einer Nahrungsmittelverteilung, die eskalierte: Die hungrigen Empfänger wurden von den Unglücklichen, die leer ausgingen, mit Stöcken angegriffen. In einem Flüchtlingslager im Irak habe ich mit einer Yesidin gesprochen, die drei ihrer fünf Töchter bei sich hatte. Die anderen beiden waren verschwunden, vermutlich gefangen und missbraucht von den Kämpfern des "Islamischen Staates".
In Nordkorea habe ich mit einem Mädchen gesprochen, das so groß war wie meine zehnjährige Tochter, sich bei Nachfragen aber als 14-Jährige entpuppte. Mangelernährung. Korruption im Kongo, Krieg im Südsudan, Klimawandel in Ostafrika – die Liste der Krisen ließe sich endlos fortsetzen. Ich habe Menschen getroffen, die alles verloren haben, und Menschen, die nie etwas hatten. Die Welthungerhilfe, eine der großen deutschen Hilfsorganisationen, arbeitet in den größten Schurkenstaaten, inmitten der schlimmsten Naturkatastrophen, in den kaputtesten Gesellschaften.
Hier Maßlosigkeit, dort Hunger
Bei uns in Deutschland denken mehr als 90 Prozent der Bürger, Entwicklungshilfe komme eh nicht an: zu korrupt die Regime, zu maßlos die Gehälter der Entwicklungshelfer. Und während weltweit 815 Millionen Menschen hungern, kauft ein amerikanischer Hedgefonds-Manager zwei Bilder im Wert von einer halben Milliarde Dollar, wird ein Haus in London für 110 Millionen an einen Unternehmer verkauft, haben laut Oxfam 64 Menschen auf der Welt so viel Geld wie die Hälfte der gesamten Menschheit. Wer im Mai nach Sylt fährt, sieht die Schlange der Porschefahrer am Autozug, die den Sportwagen auf der Insel gegen den SUV vor dem Ferienhaus eintauschen, der dort 50 Wochen im Jahr geduldig auf seinen Besitzer wartet.
Trotzdem glaube ich, dass die Welt besser wird. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist ein Ende des Hungers zum Greifen nah. Ich glaube, wir werden die Generation sein, die ihn abschafft. Ich habe einmal eine interessante Definition von Optimismus gelesen: Optimist ist nicht, wer glaubt, dass alles gut wird. Optimist ist, wer alles dafür tut, dass es gut wird. Optimismus heißt nicht, dass die Welt gut ist. Er heißt, dass sie besser wird. Beides ist richtig: Die Welt ist schlecht, und sie wird besser. Oder in den Worten meines Hamburger Gemeindepastors Martin Hofmann: Verzweiflung ist einfach, für Hoffnung muss man sich schon etwas anstrengen.
Die Kindersterblichkeit sinkt rapide
Die Welt ist in der Tat besser geworden. Vor 200 Jahren lebten neun von zehn Menschen auf der Welt in absoluter Armut (also mit weniger als zwei Dollar am Tag). Heute ist es einer von zehn. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich der Anteil der Hungernden auf der Welt mehr als halbiert. Seit die Welthungerhilfe vor gut 50 Jahren gegründet wurde, ist die Kindersterblichkeit in Entwicklungsländern von über 20 Prozent auf unter 5 Prozent gesunken. Auch wenn jedes gestorbene Kind eines zu viel ist, jeder Arme in einer Welt des Überflusses eigentlich ein Hohn: Das sind große Erfolge und Beispiele dafür, dass die Welt besser wird.
Aber das liege ja nur am Aufschwung Chinas, und das Bevölkerungswachstum mache diese Erfolge ohnehin sofort wieder zunichte – das ist die übliche Antwort auf eine solche Weltsicht. Fakt ist: Auch außerhalb von China zeichnet sich ein ähnliches, wenn auch abgeschwächtes Bild ab. Die Welthungerhilfe gibt jährlich den Welthunger-Index heraus. In allen gemessenen Ländern hat es in den vergangenen 15 Jahren einen Rückgang des Hungers gegeben, in Afrika im Schnitt um 30 Prozent.
Und obwohl Bevölkerungswachstum in der Tat ein großes Problem ist: Seit den 1980er Jahren sinken die Geburtenraten weltweit; die Zahl der Kinder unter 15 Jahren wird laut UN bis zum Jahr 2100 konstant bleiben. Das Bevölkerungswachstum kommt von den Menschen, die heute schon geboren sind. Der Trend ist seit Jahren überall auf der Welt klar: Wenn das Einkommen steigt und Kinder nicht mehr die einzige Altersvorsorge sind, sinken Geburtenraten. Wenn weniger Kinder sterben, steigt zunächst die Bevölkerung. Aber nach einigen Jahren sinken die Geburtenraten, es kommt zu einem neuen Gleichgewicht.
Was wirklich hilft
Woran liegen diese Erfolge trotz aller Rückschläge? An Fortschritt und an wirtschaftlicher Entwicklung. An Menschen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und Teilhabe fordern. An politischen Rahmenbedingungen und an starken Institutionen.
Und, das ist meine These, es liegt auch an Entwicklungshilfe. Sie ist kein Allheilmittel und darf nicht an zu hohen Erwartungen ersticken. Zur Fluchtursachenbekämpfung taugt sie nur begrenzt: Von den 68 Millionen Flüchtlingen auf der Welt kommen 67 Millionen aus ihrem Land und ihrer Region gar nicht hinaus. Aber Fakt ist auch: Nur wenn wir vor Ort Perspektiven schaffen, bleiben die Menschen. Ich habe noch keinen Flüchtling kennengelernt, der gerne und freiwillig in die Ferne gezogen wäre. Wer vor Krieg flieht, dem kann Entwicklungshilfe nicht helfen – da braucht es politische Lösungen. Aber wer sich vor Hunger und Not aufmacht, der braucht Perspektiven, um zu bleiben. Und die kann Entwicklungshilfe schaffen.
Insofern führt gute Entwicklungshilfe nicht über Nacht zu weniger Flüchtlingen an deutschen Grenzen; das ist auch nicht ihre Aufgabe, und sie darf nicht zur Fluchtabwehr missbraucht werden. Aber ohne Entwicklungshilfe werden sich über kurz oder lang noch viel mehr Menschen auf den Weg zu uns ins vermeintliche Schlaraffenland machen: wenn sie nämlich in ihrer Heimat für sich und ihre Familie keine Perspektive mehr sehen. Die zu schaffen ist Aufgabe der Entwicklungshilfe, und das tut sie gut. Nicht immer, aber immer öfter: Entwicklungshilfe ist – trotz aller Rückschläge – eine Erfolgsgeschichte.
Hilfe zur Selbsthilfe
Entwicklungshilfe – oder besser Entwicklungszusammenarbeit – findet auf verschiedenen Ebenen statt. Auf der Makro-Ebene geben Regierungen des Nordens Ländern im Süden Budgethilfe. Auf der Meso-Ebene bauen staatliche Entwicklungsorganisationen wie die GIZ über Trainings und Regierungsberatung Wissen und Fähigkeiten auf. Auf der Mikro-Ebene arbeiten Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe direkt mit armen, ausgeschlossenen Menschen, Gruppen und Dorfgemeinschaften.
Wir sind soziale Dienstleister, wenn der Staat versagt, und wir fördern politischen Wandel, indem wir Menschen stärken, selbst starke Institutionen in ihrem Land zu erreichen. Erfolg für eine Hilfsorganisation ist in Krisensituation ganz einfach: Leben retten. Jedes Kind, das nicht verhungert, ist ein Erfolg unserer Arbeit. Aber unser Anspruch ist Hilfe zur Selbsthilfe. Hier muss es der Gradmesser des Erfolgs sein, dass sich zum Beispiel die Ernährungssituation verbessert – und das auch so bleibt, wenn wir Helfer uns zurückziehen.
Es gibt viele wunderbare Geschichten, die diesen Erfolg belegen: von der 40-jährigen Frau in Myanmar, die mir auf meine Frage, was sie noch von uns brauche, sagte: “Ihr habt uns wieder auf die Beine geholfen, jetzt kommen wir selbst zurecht – kümmert euch um andere, die es nötiger haben.“ Oder von einem alten Ehepaar in der Dominikanischen Republik, das auf seiner Veranda saß, vor ihm die Stromleitung ins Dorf, und sagte: “Ihr habt uns aus dem Hunger geholfen – und dabei, unsere Rechte einzufordern. Jetzt haben wir genug Kühe und den Anschluss ans Stromnetz.“ Oder die Bergbauern in Afghanistan, die früher Opium anbauten und heute Duftrosen für Rosenöl verkaufen, das an einen deutschen Kosmetikkonzern geliefert wird.
So sieht Erfolg aus
Ja, das sind anekdotische Erfahrungen. Um die Frage nach Erfolgen der Entwicklungshilfe wirklich zu beantworten, muss sich auch strukturell etwas verändern. Hier drei Beispiele:
- In Indien hat die Welthungerhilfe seit 2014 die sogenannte "Fight Hunger First Initiative" gestartet. Zunächst haben wir mit Partnerorganisationen die besten Ansätze gegen den Hunger identifiziert: Ernährungscamps, integrierte Landwirtschaft, der Aufbau von Institutionen und die Stärkung der Rolle der Frauen im Dorf. Dann haben wir mit sechs Partnerorganisationen diese Ansätze in fünf Staaten in die Breite gebracht. Das Ergebnis: Der Kleinwuchs bei Kindern ging von 60 Prozent auf 40 Prozent zurück, die Auszehrung durch Mangelernährung von 27 Prozent auf 19 Prozent.
- In Haiti haben wir ein ganzes Jahrzehnt unserer Projektarbeit auf den Prüfstand gestellt: alle Projekte im Nordosten des Landes zwischen 2000 und 2011, vor allem im Bereich Bewässerung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Durch bessere Hygiene und sauberes Wasser sind in allen Regionen die Durchfallerkrankungen stark zurückgegangen, die Ernährungssituation hat sich verbessert. Aber wir haben auch gelernt, dass die Strukturen oft nicht nachhaltig waren: Es gibt zu wenig demokratische Strukturen in Haiti, oft ist es bei der Abhängigkeit von Transferleistungen geblieben. Auch das gehört übrigens zu einem Reden über Erfolge: immer wieder kritisch zu sagen, wo wir an unsere Grenzen geraten und womit wir scheitern.
- Ein drittes Beispiel ist allgemeiner: Das deutsche Evaluationsinstitut hat 140 Projekte geprüft, die Wertschöpfungsketten verbessern wollen, also Kleinbauern Zugang zu besserem Saatgut, besserem Anbauwissen und lukrativeren Märkten verhelfen. Das Ergebnis hier: Beratung und Innovationen im Anbau führen zu Produktivitätssteigerungen und höherer Qualität, das führte zu mehr Einkommen, weniger Armut und höherer Ernährungssicherheit. Aber das funktioniert nur, wenn vor allem Frauen erreicht werden. Es ist nur dann nachhaltig, wenn Landrechte gewahrt und garantiert werden. So ist eine Aussage über Erfolge der Entwicklungshilfe immer zugleich eine Lehre über notwendige Rahmenbedingungen und Ansporn zum Lernen.
Wir brauchen mehr Fairness
Ich bekomme oft die Frage gestellt: Können wir die Erfolge wirklich immer genau einer Entwicklungshilfe-Maßnahme zuordnen? Die ehrliche Antwort: Nein, das können wir nicht. Oft sind Zusammenhänge so komplex, sind so viele unterschiedliche Akteure involviert, ist der Beitrag des Einzelnen so klein, dass immer das bleibt, was die Experten die “Attributionslücke“ nennen, also die fehlende Zuordnung von Ursache und Wirkung.
Aber wenn sich in Haiti durch unsere Projekte die Ernährungssituation um 50 Prozent verbessert, im Rest der Region aber nur um 13 Prozent, oder wenn der Kleinwuchs bei Kindern dank unseres indischen Projekts jetzt unter dem Landesdurchschnitt liegt, dann ist das aus meiner Sicht als Antwort gut genug. Es geht nicht darum, wer den Erfolg herbeigeführt hat (der Erfolg hat ohnehin viele Mütter, und in aller Regel sind das die betroffenen Menschen in ihrer Energie und Erfindungsgabe selbst), sondern dass es Erfolge gibt.
Mein Fazit: Die Welt ist nicht gut, aber sie wird besser. Entwicklungshilfe wirkt. Aber nur, wenn sich auch die Rahmenbedingungen ändern. Wir brauchen mehr Fairness: zwischen Nord und Süd im Bereich Handel. Zwischen Stadt und Land bei den Investitionen in ländliche Entwicklung, die von den eigentlich versprochenen "10 Prozent fürs Land" noch weit entfernt sind. Zwischen Alt und Jung durch Jobs für die 20 Millionen jungen Afrikaner, die jährlich auf den Arbeitsmarkt strömen. Und zwischen Mensch und Umwelt, denn wir im Norden tun so, als gäbe es vier Planeten, statt dem einen, auf dem wir alle leben. Die Antwort auf die Fragen nach Korruption, Bevölkerungswachstum und Leid auf der Welt ist immer dieselbe: Entwicklung.
Meine Reise nach Zentralafrika endete übrigens mit einer Diskussion mit meinen knapp vierzig Kollegen im Landesbüro, viele aus Zentralafrika, einige aus Europa, West- und Ostafrika. Auf meine Frage, ob unser Ziel "Null Hunger bis 2030, wo immer wir arbeiten", in ihrer Situation nicht naiv und weltfremd wäre, haben sie geantwortet: "Wir schaffen es nicht im ganzen Land. Aber mit etwas Stabilität: Ja, das Ziel können und werden wir erreichen." Wenn meine Kollegen in einem Ort wie Bangui, wo nachts die Kugeln fliegen, daran glauben, dann können wir es auch.
- Dr. Till Wahnbaeck ist seit Mai 2015 Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe. Der promovierte Historiker arbeitete in verschiedenen Führungspositionen in der freien Wirtschaft. Als Gründer einer Non-Profit-Unternehmensberatung und Leiter einer Bildungsstiftung zeigte er, dass man wirtschaftliche Tätigkeiten mit sozialem Engagement verbinden kann.