Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Juso-Kandidatin Rosenthal "Daran werden wir Scholz messen"
Sie will Kevin Kühnert als Chefin der Jusos beerben: Die Jungsozialistin Jessica Rosenthal erklärt im Gespräch, wie sie den Kapitalismus überwinden möchte – und was sie jetzt von Olaf Scholz erwartet.
t-online.de: Frau Rosenthal, hat sich Olaf Scholz schon bei Ihnen gemeldet?
Jessica Rosenthal: Nein, ich habe von Olaf Scholz bisher noch keinen Anruf bekommen.
Sie haben gesagt, Scholz müsse Angebote an die Jusos machen und Gespräche führen, wenn er ein guter Kanzlerkandidat werden wolle. Was muss er anbieten, damit Sie ihn unterstützen?
Die Partei hat sich in dem letzten Dreivierteljahr grundsätzlich neu aufgestellt. Wir haben ein neues Sozialstaatskonzept beschlossen mit der Abkehr von Hartz IV und einem garantierten Existenzminimum. Und wir stehen für Investitionen, das ist für meine Generation sehr wichtig. Wenn es das Schwimmbad um die Ecke nicht mehr gibt, kann dort niemand mehr Schwimmen lernen. Ich erwarte, dass sich diese Punkte in einem SPD-Wahlprogramm deutlich zeigen und Olaf Scholz sie offensiv vertritt.
Das ist aber wenig ambitioniert, weil es ja alles schon angestoßen ist.
Bei den Investitionen ist etwas erreicht worden, aber das genügt noch lange nicht. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir den Staat in einer anderen Rolle brauchen. Wir müssen eine ökologische Transformation der Industrie durch Investitionen möglich machen. Ich möchte, dass wir in Deutschland zwar kostenfrei den Nahverkehr nutzen, aber auch in zwanzig Jahren die besten und somit nachhaltigsten Autos bauen. Ich will, dass der Strom aus der Steckdose grün ist und trotzdem bezahlbar.
Das fordern ähnlich auch die Grünen. Was ist die sozialdemokratische Handschrift?
Wir achten darauf, dass sich die Menschen das alles leisten können. Wir haben eine Vermögensverteilung, die an eine Adelsgesellschaft erinnert. Die obersten zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung besitzen 67 Prozent des Gesamtvermögens. Das sind Zustände, die wir nicht akzeptieren können. Wir müssen Vermögen umverteilen. Und vor allem diejenigen, die jeden Tag arbeiten, müssen viel stärker profitieren als bislang.
Jessica Rosenthal ist 27 Jahre alt und arbeitet als Lehrerin an einer Realschule in Bonn. Dort ist sie auch Vizechefin der SPD. Die SPD-Jugendorganisation Jusos führt sie im wichtigen SPD-Land Nordrhein-Westfalen seit 2018 – und bewirbt sich jetzt um den Bundesvorsitz.
Ihnen schweben also offensichtlich eine Vermögenssteuer vor und ein Mindestlohn – in welcher Höhe?
Ein Mindestlohn muss rentenfest sein. Die vielfach genannten zwölf Euro reichen dafür nicht aus. Der Mindestlohn muss bei mindestens 13 Euro liegen. Und selbst das ist oftmals noch keine gerechte Bezahlung. Die Corona-Krise hat doch gezeigt: Die Menschen, die den Laden am Laufen halten, werden nicht ausreichend bezahlt. Das müssen wir dringend ändern. Da geht es um pure Glaubwürdigkeit der Politik, um gute Tarifverträge und einen auskömmlichen Mindestlohn.
Ist Scholz der richtige Kanzlerkandidat für ein solches Programm?
Wir sind keine Olaf-Scholz-Partei, keine Kevin Kühnert-Partei und keine Saskia-Esken-Partei, sondern die SPD. Wir haben als SPD grundsätzliche inhaltliche Entscheidungen getroffen und eine Richtung definiert. Das muss ein Kanzlerkandidat repräsentieren, das erwarte ich. Olaf Scholz hat bewiesen, dass er Krise kann. Auch, weil es vorher entsprechende Beschlüsse der Partei gab. Aber wir müssen im Wahlkampf auch klarmachen, dass wir eine Team-Partei sind und nicht nur eine starke Persönlichkeit haben.
- Reaktionen auf Scholz-Nominierung: "Das ist kein Aufbruch"
Hat sich Olaf Scholz in den letzten Monaten gewandelt?
Beim Konjunkturpaket hat er gezeigt, dass er sich geändert hat – genau wie die ganze Partei. Entscheidend ist für uns Jusos, welche inhaltlichen Angebote es gibt, wenn wir über das Wahlprogramm reden. Daran werden wir Scholz messen.
Die Parteispitze hat sich offen für ein rot-rot-grünes Bündnis gezeigt. Glauben Sie, dass die Grünen da mitmachen würden?
Die Grünen flirten sehr intensiv mit der Union – und andersrum. Wir wollen ein progressives Bündnis für dieses Land. Die Bremsklotzpolitik der Union muss enden. Dieses Ziel sehe ich bei den Grünen gerade nicht, auch wenn ich es mir wünschen würde.
Kann man mit der Linken regieren?
Für ein progressives Bündnis wird es nach heutigem Stand allein mit SPD und Grünen nicht reichen. Es ist deshalb richtig zu sagen, dass wir uns eine Koalition mit der Linkspartei vorstellen können. Es ist aber auch klar, dass es gerade in der Außenpolitik und in Europafragen schwierige Verhandlungen geben würde. Trotzdem ist es extrem wichtig, dass die gesellschaftliche Linke ein realistisches Politikangebot macht. Es geht auch darum, dem Rechtsruck etwas entgegenstellen. Hier muss die Linkspartei Eitelkeiten und fundamentale Positionen überwinden und sich die Frage stellen, ob sie dauerhaft in der Opposition bleiben will. In einem fortschrittlichen und progressiven Bündnis könnten wir eine Verbesserung der Lebensrealität für zig Millionen Menschen erreichen.
Heißt das auch, dass die SPD eine große Koalition ausschließen sollte? Um klarzumachen, dass eine linke Regierung ihr Angebot ist?
Für mich ist eine große Koalition keine Option. Entscheidende Probleme lassen sich mit der Union nicht lösen. Sie bremst, wo sie nur kann. Die Union sehnt sich nach Stillstand und wir nach Veränderung.
Lassen Sie uns über den Kapitalismus sprechen. Sie haben gesagt, Sie möchten ihn überwinden. Was heißt das genau?
Ich habe gesagt, dass ich den Kapitalismus überwinden möchte, der auf Ausbeutung beruht. Man muss keine zwei Semester Philosophie oder Volkswirtschaftslehre studiert haben, um zu wissen, dass die Erde ausgebeutet wird und die junge Generation den Preis dafür bezahlt. Und die Menschen werden ausgebeutet. Leistungsgerechtigkeit gibt es derzeit nicht in Deutschland. Entscheidend für das Vermögen, aber auch Möglichkeiten und Chancen im Leben ist nach wie vor, in welche Familie man geboren wird.
Aber was genau wollen Sie etwa in Unternehmen ändern?
Die Mitbestimmung der Angestellten muss ausgeweitet werden. Sie müssen die Entscheidungen des Unternehmens wesentlich stärker mittreffen dürfen. Dafür sollte man etwa Genossenschaften fördern. Gerade in der Energiewirtschaft gibt es da erfolgreiche Modelle. Die Profite eines Unternehmens dürfen nicht nur an die Eigentümer fließen, sondern an alle Beschäftigten. So lässt sich Ausbeutung verhindern.
Ist das für Sie auch eine Möglichkeit für große Konzerne?
(lacht) Wollen Sie jetzt hören, dass ich Mercedes verstaatlichen will?
So wie Kevin Kühnert damals BMW, zumindest wurde er vielfach so verstanden. Es gäbe ja noch ein paar andere deutsche Autobauer…
…nein, verstaatlichen werden Sie nicht von mir hören.
Können Sie den damaligen Aufschrei nachvollziehen?
Nein. Es ging ja auch nicht um eine Verstaatlichung, sondern um eine Vergesellschaftung. Die Mitarbeiter sollen endlich stärker vom Erfolg profitieren. Die Skandalisierung kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wir wollen nicht zurück in die DDR, die eine Diktatur war. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Es ist das Normalste der Welt, dass junge Menschen das Wirtschaftssystem in Frage stellen. Wir lassen uns nicht mehr mit Alternativlosigkeiten abspeisen. Ich erwarte, dass wir diese Debatte führen können. Es darf keine Denkverbote geben.
Was würden Sie als Juso-Chefin anders machen als Kevin Kühnert?
Kevin ist in einer Situation Bundesvorsitzender geworden, in der die SPD stürmische Zeiten durchlebt hat. Er hat standhaft unsere Position vertreten und ist zurecht als wichtige Stimme gehört worden. Für mich geht es jetzt um etwas anderes: Ich will die SPD weiterentwickeln und so aufstellen, dass sie für junge Menschen wählbar ist. Das ist mein Anspruch. Das will ich im Team aus vielen engagierten Jusos erreichen.
Wie mächtig sind die Jusos?
Ich würde eher von einflussreich sprechen. Einflussreicher als noch vor ein paar Jahren. Wir prägen die Debatten in der Partei mit. Und wir übernehmen an vielen Stellen politische Verantwortung, sowohl in den Gemeinden als auch auf Bezirks- und Landesebene. Das ist gut so, aber es muss noch weitergehen. Bei den NRW-Kommunalwahlen treten unfassbar viele Jusos an. Aber wir haben noch nicht ansatzweise genug junge Menschen in den Parlamenten. Jusos müssen auch bei Landtagswahlen und der Bundestagswahl auf aussichtsreiche Listenplätze. Die Zeiten, in denen wir nur Plakate kleben durften, sind lange vorbei. Wir werden den Verantwortlichen auf die Nerven gehen.
Wie viel schwerer hat man es als Frau heute noch in der Politik und in der SPD?
Wir sind in der SPD bei der Gleichstellung an vielen Stellen schon gut aufgestellt. Im Gegensatz zur CDU, das ist eine Farce. Aber auch wir sind mit der Gleichstellung noch längst nicht am Ziel. Nur ein Drittel der SPD-Mitglieder ist weiblich. Das kann ich nicht akzeptieren. Die lauten und prominenten Stimmen der Partei sind noch zu oft Männer und als Frau wird man oft viel stärker kritisiert oder in Frage gestellt. Da hat die SPD Nachholbedarf. Ich werde deutlich einfordern, dass Frauen zu gleichen Teilen Anteil an der Politik haben müssen.
Wie könnte man das erreichen?
Bei den Männern muss ein Gedanke im Vordergrund stehen: Muss ich das jetzt gerade selbst machen, muss ich mich hier präsentieren? Oder gibt es starke Frauen, die das genauso gut oder besser können? Diese Fragen stellen sich alle viel zu selten. Und wir müssen Frauen immer wieder aktiv ansprechen und bestärken. Das muss der Anspruch einer Gleichstellungspartei sein, die das Frauenwahlrecht eingeführt hat.
Sie arbeiten als Lehrerin in Nordrhein-Westfalen. Es geht jetzt nach den Ferien wieder los. Sind die Schulen dafür gerüstet?
In den Schulen selbst haben sich alle viel Mühe gegeben. Aber ich bin enttäuscht davon, wie die Debatte gelaufen ist. Ich glaube, niemand hat mit Schülerinnen und Schülern gesprochen, wie es ihnen geht. Zwei Drittel spüren psychische Belastungen. Es ging immer nur darum, dass Eltern wieder arbeiten können. Das ist natürlich wichtig. Aber im Vordergrund muss stehen, was Kinder und Jugendliche brauchen. Es gibt ein Recht auf Bildung, das wurde nicht stark genug gewichtet.
Was müsste passieren?
Wir müssen stärker in Bildung investieren. Es braucht mehr Räume und mehr Personal, damit die Klassen kleiner werden können. Das ist ja nicht nur in der Corona-Pandemie wichtig. Und die Digitalisierung muss endlich wirklich vorankommen. Es gibt an vielen Stellen immer noch keine Infrastruktur, damit Risikopatienten gut zu Hause mitlernen können. Wir dürfen es nie wieder so weit kommen lassen, dass Schulen flächendeckend, wochenlang geschlossen werden.
- Gespräch mit Jessica Rosenthal per Videotelefonie