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SPD-Chefs: "Ich kann niemandem empfehlen, jetzt alles wegzuwerfen"


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SPD-Chefs ziehen 100-Tage-Bilanz
"Es ging Schlag auf Schlag – auch mit kleineren Turbulenzen"


13.03.2020Lesedauer: 8 Min.
Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans: Die SPD-Chefs sind recht zufrieden mit ihrer 100-Tage-Bilanz – üben aber auch etwas Selbstkritik.Vergrößern des Bildes
Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans: Die SPD-Chefs sind recht zufrieden mit ihrer 100-Tage-Bilanz – üben aber auch etwas Selbstkritik. (Quelle: Robert Recker/t-online)

Sie waren als Aufrührer angetreten und sind nun in der Realität gelandet: Die neuen SPD-Chefs sind trotz holprigem Start optimistisch – und wollen trotzdem nicht Kanzlerkandidaten werden.

Nicht viele im politischen Berlin hatten auf sie gewettet – am Wochenende sind sie nun 100 Tage im Amt: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sind als neue SPD-Chefs angetreten, um die Partei umzukrempeln. Doch funktioniert das wirklich?

Im Gespräch mit t-online.de geben sie sich optimistisch, aber durchaus auch selbstkritisch. Sie erklären, warum die SPD immer noch in der großen Koalition ist – und warum sie nicht als Kanzlerkandidaten antreten.

Sie wollten als SPD-Chefs alles anders machen. So viel verändert hat sich aber nicht: Die SPD arbeitet weiter fleißig in der Regierung, liegt aber in den Umfragen abgeschlagen hinter Grünen und Union. Sind Sie zufrieden mit Ihrer Arbeit?

Saskia Esken: Wir haben eine ganze Menge Gründe, zufrieden zu sein. Ein ganz wichtiger: Die SPD hat die Abwärtsspirale in Umfragen gestoppt. Wir liegen jetzt bei 16 bis 17 Prozent und nicht mehr bei 12 bis 13 Prozent. Und die Zustimmung wächst. Ich höre zudem von den Mitgliedern, dass der andere Führungsstil und die andere Kommunikationskultur, die wir pflegen, sehr gut ankommen.

Norbert Walter-Borjans: Mit unserer Arbeit machen wir deutlich, dass die SPD eine eigene politische Kraft ist und nicht nur ein Teil der Bundesregierung. Die massiven Investitionen, die wir CDU und CSU geradezu abringen mussten, gehören ebenso wie nachträgliche Verbesserungen am Klimapaket zu den Zielen, die sich die SPD auf dem Parteitag vorgenommen hat und die wir konsequent und Schritt für Schritt auf die Tagesordnung setzen.

Das hört sich zwar gut an. Sie sind aber auch für das Versprechen gewählt worden, die große Koalition nur unter bestimmten Bedingungen fortzuführen. Das waren sehr klare Forderungen, jetzt stehen da viele Kompromisse. Was ist passiert?

Walter-Borjans: Dass Kompromisse zur Demokratie gehören, haben wir nie bestritten. Es wäre aber fatal, gleich zu Anfang mit einem Kompromiss oder einer zu weichen Position schon in die Verhandlungen zu gehen. Damit kann man kein gutes Ergebnis erzielen. Das haben wir in der Tat kritisiert. Davon abgesehen haben wir immer gesagt, dass es uns um Inhalte geht und nicht darum, aus Prinzip auf Forderungen zu pochen, um so die Groko verlassen zu können.

Esken: Wir haben vom Bundesparteitag den Auftrag erbeten und auch erhalten, in Gesprächen mit der CDU/CSU auszuloten, ob wir auf die drängenden Fragen dieser Zeit noch gemeinsam adäquate Antworten finden. Nachdem die CDU uns noch vor der Wahl klar signalisiert hatte, dass es nichts zu besprechen gäbe, befinden wir uns jetzt in Gesprächen, zu den von uns vorgetragenen Themen ebenso wie zu welchen, die aktuell aufgekommen sind.

Eines Ihrer Ziele war ein Mindestlohn von zwölf Euro. Nun wartet die Koalition wieder die Ergebnisse der Mindestlohnkommission ab, die prüft, wie er angehoben werden soll. Auf zwölf Euro dürfte sie nicht kommen. Um das zu erreichen, müsste die Politik doch jetzt stärker eingreifen.

Esken: Die Mindestlohnkommission wurde ja eingesetzt, damit die Anhebung nicht der Politik überlassen bleibt. Wir sehen aber jetzt, dass sie sich selbst in ihrer Entscheidungsfähigkeit beschränkt: Derzeit setzt sie nur die Lohnentwicklung als Maßstab. So könnte man die Mindestlohnfestlegung auch anhand einer Excel-Tabelle leisten. Wir haben der CDU/CSU im Koalitionsausschuss vorgeschlagen, die Kommission aufzufordern, ihren im Gesetz gegebenen Spielraum auszuschöpfen und als Kriterium einzubeziehen, ob der Mindestlohn einen Mindestschutz darstellt, ob er also zum Leben reicht. Das tut er aktuell nicht. Aber da gab es keine Gesprächsbereitschaft bei der Union – obwohl der CDU-Parteitag genau diese Forderung an die Mindestlohnkommission beschlossen hat. Wir werden da weiter Druck machen.

Im Mai legt die Kommission ihre Ergebnisse vor. Wenn es danach keinen Mindestlohn von zwölf Euro gibt, wie sie Ihn klar gefordert hatten: Verlassen Sie dann die große Koalition?

Esken: Es ärgert mich, dass es da so gar keine Gesprächsbereitschaft gibt bei der Union. Wir können auch als Sozialdemokratische Partei unseren Appell an die Mindestlohnkommission richten. Im Übrigen steht im Herbst die Evaluation des Mindestlohngesetzes an, und wenn wir als Gesetzgeber zu der Auffassung kommen, dass die gesetzlichen Anforderungen angepasst werden müssen, steht auch das auf der Agenda.

Walter-Borjans: Wir haben bewusst keine roten Linien gezogen und tun das auch jetzt nicht. Wir verhandeln hart, um möglichst viele Inhalte durchzusetzen. Wo das auch nach harten Verhandlungen am Ende nicht gelingt, reden wir das nicht schön. Stattdessen machen wir klar, an welchen Stellen wir noch mehr wollen. Aber wenn wir uns beim Mindestlohn in Richtung zehn oder elf Euro bewegen, wäre das doch ein guter erster Schritt.

Also ist die große Koalition doch gar nicht so schlecht?

Walter-Borjans: Na ja. Wenn man siebeneinhalb Stunden mit der CDU und CSU verhandelt, weiß man, was alles nicht geht in der großen Koalition. Wir sind zwar sehr zufrieden, dass wir uns am vergangenen Sonntag auf mehr Investitionen in den kommenden Jahren einigen konnten. Aber auch da wollte sich die Union nicht festlegen, die Finanzierung und damit die Planungssicherheit von Investitionen für die nächsten zehn Jahre zu sichern. Genauso gebremst hat sie beim Klima, wo wir die Kosten sozial gerechter abfedern wollen als bisher. Bei alldem ist klar: Es ist auf Dauer mehr nötig, als mit der Union gerade möglich ist. Aber ich kann niemandem empfehlen, jetzt alles wegzuwerfen, indem wir die Koalition verlassen. Dazu stecken noch zu wichtige Projekte im Rohr.

Aber haben Sie wirklich das Gefühl, dass das funktioniert: An der Macht zu sein – und gleichzeitig zu versichern, dass man eigentlich noch mehr will, wenn man könnte?

Walter-Borjans: Das ist ja der Vorteil, dass wir als SPD-Chefs nicht der Regierung und der Fraktion angehören: Wir können die Lücke zwischen dem Erreichten und dem Geforderten klarer benennen und begründen – gegenüber den Wählerinnen und Wählern wie unseren Parteifreundinnen und -freunden. Als Parteichefs können wir viel leichter Klartext reden als etwa SPD-Außenminister Heiko Maas, der als oberster deutscher Diplomat unterwegs ist, oder ein Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich, der das Zusammenspiel in der großen Koalition im Blick haben muss. Trotz gelegentlich unterschiedlicher Akzente stehen wir in engem Austausch mit Fraktion und SPD-Ministerien. Das funktioniert sehr gut.

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Das war aber nicht immer so. Gerade zu Beginn sind Sie auf Widerstand in der Fraktion und bei den SPD-Ministern gestoßen. Haben Sie das vorher unterschätzt?

Walter-Borjans: Keineswegs. Ich würde auch nicht behaupten, wir hätten eine fleckenlose 100-Tage-Bilanz. Eigentlich muss man diese Zeit in mehrere Abschnitte unterteilen.

Nämlich?

Walter-Borjans: Im Dezember mussten wir erst mal ankommen im Willy-Brandt-Haus. Dass wir den Mitgliederentscheid gewonnen haben, hat ja viele sehr überrascht im politischen Berlin, bei den Medien, aber auch in der SPD-Zentrale und andernorts. Da musste sich vieles erst mal einruckeln.

Esken: Wir hatten sehr viel zu klären und zu organisieren in dieser ersten Phase. Zwischen der Bekanntgabe des Ergebnisses und dem Parteitag lagen nur vier Tage, und an Schlaf war da kaum zu denken. Wir mussten und wollten uns in dieser Zeit mit vielen Akteuren abstimmen: Unser erster Gesprächspartner direkt nach dem Mitgliederentscheid war Olaf Scholz, und sehr schnell danach saßen wir mit dem amtierenden Parteivorstand, der Fraktionsspitze und den Regierungsmitgliedern zusammen.

Was gab es alles zu organisieren?

Walter-Borjans: Vor allem musste der Parteitag inhaltlich vorbereitet werden, aber wir brauchten auch ein Team. Erst Mitte Januar konnten wir uns allen Mitarbeitern vorstellen, schon vorher ging es Schlag auf Schlag – auch mit ein paar kleineren Turbulenzen.

Zum Beispiel?

Walter-Borjans: Wir haben nach dem Parteitag viele Vorschläge gemacht – so viele, dass manchmal die Erklärung zu kurz kam.

Wann begann dann die Phase zwei Ihrer 100 Tage?

Esken: Im Februar hat sich eine ganze Reihe erschreckender Ereignisse vor unsere geplante Agenda geschoben: Das Wahldebakel in Thüringen, der rechtsextremistische Anschlag in Hanau, aber auch die Eskalation im Syrien-Krieg. Wir haben uns in der Bewältigung dieser Situationen nicht nur in der Koalition bewährt. Wir sind auch als Partei zusammengewachsen, auch mit den wichtigen Akteuren in Fraktion und Regierung. Wir haben gezeigt: Die SPD ist das Bollwerk gegen rechts.

Walter-Borjans: Die SPD hat sich hier als Stabilitätsanker erwiesen – auch im Vergleich zur Zerrissenheit der CDU, die sich bei der fehlenden Abgrenzung gegen rechts in Thüringen gezeigt hat. Mittlerweile geht es in den Umfragen wieder bergauf. Noch sind wir nicht da, wo wir hinwollen. Es gibt keinen so krassen Hype wie vor drei Jahren bei Martin Schulz. Aber es geht vorwärts.

Sind Sie froh, dass es keinen zweiten Schulz-Zug gibt, keinen Hype?

Walter-Borjans: Absolut!

Esken: Ein gewaltiger Push bei den Umfragewerten bringt nichts, wenn sie danach wie ein Soufflé wieder zusammenfallen. Wir wollen das Vertrauen, das Zutrauen und den Zuspruch der Wählerinnen und Wähler lieber Stück um Stück wiedergewinnen, das ist nachhaltiger.

Nun sind die ersten 100 Tage ihrer Amtszeit fast rum. Haben Sie den Eindruck, die Partei im Griff zu haben?

Walter-Borjans: Es kommt darauf an, wie man "im Griff haben" definiert. Wir wollen nicht einfach vorgeben, was zu tun ist. Führungsqualität bemisst sich für uns nicht daran, in welchem Ausmaß wir anderen den Mund verbieten. Unsere Führung soll nicht dominant sein, sondern teamorientiert. Bei allem Teamspiel haben wir durchaus einen Führungsanspruch, zum Beispiel: Das Vorschlagsrecht für die Kanzlerkandidatur werden wir nutzen.

Die Partei soll also mehr streiten?

Esken: Ja, natürlich. Wir wollen die Konflikte offen auf den Tisch legen, und in den Sitzungen mit allen Beteiligten zu einem Ergebnis kommen, das möglichst viele mittragen können. Das auszuhalten und zu moderieren, auch darin zeigt sich Führungsstärke.

Wann wollen Sie entscheiden, wer Kanzlerkandidat wird?

Walter-Borjans: Wir wollen die Kanzlerkandidatur in diesem Jahr klären. Ein Kandidat oder eine Kandidatin muss ausreichend Zeit vor der Bundestagswahl haben.

Wird einer von Ihnen Kanzlerkandidat?

Esken: Wir sind angetreten, um die SPD als erkennbar und glaubwürdig sozialdemokratische, gestaltende Kraft in diesem Land sichtbar und stark zu machen. Diese Aufgabe ist groß genug, und ich habe keine darüber hinausgehenden Ambitionen.

Sie schließen eine Kanzlerkandidatur für sich selbst also aus?

Esken: Stand jetzt würde ich mich nicht um eine Kandidatur bewerben.

Und Sie, Herr Walter-Borjans?

Walter-Borjans: Kategorisch und für alle Zeiten darf man nichts ausschließen. Aber ich bin ebenso wie Saskia Esken nicht Parteichef geworden, um in weitere Ämter zu kommen. Ich strebe die Kanzlerkandidatur derzeit nicht an. Es geht mir um die Partei und die Rolle, die sie für dieses Land spielen muss. Die Sozialdemokratie ist wichtig.

Wer wird stattdessen Kandidat?

Esken: Wir sind der festen Überzeugung, dass die SPD eine ganze Menge Personen mit Potenzial hat, die die politischen Überzeugungen der SPD als Kandidaten ausstrahlen könnten. Wer es dann sein wird, wird sich am Ende der Überlegungen zeigen.

Und Sie beide entscheiden am Ende, wer es wird?

Esken: Wir haben das Vorschlagsrecht, aber entscheiden werden wir es gemeinsam. Es muss schließlich ein Kandidat oder eine Kandidatin für die ganze Partei sein.

Ein Name, der immer wieder fällt, ist der von Olaf Scholz. Kann er Kanzler?

Walter-Borjans: Olaf Scholz gehört ganz sicher zu den kompetenten und prominenten Politikern dieser Partei. Das gilt auch für andere. Am Ende kommt es auf die Frage an, ob man eine glaubwürdige Kombination aus politischem Programm und einer Person hinbekommt, die auch von den Mitgliedern getragen wird. Und diese Person werden wir in diesem Jahr präsentieren.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans in Berlin
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