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SPD sucht Vorsitzende: Die Hoffnung auf die Selbstentmachtung


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SPD hofft auf die Selbstentmachtung

Eine Analyse von Jonas Schaible

Aktualisiert am 04.09.2019Lesedauer: 8 Min.
Der TV-Unterhalter Jan Böhmermann erklärte in seiner Sendung "Neo Magazin Royale" seine Kandidatur: Am Ende durfte er aber nicht antreten.Vergrößern des Bildes
Der TV-Unterhalter Jan Böhmermann erklärte in seiner Sendung "Neo Magazin Royale" seine Kandidatur: Am Ende durfte er aber nicht antreten. (Quelle: Julia Hüttner/ZDF/dpa)
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Gerhard Schröder sagte einmal über die Riesterrente, was zur Beschreibung seiner Politik wurde: "Es ist notwendig und wir werden es machen. Basta!" Angela Merkels Stil zeichnet sich dadurch aus, dass sie auch ihn nie formuliert hat: warten, moderieren, schweigen. Wenig fordern und viel von anderen übernehmen. Umbruch nur, wenn es in der Welt schon knistert und knackt.

Aktuell gibt es einen neuen Stil, der sich über Länder und Lager schnell verbreitet. Annegret Kramp-Karrenbauer folgte ihm, Emmanuel Macron, Manfred Weber, Michael Kretschmer und sein glückloser SPD-Konkurrent Martin Dulig: Sie alle probieren es auf die Zuhörtour. Wer etwas werden will, hört zu. Wer etwas bleiben will, auch. Eine Zeit der Politik des offenen Ohrs ist angebrochen, und eine der dampfenden Teetasse.

Es ist die Steigerung der Bekenntnisse zu mehr direkter Demokratie und Volksabstimmungen in Sachfragen, ohne die schon lange keine Partei mehr auskommt. Dabei ging es darum, neben die repräsentative Politik einer repräsentativen Demokratie noch eine Säule der direkten Demokratie zu stellen. Jetzt geht es zunehmend darum, der repräsentativen Politik das Repräsentative an sich auszutreiben.

Aus einem eigenen Akteur wird ein Apparat

Zuhörpolitik bedeutet, möglichst direkt erreichbar zu sein, möglichst unmittelbar aufzunehmen, was Menschen denken und es dann möglichst unverstellt in Politik zu verwandeln. Repräsentative Politik ist nicht mehr so sehr eigener Akteur, der Handlungsfreiheit hat und eigenen Logiken folgt, sondern Apparat, der Bürgerwünsche verarbeitet. In diesem Verständnis ziemt es sich nicht mehr, Entscheidungen unter Repräsentanten zu treffen, im sprichwörtlich gewordenen Hinterzimmer. Auch nicht, wenn es um Personalien geht.

Als Ursula von der Leyen trotzdem anstelle der EU-Spitzenkandidaten in einem Großkompromiss als EU-Kommissionspräsidentin ausverhandelt wurde, war der Aufschrei groß. Vielleicht, weil das Misstrauen in etablierte Politik wirklich gewachsen ist. Vielleicht weil Politiker vom rechten Rand aus strategischen Gründen alle anderen "etabliert" nennen und diese Kategorie erst so populär gemacht haben, sodass heute "etablierte Politik" heißt, was früher "Politik" genannt wurde. Wozu auch Entscheidungen von Politikern im kleinen Kreis gehören.

Die SPD hat wie alle Parteien bisher in Führungsgremien ausgehandelt, wer als Parteichef oder neuerdings Chefin infrage kommt. Präsidium, Vorstand, Bundestagsfraktion, die Landesgruppen, die großen Landesverbände, das Willy-Brandt-Haus: Sie mussten überzeugt sein. Dafür gab es gute Gründe: Je besser jemand die Strukturen der Partei versteht, je mehr Menschen sie kennt, desto leichter kann einer oder eine sie organisieren und führen. Und die Partei behält so die Kontrolle über sich selbst: Sie kann verhindern, dass Usurpatoren, Demagogen und Scharlatane an die Spitze kommen. Zu dem Preis, dass Leute nach oben rutschen, an denen sich die Wähler schon Jahre vorher satt gesehen haben.

Folgerichtige Machtflucht

Weil dieses Entscheidungssystem zu Kontinuität neigt, weil es der SPD aber sehr schlecht geht und deshalb das Gefühl vorherrscht, sie habe einen Umbruch nötig, und weil Zuhörpolitik in Mode ist, hat sie sich auf ein eigenes Zuhörpolitik-Direktwahl-Experiment eingelassen.

Zum ersten Mal soll eine Doppelspitze aus Mann und Frau die Partei führen (vorgeschrieben ist das aber nicht). Zum ersten Mal treten gleich mehrere Kandidatenteams gegeneinander an. Es wird, wie es die CDU vorgemacht hat, Regionalkonferenzen geben, auf denen die Kandidatinnen und Kandidaten sich vorstellen, zuhören und Fragen beantworten sollen. Nur dass diesmal die Mitglieder vorentscheiden sollen, bevor formal der Parteitag den Vorstand wählen soll. Kandidaten mussten die Unterstützung von fünf Unterbezirken, einem Bezirk oder einem Landesverband haben, danach aber zählt nur noch die Mehrheit.

Diejenigen, die unter normalen Umständen infrage gekommen wären, also die Minister, die kommissarischen Parteichefs, die Stellvertreter, die erfolgreichen Ministerpräsidenten, wollen fast alle nicht: Malu Dreyer, Manuela Schwesig, Katarina Barley, Stephan Weil, Lars Klingbeil, Heiko Maas, Hubertus Heil. Die beiden letztgenannten sollen schließlich mit Vizekanzler Olaf Scholz, der schon abgesagt hatte, ausgeknobelt haben, dass er doch antreten soll, damit jemand aus der sogenannten ersten Reihe zur Wahl steht.

Alles gesagt, und auch schon von jedem?

Diese Machtflucht hat gewiss mit den Aussichten der Partei zu tun und auch mit dem unwürdigen Ende, dass sie der vorigen Vorsitzenden Andrea Nahles zugefügt hat, die sich nach allerhand Ranküne gleich ganz aus der Politik in die Eifel zurückzog. Die Machtflucht ist aber auch folgerichtig in einem Prozess, der die Gatekeeping-Funktion der Parteigremien und damit ihre Macht auflösen soll: Wo Misstrauen gegen die Mächtigen institutionalisiert wird, und wo kaum noch Macht ausgeübt werden muss, braucht es auch keine Machterfahrung.

So meldeten sich nach und nach Kandidatinnen und Kandidaten, die unter anderen Umständen keine Chance gehabt hätten: der Staatsminister im Auswärtigen Amt Michael Roth etwa mit der Landtagsabgeordneten Christina Kampmann. Der Fraktionsvize Karl Lauterbach und die Umweltpolitikerin Nina Scheer. Der Bundestagsabgeordnete Karl-Heinz Brunner. Die Parteilinke Hilde Mattheis zusammen mit Dierk Hirschel. Der stellvertretende Parteivorsitzende Ralf Stegner und die Vorsitzende der Grundwertekommission Gesine Schwan. Der frühere Finanzminister Nordrhein-Westfalens Norbert Walter-Borjans zusammen mit der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken. Acht Duos sind es am Ende, dazu Brunner als Einzelkandidat.

Vorstellen sollen sie sich auf 23 Regionalkonferenzen. Die CDU hielt vor einem Jahr acht Regionalkonferenzen mit drei Kandidaten ab. Gegen Ende war das meiste gesagt und auch schon von jedem. Was die SPD jetzt plant, wird viel ausführlicher und viel länger dauern. Selbst wenn der strikte Zeitplan eingehalten wird, dauert jede Veranstaltung zwei Stunden und 45 Minuten.

Einerseits lässt sich argumentieren, man könne nie genug sprechen. Und es sei positiv, wenn auch andere Politiker als sonst ihre Chance bekommen. Andererseits gibt es Gründe für Skepsis.

Plötzlich Primaries

Fast ein bisschen zufällig ist die SPD nämlich in ein Format gestolpert, das stark an das Vorwahlsystem in den USA erinnert. Dort treten aktuell mehr als 20 demokratische Bewerber an, um Präsidentschaftskandidat zu werden. Am Ende entscheiden die Wähler. Gerade der Vergleich mit diesen Primaries genannten Vorwahlen hilft, die zahlreichen potenziell weitreichenden Besonderheiten des Prozesses zu verstehen.

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In den USA ist klar, dass der Wahlkampf anderthalb bis zwei Jahre vor einer Wahl beginnt – was die Zeit für eigentliche Politik drastisch verkürzt. Die Kandidatinnen und Kandidaten der SPD, auch der Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz, der Staatsminister Michael Roth und die vielen Abgeordneten, werden wochenlang extrem eingespannt sein.

Durch den Auswahlprozess fallen immense Kosten an. Das Paket aus SPD-Sonderparteitag zum Groko-Eintritt plus Mitgliedervotum über den Eintritt plus sieben Regionalkonferenzen dazu – etwa vier Millionen Euro. Da ein SPD-Parteitag grob eine Million Euro kostet, bleiben also rund drei Millionen für Abstimmung und Regionalkonferenzen. Jetzt rechnet die Bundespartei offiziell mit 1,2 Millionen Euro, wenn es bei einem Wahlgang bleibt, und 1,9 Millionen, wenn es eine Stichwahl gibt.

Immense Zusatzausgaben

Für eine Partei, die seit Jahren Wählerstimmen und damit staatliche Fördermittel ebenso verliert wie Mitglieder und Mitgliedsbeiträge, sind das gewaltige Zusatzausgaben. Nicht zu gewaltig, sollten sie der Partei wirklich wieder auf die Beine helfen. Aber wenn das nicht so schnell geht? Zumal unwahrscheinlich ist, dass es sich um ein einmaliges Experiment handelt: Wer einmal die Entscheidung an die Mitglieder delegiert, wird sie nächstes Mal schwer wieder in die Parteigremien verlagern können. Es sei denn, der Zeitgeist wandelt sich.

Aber wie soll eine 10- bis 15-Prozent-Partei auf Dauer eine Struktur bezahlen, die es im Privatspendensystem der USA für die beiden großen Volksparteien gibt?

Dort ist angesichts des riesigen Aufwands für Wahlkampf ohnehin klar, dass Politik ein sehr teures Geschäft ist, das man sich leisten können muss. Kandidaten wenden viel Zeit dafür auf, Spenden zu sammeln, weil eine Partei diese Ausgaben selbst dann nicht stemmen könnte, wenn es eine Parteienfinanzierung gäbe wie in Deutschland – zumal eine Partei ja nicht dafür verantwortlich sein kann, die Kampagnen der einzelnen Bewerber zu bezahlen.

Fehlende Erfahrung, ungelenke Bewerbungen

In Deutschland sind die Möglichkeit der Spenden beschränkt, und so ziehen Bewerber los, die wenig Geld haben, keine Erfahrung mit dem Format und die anders als in den USA nicht auf eingeübte Strukturen zurückgreifen können: Externe Dienstleister, die beim Werben helfen, mit der Öffentlichkeitsarbeit und der Wähleransprache, gibt es in Washington zuhauf. In Deutschland fehlen sie und man merkt es einem Wettbewerb an, in dem Roth und Kampmann schon dadurch auffallen, dass sie in sozialen Medien wenigstens ein Logo haben.

Websites muss man kennen, um sie zu finden. Als Karl Lauterbach und Nina Scheer ihre Kampagne zum ersten Mal vorstellten, fing ein Mitarbeiter einzelne Journalisten im Eingangsbereich eines Bundestagsgebäudes ab, weil sich der Raum geändert hatte und niemand sonst in der Lage gewesen wäre, das noch zu kommunizieren. So wie zuvor überhaupt niemand auskunftsfähig war: die Büros nicht zu erreichen, das Willy-Brandt-Haus und die Fraktion nicht zuständig.

All das wirkt einigermaßen ungelenk, was nicht nur positive Aufmerksamkeit nach sich ziehen wird – und in Verbindung mit der Selbstentmachtung der Partei noch andere Gefahren birgt.

Gefahr der Übernahme

Das wurde deutlich, als vergangene Woche der Entertainer Jan Böhmermann in seiner ZDF-Sendung ankündigte, kandidieren zu wollen: Mit seinen Abertausenden Fans im Rücken, dem Geld, dem Team, einer eigenen Plattform mit riesiger Reichweite stampfte er eine professionelle Spaßbewerbung aus dem Boden. Er hatte zwar kein Parteibuch und keine Partnerin, aber ein Motto, einen Hashtag, eine Website und sehr viel neugierige Aufmerksamkeit. In einem offenen Vorwahlsystem sind das die wichtigsten Ressourcen.

Nun macht Böhmermann in seinen Shows stets den Eindruck, im Herzen überzeugter Sozialdemokrat zu sein und ohnehin überzeugter Demokrat. Er wäre kein übelmeinender Usurpator gewesen, hätte er es ernst gemeint. Aber seine kurze Einlage führte die Schwäche eines Systems vor, das die Partei ausschaltet und alles auf direkte Überzeugung der Massen setzt: Es ist anfällig für die Verführung durch die Berühmten, für die zugekaufte Professionalität der Reichen und für die Neuheit der Außenseiter.

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Sich vorzustellen, wie Böhmermann die Partei führt, regt die Fantasie stärker an als die Vorstellung, dass Olaf Scholz es tut, dazu muss man nicht einmal Vorbehalte gegen Parteikarrieren und kein Herz für Quereinsteiger haben. Das Extrembeispiel für einen zerstörerischen Entertainer-Usurpator ist Donald Trump. Der wäre nie Präsidentschaftskandidat geworden, bevor die Republikanische Partei die Entscheidung komplett in Vorwahlen ausgelagert hat, wie die Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem Buch "How Democracies Die" überzeugend herausarbeiten.

Oben offen – unten dicht

Um zu verhindern, dass Böhmermann, der gutwillige Usurpator ohne Parteibuch, eine echte Chance bekam, passierte Merkwürdiges, aber Folgerichtiges: Der Bezirksbürgermeister seines Wohnorts Köln-Ehrenfeld, der auch im Vorstand des Ortsverbands sitzt, sagte: "Der Herr kann machen, was er will, aber aufnehmen tun wir ihn nicht." So verlagert sich das Gatekeeping einer Partei, von der Spitze an die Basis, wenn sie überhaupt noch eines haben will: Aus einer Partei, in der jemand wie Böhmermann problemlos Mitglied werden konnte, aber nicht Parteichef, wurde eine Partei, in deren offenem Prozess jemand wie Böhmermann Parteichef werden könnte, aber nicht mehr Mitglied. Eine Partei kann nicht total offen sein, oder sie schafft sich ab.

Die Partei hat sich also einen Prozess konstruiert, der nicht nur immens zeitintensiv und teuer ist, sondern der sie in ihrer Funktion als Partei schwächt und dazu führen könnte, dass sie sich unten schließen muss, um oben offen zu bleiben, oder in Gefahr gerät, von Seiteneinsteigern übernommen zu werden. Das sind die Risiken und sie sind zahlreich.


Chancen gibt es freilich auch, bei aller Skepsis. So wurde Annegret Kramp-Karrenbauer wohl auch wegen ihrer Zuhörtour CDU-Chefin. Der kürzere, knappere Wettbewerb bekam aber der ganzen CDU nicht schlecht. Emmanuel Macrons Beliebtheitswerte stiegen nach seiner Zuhöroffensive. Michael Kretschmer hat gerade erst die AfD in ihrer Hochburg deutlich geschlagen – mit fantastischen Beliebtheitswerten. Das Zuhören kann also wirken. Das intensive Gespräch kann eine Partei beleben und Gram mildern. Vielleicht hilft es, wenn Politiker mit Erfahrung an die Spitze kommen, die aber nicht in der ersten Reihe standen. Und richtig ist auch, dass sich um die Zukunft nur sorgen muss, wer eine hat.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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