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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wahl der SPD-Chefin Alternativ-Kandidatin Lange: "Hartz IV gehört abgeschafft"
Ob mit oder ohne Chance, sie will etwas ändern: Simone Lange kandidiert um den SPD-Vorsitz. Im Interview erzählt sie, warum sie besser für den Posten geeignet ist als Favoritin Andrea Nahles.
Simone Lange ans Telefon zu bekommen, ist in diesen Tagen gar nicht so leicht. Die Oberbürgermeisterin von Flensburg, die auf ihrer Homepage damit wirbt, regelmäßig Kaffeekränzchen mit ihren Bürgern zu veranstalten, eilt momentan von Termin zu Termin, von Interview zu Interview. Sie ist die letzte übrig gebliebene Gegenkandidatin von Andrea Nahles im Kampf um den SPD-Parteivorsitz. Der wird am Sonntag von den Delegierten der Sozialdemokraten gewählt. Lange gilt eigentlich als chancenlos. Im Interview erklärt sie, warum sie ihre Kandidatur trotzdem durchzieht, warum sie sich nicht für mutig hält und was die SPD unter ihrer Führung als Erstes ändern würde.
Die 41-Jährige hat die Osterferien dazu genutzt, durch Deutschland zu touren. Wahlkampf an der Basis. Einige Ortsvereine hatten die Oberbürgermeisterin eingeladen. Sie, die Unbekannte, will von sich überzeugen. Kritiker werfen ihr vor, dass ihre Kandidatur ein reiner PR-Coup sei, sie sich in der Nord-SPD profilieren wolle. Auch das will sie im Interview mit t-online.de so nicht stehen lassen. "Das ist genau das Bild, das die Menschen von Politikern haben. Ich will anders sein", sagt sie.
Wir erreichen ihren Pressesprecher, das geplante Telefoninterview hat sich bereits um einige Stunden verschoben. "Ich habe Sie nicht vergessen. Halbe Stunde reicht Ihnen?", fragt er, "Wenn es geht, bitte kürzer. Wir müssen noch so viele Interviews abarbeiten." Dann also los.
Frau Lange, nach der Bundestagswahl und dem Eintritt in die große Koalition hat die SPD von "Erneuerung" gesprochen. Wie weit ist sie damit bisher gekommen?
Simone Lange: Wenn wir von Erneuerung sprechen, sind damit meist zwei Dinge gemeint: Die personelle und die inhaltliche Erneuerung. Meiner Meinung nach braucht die SPD vor allem eine inhaltliche Erneuerung. Doch mit der haben wir noch überhaupt nicht begonnen.
Bei welchem Thema hätte die SPD etwas Neues zeigen müssen?
Zum Beispiel bei der Agenda-Reform. Der amtierende Bundesvorsitze Olaf Scholz möchte die Agenda-Debatte am liebsten gar nicht führen. Das halte ich für einen großen Fehler. Ich kann nicht so tun, als hätte es diesen Teil der SPD-Vergangenheit nicht gegeben und halbgare Lösungen versprechen. Das geht nicht.
Wie würde Ihre SPD das Thema Agenda 2010 handhaben?
Hartz IV gehört abgeschafft. Es ist ein System, das darauf beruht, Menschen über Sanktionen und Bevormundung zu erziehen. Das funktioniert nicht. Wir müssen Systeme schaffen, die motivierend wirken und Menschen in Fortbildungen bringen, die sie machen wollen und nicht bei denen die Behörde sagt: Das darfst du machen und das nicht.
Wie müsste es stattdessen gehen?
Wir brauchen ein System, das Menschen belohnt. Wenn sie eine Fortbildung oder eine Ausbildung machen oder sich aktiv um einen Job kümmern. All das findet momentan nicht statt. Die Behörde schaut lediglich, welchen Job du kannst und welchen nicht. Doch das haben nicht Behörden zu entscheiden, sondern die Menschen. Sie sollen sich selbst entwickeln und ihr Leben bestimmen können.
Arbeitsminister Hubertus Heil sagte bereits: Irgendwann werde es Hartz IV nicht mehr geben.
Aber was bedeutet das? Ich sage es ganz deutlich: Wir müssen Hartz IV rückabwickeln. Wir müssen ein anderes und neues System aufsetzen und wir müssen bereit sein, die Sozialgesetzgebung grundlegend zu reformieren.
Während der Groko-Debatte war Kevin Kühnert das Gesicht der unzufriedenen SPD-Anhänger. Haben Sie seine Rolle jetzt übernommen?
Ich möchte vor allem das Gesicht für neue Inhalte sein und nicht für die Unzufriedenen. Ich möchte konstruktiv und produktiv die SPD verändern. So habe ich Kevin Kühnert auch wahrgenommen. Er war nicht das Gesicht einer Gruppe Unzufriedener – er hat eine Alternative aufgezeigt. Dann muss man natürlich schauen, ob diese Alternative innerhalb der Partei eine Mehrheit findet und ob man dann nicht diesen Weg einschlagen sollte. Kevin Kühnert hat viele neue Reize in die SPD gebracht. Deshalb finde ich es gut, dass er sich nach der Entscheidung für die Groko nicht gesagt hat: Jetzt ziehe ich mich zurück. Sondern dass er für seine Inhalte weiterhin steht und sie authentisch vertritt, auch wenn er erst mal keine Mehrheit für seine Positionen bekommen hat.
Auch ich bin eine Alternative. Die wird von den Mitgliedern aber auch gefordert. Die sagen nämlich mehrheitlich, wir müssen jetzt endlich über die Agenda-Politik sprechen. Ich bin offen, darüber zu reden und die richtigen Schlüsse aus unseren Fehlern zu ziehen. Und dann endlich die richtigen Lösungen voranzubringen.
Sie waren nicht die Einzige, die sich als Alternative zu Andrea Nahles aufstellen lassen wollte, aber Sie sind als Einzige übrig geblieben. Warum haben Sie die Kandidatur durchgezogen?
Ich habe meine Kandidatur von Anfang an ernst gemeint. Ich habe viele Einladungen bekommen und diese auch alle wahrgenommen. Mittlerweile war ich bei 19 Veranstaltungen und bin in jeder bestätigt worden. 88 Ortsvereine sagen, dass sie mich unterstützen. Dadurch fühle ich mich mehrfach motiviert in meiner Entscheidung, kandidiert zu haben. Ich stehe jetzt auch in der Verantwortung und deshalb bleibe ich dabei.
Sie gelten am Sonntag als chancenlos. Warum treten Sie trotzdem an?
Wer sagt, dass ich chancenlos bin?
Andrea Nahles hat die SPD-Spitze hinter sich, in Meinungsumfragen in den Medien führt sie ebenfalls. Bedeutet das nicht, dass Sie chancenlos sind?
Wenn man die Genossen fragt, ob Frau Nahles gewinnt, sagen sie: Ja, das sagen die Medien. Aber entscheidend ist, was die Delegierten am Sonntag sagen. Ich glaube, dass ich sie überzeugen kann. Deshalb sehe ich mich nicht als chancenlos an.
Sie sind Oberbürgermeisterin im beschaulichen Flensburg, jetzt stehen Sie deutschlandweit im Fokus. Kritiker sagen, Sie kandidieren nur, um sich in der Nord-SPD zu profilieren.
Das ist ein Bild von Politik, das viele Bürger haben: dass Politiker nur Dinge aus Kalkül tun. Ich möchte gegen dieses Bild ankämpfen. Ich will zeigen, dass es auch Menschen wie mich gibt, die etwas wegen der Sache tun. Es ist egal, wie groß meine Chance am Sonntag ist, es ist nur wichtig, dass ich überhaupt eine habe. Ich gehe ja schließlich auch das Risiko ein, zu verlieren. In einer Demokratie kann es bei Wahlen aber nur Gewinner geben. Am Sonntag hieße dieser: SPD. Sie zeigt nämlich, dass sie Wettbewerb kann, dass sie mehrere Köpfe hat, die wollen und können und diese sich nach einem Mehrheitsbeschluss auch wieder die Hand reichen und sagen: Alles klar, so wurde entschieden.
Seit mehreren Wochen machen Sie Wahlkampf an der Basis. Was für Rückmeldungen bekommen Sie für Ihre Kandidatur?
Die inhaltliche Rückmeldung ist, dass die Partei jetzt die richtigen Beschlüsse aus den Fehlern der Agenda-Politik fassen muss. Die Grundwerte der Partei müssen in den Mittelpunkt gestellt werden, sie muss ernsthaft Politik für die Menschen unseres Landes machen. Vor allem für die Menschen, die sozial benachteiligt sind. Das ist das, wofür die Sozialdemokratie seit 150 Jahren steht. Und das ist das, was ich von den Menschen auf den Veranstaltungen zu hören bekomme. Ganz viele waren einmal SPD-Mitglieder und haben der Partei in den letzten 15 Jahren den Rücken gekehrt. Aber man merkt, dass sie eigentlich Lust haben, eine SPD zu erleben, in die sie wieder eintreten würden. Deshalb sage ich: Wir müssen mit der Agenda-Politik aufräumen. Wir müssen richtige, soziale Politik machen. Wir müssen über den Sozialstaat sprechen. Wenn wir das tun, bin ich mir sicher, dass wir viele Menschen wieder für die SPD gewinnen können.
Inhaltlich haben Sie sich bislang mit einem betont linken Profil gezeigt. Was für eine Chefin bekommt die SPD mit Ihnen?
Sie würde mit mir eine Chefin bekommen, die auf der einen Seite einen Führungsanspruch hätte, aber auch offen für die Themen ist, die die Mitglieder bewegen. Wir brauchen offene Ohren und Arme in Richtung der Basis. Wir müssen uns aber auch umhören, was die Bevölkerung umtreibt, die zwar nicht SPD-Mitglied ist, aber für die wir trotzdem Politik machen. Aus beidem müssen wir zügig Beschlüsse und Umsetzungsstrategien entwickeln. Wir dürfen nicht noch jahrelang in Debattierklubs verfallen, sondern müssen handeln.
Bei der Wahl am Sonntag werden Ihnen und Frau Nahles zehn Minuten Redezeit gewährt, damit Sie sich vorstellen können – wenig für jemanden wie Sie, die bundesweit nicht ständig in den Schlagzeilen ist. Auch auf der Homepage der SPD fanden Sie lange Zeit nicht statt. Deshalb haben Sie den Umgang mit Ihrer Kandidatur beim Sonderparteitag scharf kritisiert. Sie sagten: Das sei das momentane Gesicht der SPD. Was ist das für ein Gesicht?
Da muss ich etwas ausholen und zum Auslöser für meine Kandidatur kommen: Eine SPD, die hinter verschlossenen Türen die Vorsitzfrage klären wollte, ist nicht die SPD, die wir heute brauchen. Wir brauchen eine SPD, die sich öffnet, die nicht nur bei der Groko ihre Mitglieder befragt, sondern auch beim Führungspersonal. Schließlich geht es um das höchste Amt in unserer Partei, das von der gesamten Partei und nicht nur von der Führung getragen werden sollte. Da gibt es ein Ungleichgewicht. Eine solche Wahl in einer kleinen Gruppe hinter verschlossen Türen mal eben so zu klären, wie dies nach dem Rücktritt von Martin Schulz geplant war, zeugt nicht von großer innerparteilicher Demokratie. Das ist das aktuelle Gesicht der Partei und das möchte ich verändern.
Inwiefern?
Ich möchte Demokratie ernsthaft leben und nicht erst durch eine Kandidatur wie meine erzwingen müssen. Das Gleiche betrifft natürlich auch Verfahrensweisen bei so einer Wahl. Ich hatte zwischendurch vom Bundesvorstand mitgeteilt bekommen, wie der Parteitag ablaufen soll. Er schlug vor, beiden Kandidatinnen nur zehn Minuten Vorstellungszeit zu geben. Das ist keine Öffnung, das ist eher ein "Ich schließe mich". Auch das möchte ich ändern. Bei meinen Reisen habe ich oft gehört: Wir danken dir für deinen Mut. Tausendfach. Aber was habe ich eigentlich gemacht? Ich habe einen Brief, ein Bewerbungsschreiben geschrieben. Das ist doch noch nicht mutig. Mutig ist jemand, der Leben rettet. Aber wenn kandidieren schon als mutig gilt, ist das auch ein Zeichen dafür, wie die Demokratie innerhalb der SPD momentan angesehen wird.
Die SPD-Führung sagt, es brauche Ruhe, um die notwendigen Reformschritte innerhalb der SPD anzugehen. Stören Sie mit Ihrer Kandidatur nicht diese Ruhe?
Wenn Demokratie eines nicht braucht, dann ist das Ruhe. Demokratie ist Bewegung. Wir haben Angela Merkel jahrelang dafür kritisiert, dass sie alles "in Ruhe" getan hat. Nein, wir brauchen Unruhe und eine lebendige Partei und keine, die vor sich hin dämmert. Die Mitglieder sind nach den vielen Wahlkämpfen ein Stück weit erschöpft. Aber ich merke auch, dass sie trotzdem Lust haben auf Lebendigkeit in der Debatte und in der Auseinandersetzung. Dazu gehört auch, dass wir bestimmen, wann wir Debatten führen, aber auch entscheiden, wann wir sie wieder beenden. Und mit welchen Beschlüssen wir dann tatsächlich an die Umsetzungen gehen.
Politische Debatten gibt es momentan einige: Hartz IV, Islam-Kritik, Familiennachzug. Nur: die werden alle von der Union dominiert, die SPD reagiert lediglich. Was müsste die SPD tun, um selbst einmal eine solche Diskussion anzuführen?
Die Ruhe bringt uns genau da hin. Die SPD müsste zum Beispiel den Anspruch haben, Meinungsführer beim Thema Sicherheit zu sein. Das Thema können wir doch nicht einfach an die CDU abgeben. Wir definieren Sicherheit ganz anders als die Konservativen. Aber wenn wir Meinungsführer sein wollen, kann man nicht Ruhe verordnen, sondern es muss in der Partei darüber gestritten werden. Wir müssten Sicherheit definieren. Wir müssten sagen, wie wir den Menschen ein sicheres Leben garantieren. Dass ihre Renten sicher sind, dass ihre Einkommen gesichert sind, sie müssen sicher sein, dass wir in der technologischen Entwicklung Schritt halten. Das wiederum mündet in das Thema Energiepolitik und Klimapolitik. Da sind mir ja fast die Füße eingeschlafen, als ich mir den Koalitionsvertrag angeschaut habe. Energiewende kann der Wirtschaftsfaktor in Deutschland sein. Die SPD muss erklären, wie sie gelingen kann.
Wie kann Sie gelingen?
Indem wir Energiewende als etwas begreifen, das in allen Ressorts stattfindet und nicht nur im Umweltministerium. Sie hat in Schulen stattzufinden und selbstverständlich auch in der Wirtschaft, denn hier können zahlreiche neue Jobs geschaffen werden. Dann müssen wir auch nicht mehr dafür kämpfen, dass Jobs in Kohlekraftwerken erhalten bleiben, sondern können den Mitarbeitern dort neue Perspektiven aufzeigen. Doch auch hier hat die SPD das Thema an die Grünen abgegeben.
Wenn Sie tatsächlich die neue SPD-Vorsitzende würden, was wäre das Erste, das Sie machen?
Als Allererstes würde ich mit Andrea Nahles einen Kaffee trinken gehen.
Das hatte im Vorfeld der Wahl nicht geklappt. Frau Nahles sagte, weil Sie nicht konnten, Sie sagen, weil Sie nach der Einladung nichts von der Parteiführung gehört haben?
Genau. Aber bei einem Kaffee würde ich sofort die Zusammenarbeit mit ihr besprechen. Sie ist schließlich Fraktionsvorsitzende und selbstverständlich will ich als SPD-Chefin mit ihr eine starke Doppelspitze im Sinne der Sozialdemokratie bilden. Und natürlich würde ich mit dem Parteivorstand genau die Dinge umsetzen, die ich hier bereits angesprochen habe. Ich möchte Basiskongresse, ich möchte noch in diesem Jahr ein Strategietreffen der Sozialdemokratie in Europa durchführen. Denn wir erneuen uns ja nicht nur in Deutschland, sondern müssen uns in ganz Europa erneuern. Und natürlich würde ich gerne ein neues Verfahren finden, wie wir künftig den Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahlen aufstellen können. Dabei soll nicht mehr von oben ein Kandidat ausgesucht werden, so wie in den letzten Jahren. Wir haben ja bereits gemerkt, dass das nicht sonderlich gut funktioniert hat.
Gewinnt Andrea Nahles, gäbe es vielleicht auch einen Kaffee. Würden Sie ihr bei einer Tasse sagen, dass Sie sie für eine gute Wahl als Parteichefin halten?
Das muss man an ihren Arbeitsergebnissen sehen. Die Vorschusslorbeeren kann ich ihr momentan nicht gewähren. Sie war schon einmal Generalsekretärin und hat schon mehrfach die Erneuerung in der SPD ausgerufen. Sie hatte also schon eine, wenn nicht gar zwei Chancen und es hat nicht geklappt. Deshalb sehe ich sie als SPD-Chefin sehr kritisch.
Frau Lange, vielen Dank für das Gespräch.