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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Geplante Angriffe bei der EM? "Noch nie so viele Festnahmen erlebt"
In der nächsten Woche startet die EM im eigenen Land, doch neben Vorfreude gibt es auch Sorge um die Sicherheit. Ein Experte erklärt, welche Gefahren während des Turniers drohen.
Spätestens seit dem Messerangriff in Mannheim diskutiert Deutschland erneut über islamistische Gefährder und den Umgang mit ihnen. Auch wenn der Mann ein Einzeltäter war, ist die Sorge vor Anschlägen hierzulande gestiegen – vor allem in Hinblick auf die anstehende Fußball-Europameisterschaft, die am kommenden Freitag beginnt.
"Die Sicherheitslage ist angespannt", räumte auch Innenministerin Nancy Faeser in dieser Woche ein. Insbesondere die zahlreichen Verhaftungen von Mitgliedern des afghanischen IS-Ablegers "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) in den vergangenen Monaten zeigen, dass Deutschland weiterhin im Fokus von Terroristen steht. Terrorismus-Experte Hans-Jakob Schindler erklärt im Gespräch mit t-online, wie sicher die EM wird und welche Gruppierungen noch zur Gefahr werden könnten.
t-online: Herr Schindler, wie bewerten Sie die Sicherheitslage für die anstehende EM in Deutschland?
Hans-Jakob Schindler: Es gibt eine komplexe, angespannte Sicherheitslage. Aber das Gute ist, die Behörden wissen dies schon seit Längerem. Denn die Entwicklungen gibt es nicht erst seit der vergangenen Woche. Wir erleben schon seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres eine neue Sicherheitslage. Denn aus verschiedenen Gründen sind alle möglichen extremistischen und terroristischen Kreise aktiver als vorher.
Für die EM wurden deshalb diverse Sicherheitsmaßnahmen angekündigt, zum Beispiel soll es Kontrollen an allen deutschen Grenzen geben. Wie schätzen Sie die getroffenen Maßnahmen ein?
Es gibt quasi keine andere Möglichkeit, als es so umzusetzen. Denn Deutschland hat den Vorteil, nun aber auch den Nachteil, sich inmitten des Schengenraums zu befinden. Und die einzigen wirklichen EU-Außengrenzen sind die Einreisetore der nationalen Flughäfen. Alles andere wären Einreisen ohne jegliche Kontrolle. Also muss man temporär die Kontrollen wieder einführen – schlicht und ergreifend, um festzustellen, wer überhaupt im Land ist und wer nicht.
Zur Person
Hans-Jakob Schindler ist Senior Director der gemeinnützigen internationalen Organisation Counter Extremism Project (CEP). Sie verfolgt das Ziel, der Bedrohung durch extremistische Ideologien entgegenzuwirken. Bis 2018 war Schindler Chefberater des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu unterschiedlichen Terrorgruppen und der Entwicklung der globalen terroristischen Bedrohung.
Welche Gruppierungen stellen dabei eine besondere Bedrohung dar?
Die Hamas fordert ihre Unterstützer seit dem 7. Oktober konstant zu ideologischen, auch gewaltorientierten Aktionen auf – teilweise unterstützt von der ganz extremen Linken. Das darf man nicht unterschätzen. Und dadurch, dass wir seit Oktober in der Öffentlichkeit primär über die Hamas, die Hisbollah und die Huthis diskutieren, fühlen sich der IS und Al-Qaida unter Druck gesetzt, wieder aktiver zu werden. Denn nur so sehen Sympathisanten und Geldgeber, dass sie noch Relevanz als Terrororganisation haben.
Vor allem der IS mit seinem afghanischen Ableger ISPK war in den vergangenen Monaten sehr präsent, insbesondere durch den Anschlag auf den Moskauer Konzertsaal. Nun hat diese Gruppierung in der eigenen Propagandazeitschrift "Voice of Khorasan" mit Anschlägen gedroht. Wie besorgniserregend ist das?
Sie haben dort explizit die Städte Dortmund, München und Berlin genannt. Der ISPK wird in diesen Städten sicher keine komplexen Anschläge wie Moskau planen. Denn keine Terrororganisation kündigt das vorher an. Aber die Anzeige ist der Aufruf an die Unterstützer und Sympathisanten, irgendetwas zu tun. Zum Beispiel ein Messerangriff wie in Mannheim in der vergangenen Woche.
Seitdem ist die Diskussion um die Sicherheit in Deutschland wieder deutlich präsenter. Welche Gefahr geht durch solche Einzeltäter für die anstehende EM aus?
Der Angriff in Mannheim ist im Vergleich mit dem Moskauer Attentat relativ klein. In der öffentlichen Wirkung macht es aber keinen großen Unterschied, ob wir einen oder 20 tote Polizisten haben. Das Ziel von Terrorismus ist es, Öffentlichkeit zu erzeugen und die Politik unter Druck zu setzen. Wir erleben die Diskussion seit dem Vorfall in Mannheim.
Was genau meinen Sie?
Alle werfen sich gegenseitig Versagen vor und alle werden beschuldigt. Das genau ist es, was die Terroristen erreichen wollen. Dazu brauchen sie keine 137 Tote wie in Russland. Dennoch bin ich gelassen, was die EM angeht, aber Vorfälle wie in Mannheim sind schwer zu verhindern.
Worauf konzentrieren sich denn die Sicherheitsmaßnahmen bei einer solchen Gemengelage?
Man muss viel genauer hinschauen. Das wurde offenbar getan. Es gab in Deutschland in den vergangenen Monaten sehr viele Verhaftungen wegen Terrorverdachts, vor allem von IS-Mitgliedern. Dazu kommen internationale Kooperationen, die bei allen Welt- und Europameisterschaften Standard sind. Man redet also schon seit langer Zeit mit allen teilnehmenden Nationen über das Konzept. Alle Nationen werden zudem Verbindungsbeamte in das Lagezentrum schicken. Die Leute bringen Sprachkenntnisse und direkte Verbindung in ihr Heimatland mit in die Zentrale. Deutschland ist also gut vorbereitet.
- Terrorgruppe "hat einen Strategiewechsel vorgenommen": Lesen Sie hier ein Interview von Hans-Jakob Schindler zum ISPK
Wie bewerten Sie grundsätzlich die Arbeit der deutschen Behörden im Hinblick auf die Sicherheit bei der EM?
Ich habe den Eindruck, sie arbeiten sehr sauber. Ich habe in Deutschland noch nie so viele Festnahmen einer einzelnen Gruppe in so kurzer Zeit erlebt. Das ist beängstigend, zeigt aber auch, dass man offensichtlich sehr viel mehr Hilfe vom Ausland bekommt als noch im vergangenen Jahr.
Nun sind Stadien als geschlossener Raum mit strengen Sicherheitskontrollen leichter zu schützen als offene Fanmeilen. Wie kann dort für Sicherheit gesorgt werden?
Die Fanmeile in Berlin ist bereits seit zwei Wochen komplett abgesperrt, sodass dort nichts platziert werden kann. Ich gehe davon aus, dass diese Absperrungen nicht verschwinden werden. Im Gegensatz zu 2006 wird man wohl keinen freien Zutritt zur Fanmeile haben und es wird sehr wahrscheinlich Zugangskontrollen geben. Denn große Sprengstoffanschläge kann man nur so verhindern.
Wie kann ein Zugang zu den Fanmeilen aussehen?
Ich plädiere für das Konzept des Eurovision Song Contests in Schweden. Dort durften alle zu den öffentlichen Veranstaltungen kommen, aber keine Tasche mitbringen. Das verhindert, dass große Messer, Waffen oder Sprengstoffmaterialien auf die Veranstaltung kommen. Und es macht auch die Personenkontrolle deutlich einfacher. Dann ist auch niemand verärgert, weil er eine halbe Stunde anstehen muss.
Die Gefahr eines Angriffs aus der Luft besteht dennoch weiterhin. Wie groß ist die Gefahr eines Drohnenangriffs?
Das ist natürlich ein Problem. Stürzt eine Drohne mit einem kleinen Sprengsatz in einer Menge von 100.000 Menschen auf der Berliner Fanmeile ab, stirbt zwar wahrscheinlich niemand durch die Bombe. Aber es entsteht eine Panik, die sehr gefährlich werden kann.
Welche Möglichkeiten gibt es, um solche Vorfälle zu verhindern?
Man muss den Himmel über den Stadien, aber auch über den Fanmeilen für Drohnen sperren. Dazu gibt es elektronische und physische Maßnahmen. Und ich habe gehört, dass man dafür bereits eine Lösung gefunden hat. Das heißt, wir sind so gut geschützt, wie es geht. Aber es gilt wie bei allen Großereignissen: Man muss ein bisschen wachsamer sein.
Es gibt allerdings nicht nur die islamistische Bedrohung. Droht auch Gefahr aus anderen Lagern?
Die Gewaltbereitschaft der rechtsextremen Szene hat in den vergangenen Jahren nicht nachgelassen. Die wird die Europameisterschaft auch als Möglichkeit sehen, sich in der Öffentlichkeit zu inszenieren. Erst vor ein paar Wochen haben die ersten sogenannten "Active Clubs" in Deutschland eröffnet.
Erklären Sie das bitte.
Das ist die neue rechtsextreme Strategie aus den USA. Dort bereiten sich rechtsextreme, gewaltorientierte weiße Männer auf den Tag X vor, an dem die Gesellschaft nach ihrer Ansicht zusammenbrechen soll. Laut der Strategie sollen sie sich zwar durch Kampftraining auf diesen Tag X vorbereiten, aber keine politischen Symbole verwenden, damit sie nicht die Aufmerksamkeit der Polizei und Sicherheitsbehörden erregen. Ihr Vorbild ist die Sturmabteilung (SA) der Nazis. Seit Mai gibt es in Deutschland mehrere "Active Clubs". Als Teil dieser "Vorbereitung" suchen die Mitglieder auch nach Möglichkeiten, außerhalb des Trainings zu kämpfen. Und dafür bietet eine Schlägerei bei einer Europameisterschaft die ideale Übungsplattform. Von dieser Seite sind aber eher keine Anschläge zu erwarten.
Bei Fußballspielen treten auch Hooligans in Erscheinung. Was ist von denen zu erwarten?
Die fiebern schon länger auf die EM hin. Auch deren Einreise soll mit den Grenzkontrollen verhindert werden. Aber es gibt Dinge, die man als liberales Land nicht unterbinden kann. Aber ich weise darauf hin, dass zum Beispiel bei der Weltmeisterschaft in Russland 2018 die Hooligan-Situation in einem Polizeistaat in einigen Städten komplett außer Kontrolle geraten ist. Mehr Polizei und noch mehr Überwachung bieten also keine hundertprozentige Sicherheit.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schindler.
- Interview mit Hans-Jakob Schindler