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Grünen-Chefin Ricarda Lang: "Wer jetzt nicht besorgt ist, der ist naiv"


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Grünen-Chefin Ricarda Lang
"Das lässt mich fassungslos zurück"


Aktualisiert am 16.07.2022Lesedauer: 7 Min.
Ricarda Lang: Die Grünen-Chefin setzt sich dafür ein, dass es im Herbst ein neues Entlastungspaket gibt.Vergrößern des Bildes
Ricarda Lang: Die Grünen-Chefin setzt sich dafür ein, dass es im Herbst ein neues Entlastungspaket gibt. (Quelle: Janine Schmitz/photothek.de/imago-images-bilder)

Wer soll das nur alles bezahlen? Grünen-Chefin Ricarda Lang über steigende Preise, notwendige Entlastungen und die Atomenergie.

t-online: Frau Lang, wann waren Sie das letzte Mal einkaufen?

Ricarda Lang: Das ist schon eine Weile her, weil ich gerade wenig zu Hause bin.

Das heißt, die steigenden Preise haben Sie an der Kasse noch gar nicht selbst erfahren?

Doch, natürlich. Das merkt man ja auch beim Bahnhofsbäcker.

Ein Ende der Preissteigerungen ist bisher nicht abzusehen. Wie sollen Menschen das bezahlen, die nicht so viel Geld verdienen?

Ich weiß, dass sich viele große Sorgen machen. Die steigenden Preise betreffen alle. Aber es gibt diejenigen, die das finanziell aushalten können, zu denen würde ich mich zählen. Und es gibt diejenigen, die nicht mehr über die Runden kommen. Diesen Menschen werden wir unter die Arme greifen müssen.

Wann?

Im Herbst und Winter werden viele die höheren Gaspreise sehr deutlich spüren und ich bin mir sicher, dass wir dann auch weitere Entlastungen beschließen werden. Wichtig ist, dass wir diejenigen zielgerichtet entlasten, die es am härtesten trifft: Geringverdiener und Sozialleistungsbezieher.

Ricarda Lang, 28 Jahre alt, steht seit Februar 2022 mit Omid Nouripour an der Parteispitze der Grünen. Lang ist Tochter einer alleinerziehenden Sozialarbeiterin, trat mit 18 Jahren der Grünen-Jugend bei und wurde 2021 in den Deutschen Bundestag gewählt. Ihre politischen Schwerpunkte sind Klimapolitik und soziale Gerechtigkeit.

Haben Sie denn das Gefühl, dass die schon beschlossenen Entlastungen bisher so ankommen, wie sich die Ampel das gedacht hatte?

Viele der insgesamt 30 Milliarden Euro an Entlastungen kommen erst noch bei den Menschen an. Die Energiepreispauschale im September zum Beispiel. Wir haben gezeigt, dass wir niemanden alleine lassen. Aber wir müssen zielgerichteter werden. Wir können nicht alle Belastungen auffangen. Und das bedeutet, dass wir uns genau überlegen müssen, wer Hilfe dringend nötig hat – und wer jetzt selbst einen Beitrag leisten kann. Wir müssen eine Armutswelle in Deutschland verhindern.

Der Chef der Bundesnetzagentur hat gerade vor einer Verdreifachung der Heizkosten gewarnt. Da dürfte der Staat ohnehin an seine Grenzen kommen, wenn er das auffangen will.

Das stimmt, deshalb braucht es neben zielgerichteten Entlastungen auch andere Instrumente. Die Lebenshaltungskosten waren für viele Menschen schon bisher kaum zu stemmen. Ein Grund sind steigende Wohnkosten. Deshalb müssen wir die Vorhaben zum Mieterschutz aus dem Koalitionsvertrag jetzt schneller angehen. Zugleich braucht es in dieser Lage zwei Notfallmaßnahmen beim Wohnen.

Welche?

Wir brauchen ein Moratorium für Strom- und Gassperren, wie es die Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke ins Spiel gebracht hat. Es darf in dieser Lage nicht passieren, dass Versorger ihren Kunden einfach Strom oder Gas abstellen, wenn diese mit den Rechnungen in Verzug sind. Wir dürfen niemanden im Dunkeln und im Kalten sitzen lassen.

Und die zweite Notfallmaßnahme?

Ein Kündigungsmoratorium für Mieterinnen und Mieter. Es geht nicht, dass Menschen wegen der gestiegenen Energiepreise ihre Wohnung verlieren.

Die Menschen zielgenau zu entlasten, die es wirklich brauchen, ist gar nicht so einfach. Zumindest sind die meisten bisherigen Entlastungen der Ampelkoalition eher breiter Natur. Wie soll das funktionieren?

Es gab einen Heizkostenzuschuss für Wohngeldempfänger, eine einmalige Extrazahlung für Hartz-IV-Empfänger und ab diesem Monat noch mal 20 Euro monatlich extra für Kinder aus ärmeren Familien. Das waren durchaus Entlastungen, die dort ankamen, wo sie nötig sind ...

… viele andere aber nicht. Und große Teile des Tankrabatts kommen gar nicht an. Noch mal: Wie könnte eine zielgenaue Entlastung aussehen?

Das werden wir in der Koalition besprechen.

Haben Sie Ihre Entlastungspläne eigentlich mit Christian Lindner durchgesprochen? Der hat kürzlich ausgeschlossen, dafür in diesem Jahr weiteres Geld zur Verfügung zu stellen.

Erst mal ist es richtig, dass wir die Wirkung der aktuellen Maßnahmen auswerten müssen. Aber klar ist auch: Je nachdem, ob und wie viel Gas nach dem 21. Juli durch Nord Stream 1 fließt, stehen uns sehr schwierige Monate bevor. In einem solchen Fall werden wir in der Koalition mit Sicherheit zu gemeinsamen Lösungen kommen, auch mit Blick auf die Finanzierung notwendiger Maßnahmen.

Und Sie rufen der FDP dann zu: Man nennt es Realpolitik?

Wir werden uns dann realpolitisch darauf verständigen, Verantwortung zu übernehmen.

Wie besorgt sind Sie wegen Nord Stream 1 und der Gaslage?

Wer jetzt nicht besorgt ist, der ist naiv. Wir können derzeit nicht sagen, wie viel Gas wir künftig aus Russland bekommen. Aber ich bin weit mehr als besorgt ...

... und zwar?

Ich bin wütend. Die Vorgängerregierungen, geführt von der CDU, haben uns in die Abhängigkeit eines Despoten geführt. Putin kann praktisch über die Energieversorgung dieses Landes entscheiden. Dass sich die Union jetzt auch noch hinstellt und der Ampelkoalition deshalb Vorwürfe macht, lässt mich fassungslos zurück. Die Ampel kann in 16 Wochen nicht mit 16 Jahren Untätigkeit aufräumen.

Um die Abhängigkeit zu verringern, halten nicht nur Union und FDP, sondern einer Umfrage zufolge auch 50 Prozent der Deutschen eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke für richtig. Warum sperren sich die Grünen dagegen?

Weil es nicht das richtige Mittel ist, von russischen Gaslieferungen unabhängig zu werden. Eine drohende Gasmangellage bedeutet, dass wir ein Wärmeproblem haben. Abseits der Industrie brauchen wir Gas in Deutschland vor allem zum Heizen.

Aber mehr als zehn Prozent des Gases werden in Deutschland zur Stromproduktion verwendet. Diesen Strom könnte auch ein Atomkraftwerk produzieren.

Leider eben nicht. Das Problem ist, dass Gas in der Stromproduktion vor allem für die Spitzenversorgung nötig ist. Also kurzfristig immer dann, wenn gerade besonders viel Strom verbraucht wird. Neue Studien gehen davon aus, dass Atomkraft nur weniger als ein Prozent der Stromerzeugung aus Gaskraftwerken ersetzen könnte.

Warum?

Atomkraftwerke können für die Spitzenversorgung aus technischen Gründen nicht so flexibel eingesetzt werden, wie das mit Gaskraftwerken geht. Oder eben – auch nicht gut, aber besser – auch mit Kohlekraftwerken, von denen das Wirtschaftsministerium ja gerade wieder einige reaktiviert hat, damit weniger Gas verstromt wird.

Selbst wenn das stimmt, wäre ein Prozent ja nicht nichts?

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Es wäre aber, als ob man das Pflaster auf die falsche Stelle klebt. Wir haben nach derzeitigem Stand kein Stromproblem, das man dadurch lösen müsste. Und entsprechend stehen Kosten, Risiken und Nutzen aktuell in keinem Verhältnis.

Wieso fordern Union und FDP es dann trotzdem?

Die Debatte wird bewusst viel größer gemacht, als sie es wert ist, um das Blamegame für den Herbst und Winter vorzubereiten. Dann wird es heißen: Ihr seid schuld, dass die Energie nicht reicht. Strategisch mag das klug sein. Ehrlich, verantwortungsvoll und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger ist es nicht.

Die Energiepreise werden aber tatsächlich erst mal weiter steigen. Die Gewerkschaften fordern eine Deckelung. Eine gute Idee?

Das ist ein spannender Vorschlag, wenn sich ein solcher Deckel richtig konstruieren lässt. Wir können aber nicht sagen: Liebe Leute, verbraucht so viel Energie, wie ihr wollt, der Staat deckelt schon alles. Das wäre das falsche Signal.

Wie soll es dann funktionieren?

Es gibt von den Gewerkschaften das Konzept eines Gaspreisdeckels für den Grundbedarf. Denn der muss bezahlbar für alle bleiben. Auch über diesen Vorschlag wird in den Debatten um neue Entlastungen sicherlich gesprochen.

Aus der Wirtschaft gibt es inzwischen Widerspruch gegen die Regelung, dass im Notfall zuerst der Industrie das Gas abgedreht wird und dann erst den Privatleuten. Sind warme Wohnzimmer wichtiger als sichere Jobs?

Es gibt klare europarechtliche Regelungen darüber, wo zuerst das Gas abgestellt wird. Privathaushalte und kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser sind besonders geschützt. Aber wir müssen uns die Konsequenzen bewusst machen: Wenn in der Wirtschaft tatsächlich abgeschaltet werden muss, haben wir schnell eine Wirtschaftskrise mit massiven Jobverlusten. Das müssen wir verhindern.

Aber wird dann jede Privatperson bei sich zu Hause so viel Gas verbrauchen dürfen, wie sie will? Darf der Schönheitschirurg am Bodensee seinen Pool heizen, während der Mittelständler in Braunschweig pleitegeht?

Ich gehe davon aus, dass den Menschen bewusst ist, wie ernst die Lage ist. Aber wenn tatsächlich Gas rationiert werden muss, werden wir insgesamt noch mal über weitere Regulierungen, zum Beispiel in Bezug auf Verwaltungsgebäude, sprechen müssen.

Wir stehen mal wieder vor einer Hitzewelle, die Klimakrise ist weltweit akut. Zugleich hat der grüne Klimaminister Robert Habeck gerade Kohlekraftwerke reaktiviert. Wer macht eigentlich Klimapolitik, wenn die Grünen mit anderen Krisen beschäftigt sind?

Trotz allem: wir. Die Ampel hat gerade sieben Gesetze für besseren Klimaschutz und zum schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien beschlossen. Klimaschutz muss die Aufgabe der gesamten Regierung sein, nicht nur die Aufgabe der Grünen. Diese Verantwortung nimmt uns niemand ab.

Aber die Regierung baut gerade LNG-Terminals und verfeuert wieder mehr Kohle.

Ja, wir gehen notgedrungen bei Kohle und LNG klimapolitisch ein paar kleine Schritte in die falsche Richtung. Trotzdem sind diese Schritte richtig, um unabhängig von Russland zu werden und die Versorgung zu sichern. Diesen Widerspruch müssen wir aushalten. Aber: Der Kohleausstieg steht. Und: Wir müssen deshalb jetzt an anderen Stellen viel schneller werden. Das haben wir vergangene Woche mit dem Energiepaket geschafft.

Nicht geschafft hat es die Ampel, vor dem Sommer ein Klimaschutz-Sofortprogramm zu beschließen, wie es geplant war. So super läuft es beim Klimaschutz also offenbar nicht.

Das Sofortprogramm wird im Herbst kommen. Und mir ist am Ende wichtig, dass die Maßnahmen ausreichen, um die Klimaschutzziele einzuhalten. Da muss jeder Sektor liefern.

Zwei Sektoren mussten jetzt schon nachliefern, weil es das Gesetz so vorschreibt: das Bauministerium und das Verkehrsministerium. Reichen die Konzepte aus?

Im Verkehrssektor muss auf jeden Fall noch mehr kommen. Es sind einige gute Ansätze dabei. Aber am Ende muss sich das Sofortprogramm daran messen lassen, ob es den Klimazielen gerecht wird. Und das wird es bisher nicht.

Was bräuchte es?

Man kann über mehr Investitionen in die Bahn reden, man kann über Ordnungsrecht reden, auch über eine Anschlussregelung für das 9-Euro-Ticket oder über den Abbau von klimaschädlichen Subventionen. Es gibt sicher unterschiedliche Wege zum Ziel. Aber am Ende muss auch Verkehrsminister Volker Wissing einen Weg Richtung Klimaziele gehen.

Bevor Sie das Klimaschutz-Sofortprogramm im Herbst beschließen, werden Sie also noch mal mit Volker Wissing reden?

Das tun wir sowieso.

Die besten Klimaschutzmaßnahmen helfen uns in den nächsten Wochen nicht mehr gegen die Hitzewelle. Was muss passieren, um die Menschen vor den Folgen zu schützen?

Der Schlüssel dafür liegt in den Kommunen. Nicht jeder Ort ist gleich betroffen. Wir werden Orte haben, die vor allem mit Hochwasser zu kämpfen haben, und Orte, wo die Hitze extrem ist.

Und was ist dort die Lösung?

Es wird viele unterschiedliche Lösungen geben müssen: Von der Schwammstadt, also einer Stadt, die mehr Regenwasser speichern kann, über den Ausbau von Grünflächen und vielem mehr. Das Klimaanpassungsprogramm von Umweltministerin Steffi Lemke schafft dafür gute Grundlagen. Außerdem müssen jetzt natürliche Klimaschützer wie Moore und Mischwälder absolute Priorität haben. Und wir werden stärker in den Bevölkerungsschutz investieren müssen.

Frau Lang, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Ricarda Lang in Berlin
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