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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Warnungen mehren sich Union im Höhenflug: Wie lange geht das noch gut?
Die Wahl scheint entschieden: Inzwischen führt die Union deutlich vor den Grünen. Doch bei CDU und CSU wächst die Sorge, dass die Umfragen trügerisch sind. Vor allem, falls der Sommer doch noch heiß wird.
An einem Donnerstag Ende Juni treffen sich etwa 20 Bundestagsabgeordnete der Union. Manche von ihnen sitzen seit Langem im Parlament. Doch jetzt zerbrechen sie sich über eine der schwierigsten Fragen ihrer Karriere den Kopf: Wie lässt sich die nächste Wahl gewinnen?
Zur Unterstützung dabei ist Hermann Binkert, der Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa. Binkert, ein 56-jähriger Mann mit Glatze und schwarzer Brille, ist ehemaliger CDU-Staatssekretär und erforscht jetzt die politischen Vorlieben der Deutschen. Bei dem internen Treffen referiert er über die Umfragen der letzten Zeit. Und Binkert warnt, die aktuellen Zahlen seien fragil. Seine Botschaft: Das Ergebnis der Wahl ist offen.
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Das wissen die Parlamentarier natürlich. Trotzdem markiert ihr Treffen einen Tiefpunkt. Denn eigentlich sieht die Lage für die Union gut aus, im "Deutschlandtrend" der ARD liegen CDU und CSU acht Prozentpunkte vor den Grünen, andere Umfragen gehen sogar von zehn Prozentpunkten aus. Von diesen Werten hätte zum Höhepunkt des unionsinternen Machtkampfs kaum jemand zu träumen gewagt.
Kommen die Grünen noch einmal zurück?
Und dennoch: Die gute Lage ist trügerisch. Bis zur Bundestagswahl sind es noch elf Wochen, ein halber Sommer. Das ist eine Menge Zeit in der Politik, wo die Zustimmung so schnell kippen kann wie ein Barometer beim Wetterumschwung.
In der CDU-Zentrale quälen sich die Parteistrategen deshalb vor allem mit einer Frage herum: Ist der jüngste Absturz der Grünen nur vorübergehend? Oder könnten sie im September doch noch stärkste Kraft werden? Man bereitet sich in der Union auf zwei Szenarien vor. In dem einen legen die Grünen langsam wieder zu, und es kommt zum Kopf-an-Kopf-Rennen. Darauf werden im Moment alle Kräfte fokussiert.
Im anderen, deutlich unwahrscheinlicheren Szenario rutschen die Grünen weiter ab. Dann könnte sogar eine Partei zweitstärkste Kraft werden, die mancher in der Union als Gegner schon fast vergessen hat: die SPD. Plötzlich wäre eine Ampelkoalition mit FDP und Grünen denkbar — und CDU/CSU säßen in der Opposition. Zum ersten Mal seit 16 Jahren. Auch die mögliche Demütigung behält man bei der Union im Auge.
Grüne sind größte Helfer der Union
Für die Union geht es um den wertvollsten Job in der Regierung: das Kanzleramt. 2009, 2013 und 2017 war eigentlich immer klar, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Dass Armin Laschet ihr nachfolgt, ist wahrscheinlich. Aber es ist alles andere als sicher. Auch deshalb wird der Kampf um die Macht aus dem Konrad-Adenhauer-Haus besonders hart geführt.
In der Parteizentrale konzentriert man sich erst mal auf den erklärten Hauptgegner, folgt also der Kopf-an-Kopf-Strategie.
Dabei erwiesen sich ausgerechnet die unglücklich agierenden Grünen zuletzt als Wahlkampfhelfer, der die Union in den Umfragen nach oben trug. Vor allem Annalena Baerbock sorgte für Negativ-Schlagzeilen. Vergessene Einnahmen, geschönter Lebenslauf, ein offenbar allzu schnell verfasstes Buch: Ihre Fehler sind mittlerweile zu einer kleinen Liste angewachsen. Manches mag eine Lappalie sein, anderes Schlamperei, wieder anderes ein echter politischer Fehltritt. Alles zusammen ergibt sich das Bild einer entzauberten Kandidatin.
Wird der Wirbel um Baerbock überschätzt?
Baerbocks Verfehlungen sind eine Steilvorlage für die CDU. Eckhardt Rehberg, der haushaltspolitische Sprecher der Unionsfraktion, sagt: "Jetzt zeigt sich einmal mehr, wie über-moralisierend die Grünen geprägt sind. Wer erst groß mit dem Zeigefinger wedelt und sich dann eigene Patzer erlaubt, der fällt eben besonders tief."
Doch besonders den Wirbel um Baerbocks Buch betrachten Rehbergs Parteikollegen durchaus mit Vorsicht. Ein Mitglied des Fraktionsvorstands drückt es so aus: "Es wird kein Wähler sagen: 'Oh, die CDU zitiert immer richtig, wie super, die schreiben ihre Bücher auch ohne jede Unterstützung.' Deswegen gewinnen wir noch keine Stimmen." Das negative Image von Baerbock kommt dem politischen Konkurrenten zwar zupass, aber: Es wird den Wahlkampf nicht bis in den September prägen, das ist auch dem missgünstigsten Konservativen klar.
Immer mehr Verbreitung findet deshalb der Gedanke, dass der Rückschlag der Grünen für die Union womöglich zu früh kam. Wären die Enthüllungen um Baerbock erst Ende August ans Licht gekommen, wäre die Union uneinholbar gewesen, heißt es.
Jetzt sind sie längst in der Welt und wirken eher als Rampe für die weiteren Auseinandersetzungen zwischen Grünen und CDU. Ein Reibungspunkt ist dafür der CDU-Bundestagskandidat im Wahlkreis mit dem etwas sperrigen Namen "Suhl – Schmalkalden-Meiningen – Hildburghausen – Sonneberg". Dort kandidiert Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, für die CDU. Er ist, vorsichtig ausgedrückt, sehr konservativ. Mal schloss er eine Kooperation mit der AfD nicht aus, kürzlich machte er damit Schlagzeilen, dass er den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als eine Art linksextreme Sekte brandmarkte. Später ruderte er zurück, doch die Botschaft war gesetzt.
Union setzt auf Dauerattacke
Für den Kampf der Union gegen die Grünen ist das gefährlich. Armin Laschet muss sich vorwerfen lassen, solche Positionen zu dulden. Er distanziert sich zwar regelmäßig von Maaßen, vermeidet es aber gleichzeitig, dessen Namen in den Mund zu nehmen.
Die Grünen freuen sich über Laschets Schlingerkurs. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Agnieszka Brugger sagt t-online: "Dieser Wahlkampf ist sehr kurzatmig, permanent wechseln die Schlagzeilen für alle Parteien – man denke nur an das katastrophale Krisenmanagement von Armin Laschet im Falle Maaßen." Wo Baerbock mit ihren Verfehlungen Raum zum Angriff gab, hat Laschet eine offene Flanke durch Hans-Georg Maaßen.
Die Strategie, die Grünen in den Umfragen auf Abstand zu halten, soll aus Sicht von Laschets Lager zudem aufgehen, indem man das Tempo der Auseinandersetzung möglichst hoch halte, sagt ein Insider. Ständig neue Themen setzen, ständig neue Angriffe, damit niemand zum Ausruhen kommt. Eine beliebte Art der Attacke besteht darin, die Grünen als möglichst radikal darzustellen und sich gleichzeitig als politische Kraft der Mitte zu positionieren.
Die stellvertretende Unions-Fraktionschefin, Katja Leikert, sagt t-online: "Ich spreche in diesem Wahlkampf viel mit Schülern – wenn die zum ersten Mal 70 Euro fürs Tanken gezahlt haben, dann ist es mit der ganz großen Begeisterung für so manche Forderung von Fridays for Future schnell vorbei: Es wird jetzt vielen klar, dass die Grünen das Leben oft noch teurer machen wollen."
Wetter kann die Wahl mitentscheiden
Das ist der Sound, der für die Union prägend im Wahlkampf sein soll: Wir retten das Klima, aber die Rettungsaktion bleibt bezahlbar.
Eine wesentliche Rolle bei dieser Strategie spiele das Wetter in diesem Sommer, wie es in der Union heißt. Je heißer die nächsten Wochen werden, desto schlechter sei es für die CDU. Der Klimawandel wäre dann wieder eher spürbar, der Handlungsdruck würde wohl steigen. Deshalb ist man im Konrad-Adenauer-Haus nicht ganz unglücklich über wolkenverhangene Julitage.
Eigentlich bestünde ein wesentlicher Teil der CDU-Strategie auch draus, viele echte Veranstaltungen abzuhalten. Doch daraus wird wegen Corona wohl nichts. Für eine Partei, die in der Vergangenheit potenzielle Wähler gern bei Bratwürstchen und Bier von sich überzeugte, ist das problematisch. Andreas Mattfeld, ein konservativer CDU-Bundestagsabgeordneter, sagt: "Die Art des Kampfes mit den Grünen in diesem Wahlkampf ist besonders: Kaum Veranstaltungen, vieles verlagert sich dafür ins Internet."
Die Grünen, die ohnehin oft ein urbaneres Publikum ansprechen, haben mit hippen Internetauftritten wenig Schwierigkeiten. Die CDU hingegen durchläuft in diesen Monaten einen Crashkurs im digitalen Wahlkampf. Ein Stützpfeiler dabei, wie stolz betont wird: schwarz-rot-goldene Kreise, die sich die Abgeordneten um ihre Profilbilder in den sozialen Medien montieren können. Das feiern viele bei den Konservativen schon als Erfolg.
Wird Scholz doch der lachende Dritte?
Im Kampf zwischen Union und Grünen um Platz eins bei der Bundestagswahl rückt ein Szenario fast in den Hintergrund. Dieses Szenario ist nicht wahrscheinlich, doch es ist nicht undenkbar. Denn wenn die Grünen in den Umfragen nun stagnieren oder leicht nachgeben und die SPD noch zwei bis drei Prozentpunkte aufholt, könnten die Sozialdemokraten zweitstärkste Kraft hinter der Union werden.
Der Kanzlerkandidat der SPD glaubt noch an seinen Erfolg: Olaf Scholz tut in diesen Wochen schon mal alles, damit man seine Tätigkeit als "Vizekanzler" möglichst schnell vergisst: Er fliegt in die USA, spricht über die bilateralen Beziehungen, trifft wichtige Mitglieder der US-amerikanischen Administration. In der SPD nennt man es Zufall, dass die Kanzlerin drei Wochen später selbst den Weg nach Washington antritt. In der CDU nennt man das sozialdemokratisches Kalkül, um sich beim Wähler zu profilieren.
Auch ein kleines Aufbäumen der SPD in den Umfragen wird in der Union diskutiert. Die interne Sprachregelung dazu lautet: Den Koalitionspartner nehme man sich vor, wenn er in den Umfragen in eine gefährliche Nähe rückt. Solange hat man sich Zurückhaltung auferlegt. Auch weil die vergangene große Koalition recht erfolgreich war, da sähe es seltsam aus, auf den politischen Partner der letzten vier Jahre allzu sehr zu schimpfen.
Scholz könnte in einer Ampelkoalition gemeinsam mit Grünen und FDP regieren. Zwar hat der Parteichef der Liberalen, Christian Lindner, eine Ampel tendenziell ausgeschlossen. Doch das sehen sie intern weder bei den Grünen noch bei der SPD als echtes Problem. Lindner könne man mit ordentlichen Zugeständnissen und guten Posten schon irgendwie überzeugen.
- Eigene Recherche