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Angela Merkel in Chemnitz: Wie die Kanzlerin die Hölle meisterte


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Kanzlerin in Chemnitz
Wie Angela Merkel die Hölle meisterte

  • Lars Wienand
Von Lars Wienand, Chemnitz

Aktualisiert am 17.11.2018Lesedauer: 6 Min.
Angela Merkel und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: Der Chemnitz-Besuch der Kanzlerin startete in einer Baketball-Halle.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: Der Chemnitz-Besuch der Kanzlerin startete in einer Baketball-Halle. (Quelle: Jens Meyer/ap)

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich fünf Stunden Zeit genommen für den Besuch in Chemnitz. Und sie hat dort manchen überrascht.

Die Kanzlerin ist zu Besuch in der Hölle, und sie wirkt gelöst im Stuhlkreis. Angela Merkel sitzt zu Beginn ihres Besuchs in Chemnitz mit Jugendlichen des Basketball-Clubs Chemnitz Niners in einer Ecke der Richard-Hartmann-Halle, die die Fans nur "Hölle" nennen. Der Hallenwart kann das “A” des Schriftzug an der Wand sogar umklappen, ein “Ö” erscheint.

“Das war nicht die Stadt, wie ich sie kenne”

Manche aus der Jugendmannschaft hatten Ende August auch das Gefühl, dass irgendwas umgeklappt worden ist. “Das war nicht die Stadt, wie ich sie kenne”, sagt der 17-jährige Basketballer Robert Marai nach dem Gespräch mit der Kanzlerin. “Und wie sie es wieder ist.”

Beim Stadtfest in Chemnitz war der Deutsch-Kubaner Daniel H. durch Messerstiche mutmaßlich von Asylbewerbern gestorben, es kam zu den Protesten, zu Ausschreitungen, zu Übergriffen und zur Debatte um Hetzjagden. Und in Chemnitz hat sich nicht nur die Oberbürgermeisterin gefragt, wo Merkel ist.

Jetzt ist sie für fünf Stunden da, die Jugendspieler freuen sich, 120 Leser der “Freien Presse” haben Fragen an sie, und auf der Straße murren viele. Behinderungen, Straßensperren und überhaupt. “Die will doch hier keiner sehen”, sagt ein älterer Herr am Stand eines Zeitungsverkäufers einige Hundert Meter entfernt und der Verkäufer grinst. “Heute Krawalle gegen Merkel?” steht als Schlagzeile auf einem Plakat der örtlichen Boulevard-Zeitung.

Der Sender n-tv zeigt dagegen Merkel im Gespräch mit Vereinsvertretern. Langweilige Bilder, aber Thomas Präkelt, Leiter des Landesstudios Ost von RTL, ist überzeugt, dass die Zuschauer bei seiner Schalte nicht das Programm wechseln: “Merkel setzt zum ersten Mal den Fuß nach Chemnitz, das wollen die Leute sehen.” Präkelt war viel in der Stadt, in einer seiner Schalten stand plötzlich jemand neben ihm und zeigte den Hitlergruß.

Zunächst ein Wohlfühl-Termin für Merkel

Die Jugendlichen fanden es “toll”, Merkel hat erst sie befragt und dann ihnen Rede und Antwort gestanden, elegant zu Trump und Merz etwas und doch nichts gesagt. Die Basketballer sind in einem “Chemnitz ist bunt”-Video aufgetreten und vom Kanzleramt für den Termin angesprochen worden – ein Wohlfühl-Termin für Merkel.

Die Reporter fragen die Jugendlichen aber lieber nach dem Stadtfest, nach der Unruhe. Ein paar Tage sei ihm mulmig gewesen, sagt Robert Marai. Es ist den Jugendlichen vor den Kameras unangenehm, über Dinge zu reden, die falsch verstanden werden könnten, die vielleicht wieder den Eindruck einer Gefahrenzone Chemnitz vermitteln könnten. “Es wird zu viel verallgemeinert“, sagt der 15-jährige Dominic Tittmann. "Nicht nur von Euch", also den Medien, "auch auf Social Media". Wenn man reinschaue in die Gruppen bei den Demonstrationen, "dann sind die einen nicht alle Nazis und die anderen nicht alle Steinewerfer". Chemnitz will nicht grau sein, aber noch weniger nur schwarz und weiß.

In Chemnitz geht es auch um mehr als das, was die Stadt weltweit in die Schlagzeilen brachte. Das ist etwas, was der Gastronom Uwe Dziuballa anspricht, als Merkel sich von den Basketballern verabschiedet hat und nichtöffentlich rund 20 Vertreter des Stadtlebens trifft. "Es war kein Glücksbärchi-Treffen, wo wir uns alle gesagt haben, wie toll wir sind."

Die Oberbürgermeisterin ist etwa dabei, die Polizeipräsidentin, der Landesbischof, der IHK-Chef, die Hochschule ist vertreten – und Dziuballa, der Wirt des jüdischen Restaurants "Shalom", das von Neonazis überfallen wurde. Ein türkischer Wirt, der auch Ziel eines Anschlags wurde, kündigt sich am Rande des Treffens als Gast im "Shalom" an.

Wenig Selbstbewusstsein und viele Ängste

Es sei darum gegangen, wieso Chemnitz Probleme habe, berichtet Dziuballa. “Wir sind so etwas wie die dritte Schwiegertochter”, hat er gesagt, also ungeliebt. Chemnitz ist zwar die drittgrößte Stadt im Osten, wenn man Berlin weglässt. In Sachsen rangiert sie aber auch auf Platz drei, denn vor ihr liegen noch Leipzig und Dresden.

Nur 20 Prozent in der Region stimmen im gerade veröffentlichten Sachsen-Monitor dem Satz zu, dass Sachsen auf das Erreichte stolz sein kann. Im Raum Leipzig sagen das 51 Prozent. In Chemnitz rechnen sich 21 Prozent zur Unterschicht, in Leipzig drei. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die repräsentative Befragung: Die Chemnitzer haben wenig Selbstbewusstsein, wenig Vertrauen und viele Ängste.

69 Prozent stimmen dem Satz voll oder eher zu, dass Deutschland in gefährlichem Maß überfremdet ist. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass Chemnitzer (acht Prozent) weniger als Leipziger oder Dresdner Deutsche anderen Völkern gegenüber für überlegen halten. Sie fühlen sich zurückgesetzt, vernachlässigt. Vielleicht hat auch deshalb manch einer “Wir sind das Volk” gebrüllt.

Wegen des Sabbats geht der jüdische Wirt schnellen Schrittes vom Merkel-Treffen, die Kippa auf dem Kopf. “Die Bundeskanzlerin hat das verstanden, sie hat gesagt, sie will auch mit ihren Möglichkeiten mitwirken, dass Chemnitz stärker wahrgenommen wird.” Kongresse vielleicht, Veranstaltungen.

"Das Bürgertum zeigt mehr Gesicht"

Aber auch in der Stadt selbst habe sich bereits etwas positiv verändert. “In meinem Bekanntenkreis erlebe ich, dass sich Menschen jetzt anders zu Chemnitz bekennen, in die Offensive gehen und auf die Stärken hinweisen. Das ist das Gute im Schlechten. Das Bürgertum zeigt mehr Gesicht, weil sie nicht mehr ertragen, wie die Stadt gesehen wird.”

Merkel habe ihn gefragt, wie es ihm geht, aber der Überfall der Neonazis nicht sein Thema, “diese zehn Minuten bestimmen nicht mein Jahr”. Und die Tage nach dem Stadtfest nicht das Gespräch. Merkel habe erklärt, dass sie wirklich spät erst in der Stadt sei, aber dass das eine bewusste Entscheidung gewesen sei: Sie in der frisch aufgewühlten Stadt, das wäre zusätzliches Öl im Feuer gewesen. “Sie war selbstkritisch, sie hat auch gesagt, dass die Regierung manche Hausaufgaben nicht gut gemacht hat.

Auch heute sind natürlich Demonstranten da, einige Hundert. “Ich hatte mit mehr gerechnet”, sagt Johannes Grunert, der über das Geschehen in Chemnitz seit dem Tag des Verbrechens berichtet. “Vielleicht sind viele weggeblieben, weil klar war, dass sie nicht nahe herankommen.” Ein großer Teil bürgerlich, nur wenige Neonazis dazwischen. Merkel bekommt von den Demonstranten kaum etwas mit, eine Gruppe erzielt aber in der Stadt zumindest Aufmerksamkeit mit ihrem bizarren Auftritt.

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Sven Liebich aus Halle, ein Sprachrohr der rechten Szene und verantwortlich für zahllose geteilte Bildchen auf Facebook mit falschen Politikerzitaten, fälscht heute mit 200 Mitstreitern die “Merkel-Jugend”. “Geil Merkel” wird gerufen. Für die mit großem Aufgebot eingesetzte Polizei Polizei ist es ein bisschen viel Symbolik, schwarz-weiß-rote Flaggen mit Merkel-Raute werden sichergestellt.

Kritische Leser sollen Fragen stellen

Wartet die Hölle dann beim wird letzten Termin, dem Leserforum der “Freien Presse”? Der Chefredakteur der Zeitung hat einige sehr kritische Bürger angekündigt, 30 waren angesprochen worden, 90 aus 300 Bewerbungen ausgewählt worden. Merkel wiederholt ihre Erklärung, warum sie nicht früher gekommen ist, sie sagt, dass die Ostdeutschen Grund haben zum Selbstbewusstsein.

Immer wieder beklagen sich Menschen darüber, wie verzerrt Chemnitz dargestellt worden sei. Und immer wieder stellen Menschen fest, dass die Kanzlerin echtes Verständnis zeigt, dass ihre Antworten nicht wie Phrasen daherkommen. Es geht um Lehrermangel in Sachsen, und Merkel könnte sagen, dass das kein Thema der Bundespolitik ist – sie tut es nicht. Sie bleibt völlig gelassen, wenn sich feindselig gestellte Fragen auch noch wiederholen. Sie gewinnt Leute, die noch zustimmend bei der Frage genickt haben, wieso Sie Europa spalte. “Man kann schlechter ein gutes Europa bauen, wenn man sagt, weil du am Mittelmeer liegst, hast du Pech gehabt.”


Es zeigt sich wenig überraschend, dass Chemnitzer auch ganz andere Probleme haben als Flüchtlinge und zwar solche, die es auch andernorts gibt: Hausarztversorgung, Lehrermangel, Verkehrsanbindung, Digitalisierung. Und Merkel schafft es, mit gutem Zuhören und Empathie manchen versöhnter nach Hause gehen zu lassen. "Auf der Verliererseite", sagt Gastronom Dziuballa nach seinem Gespräch mit der Kanzlerin, "da bist du, wenn du nicht mehr den Dialog führen kannst, wenn du nicht mehr offen bist für die Argumente des anderen". Die Kanzlerin und Chemnitz haben an diesem Tag nicht verloren.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen und Recherchen vor Ort
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