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Nach Wahl-Debakel in Hessen | Gesucht: Eine neue SPD


Nach Wahl-Debakel in Hessen
Gesucht: Eine neue SPD

dpa, Von Georg Ismar und Carsten Hoffmann

31.10.2018Lesedauer: 4 Min.
Andrea Nahles bei der SPD-Pressekonferenz nach der Vorstandssitzung.Vergrößern des BildesAndrea Nahles (SPD): Auf der Bundesebene hat Nahles bisher den Vorteil, dass kein anderer das Himmelfahrtskommando Vorsitz übernehmen will. (Quelle: Wolfgang Kumm/dpa-bilder)

Die SPD steckt in einem Sumpf fest. Man strampelt sich ab und doch sinkt man tiefer. An Ideen für ein neues Fundament mangelt es nicht. Und Merkels Abschied auf Raten erhöht den Erneuerungsdruck.

Die SPD hat bei der Wahl in Hessen 10,9 Prozentpunkte verloren, in Bayern zuvor ebenso. Früher wären Rücktritte mindestens der Spitzenkandidaten die Folge gewesen. Dieses Mal passierte nichts – Ratlosigkeit nicht nur im Willy-Brandt-Haus. Aber der Absturz und die personelle Erneuerung mit dem Abschied von Kanzlerin Angela Merkel als Parteichefin bei der CDU bringt nun auch bei der SPD viel in Bewegung.

Wie aneinander gekettet in ihrem politischen Schicksal sind bisher Parteichefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz – sie waren die Treiber hinein in die große Koalition, sortierten den an der Basis weiter beliebten Sigmar Gabriel aus. Reihenweise dringen nun in den Ländern Kandidaten nach vorne, die einen neuen Kurs wollen. Und die für personelle Erneuerung stehen, wie in Nordrhein-Westfalen der neue Landeschef Sebastian Hartmann (41), in Schleswig-Holstein die designierte Landeschefin Serpil Midyatli (43) und in Hamburg Melanie Leonhard (41). Auf der Bundesebene hat Nahles bisher den Vorteil, dass kein anderer das Himmelfahrtskommando Vorsitz übernehmen will.

Die Stimmung ist nervös, die SPD ist gerade in einem Negativsog, wie 2013 die FDP. Nun hängt vieles davon ab, wer am 7. Dezember zum oder zur neuen CDU-Vorsitzenden gewählt wird. Eine Wahl von Friedrich Merz mit einem konservativ-liberalen Kurs würde als Gottesgeschenk gesehen, da die SPD dann ihr Profil schärfen könnte. Aber Merkel könnte wohl kaum Kanzlerin von Gnaden ihres einstigen Gegners Merz bleiben. Sollte die große Koalition zerbrechen und eine Neuwahl nötig werden, könnte sich auch bei der SPD die Machtfrage ganz neu stellen.

Denn Scholz hat viele Gegner in der Partei mit seinem als arrogant empfundenen Mitte-Kurs, er dürfte es schwer haben, Kanzlerkandidat zu werden. Und bei Nahles gibt es ohnehin Zweifel, ob sie die Richtige ist. In den 18 Jahren mit Merkel als CDU-Chefin hat die SPD bisher zehn Vorsitzende gehabt – den Niedergang gestoppt haben die Wechsel nicht. Und die Personaldecke wirkt dünner als bei der CDU. Womöglich müsste wieder ein Niedersachse ran: Ministerpräsident Stephan Weil.

Wofür steht diese SPD?

Jenseits aller personellen Überlegungen plagt die SPD aber vor allem das Problem, das viele sozialdemokratische Parteien in Europa in einen Abwärtssog gerissen hat. Die Bürger wissen nicht mehr so recht: Wofür steht diese SPD? Für einen programmatischen Neustart mit einem "linken Realismus" plädiert Nils Heisterhagen, der das Buch "Die liberale Illusion" verfasst hat. "Ich sehe mit Sorge, dass nicht nur die Partei vor die Hunde geht, sondern auch das Land", sagt der bisherige Grundsatzreferent der Mainzer SPD-Landtagsfraktion. Seine Thesen: Man habe sich zu sehr um den linksliberalen Kulturkampf, Multikulti und Genderthemen gekümmert und dabei den Kern der sozialen Frage vernachlässigt – und sei in der Zuwanderungspolitik zu lasch.

Probleme wegen geringer Einkommen und Renten, Sorgen vor zu starker Zuwanderung, den Folgen der Globalisierung und Schwierigkeiten bei der Inneren Sicherheit müssten beim Namen genannt werden. "Ich habe langsam die Sorge vor französischen Verhältnissen, mit Wutausbrüchen wie in den Banlieues", sagt Heisterhagen. Die SPD-Spitze habe den Kontakt zum Wähler und der eigenen Basis verloren. "Angela Merkel erzählt uns immer: Alles ist gut. Aber die soziale Lage ist eben nicht so gut wie geschildert", meint Heisterhagen, der sich irgendwo zwischen Sigmar Gabriel und der Linken Sahra Wagenknecht verortet.

"Das Gerede vom dritten Weg, von der neuen Mitte war ein Fehler, ebenso die ganze Deregulierung und das Folgen des neoliberalen Zeitgeistes um die Jahrtausendwende. Ich glaube, Oskar Lafontaine hat recht gehabt." An der heutigen Situation sei auch die Struktur der Parteispitze schuld, von der die immer "gleiche monotone Tonspur" komme. "Ich glaube, wir haben eine Apparatschikkultur in der Partei, die aufgebrochen werden muss. Warum gibt es zum Beispiel keine Facharbeiter mehr in der SPD-Spitze?", fragt Heisterhagen. "Wir haben eine Überakademisierung der Partei, wo sind die Maurer im Vorstand?"

Mehr raus ins Leben, wo es riecht und auch mal stinkt, riet auch Gabriel schon 2009 seiner Partei. Nun schreibt der Ex-Chef in der "Zeit", dass der Neustart schon bei weniger Selbstbespiegelung anfange – und einer besseren Vermittlung, was die SPD eigentlich alles in der Regierung durchsetzt. "Mit hundert jungen Influencern, die Tag und Nacht die sozialen Netzwerke bedienen, wären wir besser aufgestellt als mit einer doppelt so hohen Zahl von Mitarbeitern, die nur die Gruppeninteressen innerhalb der SPD austarieren und verwalten."

Es gibt ein großes Glaubwürdigkeitsproblem

Neben der Klärung inhaltlicher Konflikte wollen Nahles und Generalsekretär Lars Klingbeil nun Zukunftskonzepte entwickeln, etwa für den Sozialstaat 2025 und die neue Arbeitswelt. Klingbeil schwebt zum Beispiel eine Maschinensteuer vor. "Ich will, dass die riesigen Unternehmensgewinne, die durch Automatisierung und Roboterisierung entstehen werden, der Gesellschaft zugute kommen", schreibt er in einem Gastbeitrag für t-online.de.

Aber neben inhaltlichen Fragezeichen gibt es vor allem ein großes Glaubwürdigkeitsproblem. Denn prekäre Arbeitsverhältnisse etwa von Leiharbeitern haben ihren Ursprung in der rot-grünen Zeit. Ebenso die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV). Und wenn sich die SPD zum Vorkämpfer gegen hohe Mieten aufschwingt, dann muss sie sich fragen lassen, warum zum Beispiel in Berlin SPD-geführte Landesregierungen jahrelang öffentliches Bauland und Immobilien an meistbietende Investoren verkauft haben, was die Preise antreibt.

Zudem klammert man sich an den Anspruch, noch Volkspartei sein zu wollen. Dadurch wirkt man wie ein Kaufhaus, das allen etwas anbieten will. So will man die Arbeitsplätze in der Braunkohle retten und sich zugleich beim Klimaschutz schärfer positionieren – der Höhenflug der Grünen bereitet große Sorgen. Der Politologe Wolfgang Merkel meint, die SPD müsse in der Koalition "die Schmerzgrenze der Union viel stärker austesten", um das Profil zu schärfen. Bei allen Problemen brauche es gerade heute eine Sozialdemokratie, "die die Ideen und Handlungskraft besitzt, unser Land auch in turbulenten Zeiten sozial gerecht und demokratisch gesichert in die Zukunft zu führen."

Verwendete Quellen
  • dpa
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