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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ricarda Lang "Friedrich Merz hat seine Wähler angelogen"

Wie geht es weiter bei den Grünen? Und was hat das mit der Krise der Demokratie zu tun? Grünen-Politikerin Ricarda Lang im Gespräch.
Parteichefin ist sie schon seit November nicht mehr, so richtig weg aber auch nicht. Im Gegenteil. Ricarda Lang ist nach wie vor eine der wichtigsten Stimmen der Grünen. Ohne Amt kann sie nun freier sprechen als andere und tut das auch. Sie muss nicht mehr "Mist als Gold" verkaufen, wie sie es selbst mal nannte.
Und "Gold" war das Ergebnis der Grünen bei der Bundestagswahl sicher nicht. Was muss sich bei den Grünen nun verändern? Warum hält sie den Wahlkampf von Friedrich Merz nicht nur für eine "Sauerei", sondern für gefährlich? Und wo sieht sie selbst ihre Rolle in der Zukunft? Darüber spricht Ricarda Lang im Interview mit t-online.
t-online: Frau Lang, kaum werden die Grünen nicht mehr mitregieren, passiert das, was sie schon lange fordern: 500 Milliarden Euro für die Infrastruktur und so viel wie nötig für Verteidigung. Sind die Grünen mächtiger, wenn sie in der Opposition sind?
Ricarda Lang: Wir waren mächtig in dem, was wir in den letzten Jahren verändert haben. In der Regierung, aber auch davor. Opposition ist nicht Mist. Parteien können dort die politische Debatte prägen. Das haben wir getan – und das sollten wir wieder tun, mit Elan und Freude. Es zahlt sich nun aus, dass wir seit Jahren darauf drängen, die Schuldenbremse zu reformieren und mehr zu investieren. Auch wenn ich die Anbahnung des Ganzen für durchaus gefährlich halte.
Warum?
Friedrich Merz hat seine Wählerinnen und Wähler angelogen. Im Wahlkampf hat er die Schuldenbremse zum Heiligen Gral der Generationengerechtigkeit erklärt, noch dazu illusorische Steuergeschenke ins Schaufenster gestellt – wohl wissend, dass das alles nicht funktioniert. Kaum ist gewählt, macht er das genaue Gegenteil. So was kostet enorm Vertrauen, und zwar in das Funktionieren unserer Demokratie insgesamt. Wahlkämpfe sind dazu da, sich ein Mandat für sein politisches Handeln abzuholen. Friedrich Merz hat stattdessen ein entkoppeltes Schauspiel aufgeführt.

Zur Person
Ricarda Lang, 31 Jahre alt, ist eines der großen politischen Talente der Grünen. Von 2022 bis Ende 2024 war sie mit Omid Nouripour Parteichefin. Nach mehreren Wahlniederlagen auf Länderebene und vor dem Bundestagswahlkampf traten sie zurück. Lang trat mit 18 Jahren der Grünen Jugend bei und wurde 2021 in den Deutschen Bundestag gewählt.
Hätten die Grünen in den vergangenen Jahren trotzdem besser mit der Union regiert, wenn Sie die Möglichkeiten jetzt so sehen?
Ich will es anders formulieren: Ohne die FDP regiert es sich leichter. Die Union ist im Kern eine opportunistische Partei. Das macht sie flexibel – deutlich flexibler, als es die ideologische Lindner-FDP war. Trotzdem: CDU und CSU haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder der Realität verweigert. Selbst jetzt, in ihrer 180-Grad-Wende, wurschteln sie weiter herum, statt sich zu einer grundlegenden Reform der Schuldenbremse durchzuringen.
Man könnte mit Helmut Kohl sagen: "Entscheidend ist, was hinten rauskommt." Ist diese CDU-Philosophie heute gefährlicher als früher, weil zu viel Vertrauen in die demokratischen Parteien verloren geht und das die Populisten noch stärker macht?
Der Satz stimmt immer noch. Am Ende kommt es in der Politik immer darauf an, was man zum Besseren verändern kann. Das gilt auch jetzt für meine Partei. Ich halte Merz' Wahlkampf für eine Sauerei, aber daraus folgt nicht, dass ich mich beleidigt in die Ecke stelle und den moralischen Zeigefinger hebe. Union und SPD brauchen unsere Stimmen im Bundestag. Im Gegenzug wollen wir ihren Vorschlag besser machen, dringend notwendige Investitionen in den Klimaschutz verankern – und wir werden auch weiterhin auf eine grundsätzliche Reform der Schuldenbremse drängen.
Das klingt, als käme noch ein Aber.
Ja, denn was Sie sagen, stimmt natürlich trotzdem. Wir erleben eine Krise der repräsentativen Demokratie. Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Viele Menschen haben das Gefühl, die demokratischen Parteien würden nicht ehrlich aussprechen, was sie wollen. Ihnen etwas vorenthalten. Rechtspopulisten wie Donald Trump hingegen sagen zwar menschenverachtenden Horror, das aber sehr klar und frei. Das Verhalten von Friedrich Merz bestätigt diesen Kontrast einmal mehr. Wer sich darüber freut, sind die Antidemokraten.
Was bedeutet das für die Demokraten?
Eine ganze Lüge der Populisten wird immer wirksamer sein als eine halbe Wahrheit der Demokraten. Heißt für uns: Trauen wir uns, auszusprechen, was unsere Politik an Veränderung bedeutet. Was sie Gutes bringt, aber auch was sie kostet. Wer die Kosten trägt – und wie wir dafür sorgen wollen, dass es nicht ausgerechnet Menschen mit ohnehin geringem Einkommen sind.
Wir haben die Deutungshoheit über uns selbst verloren.
Ricarda Lang
Schauen wir auf die Grünen, für die im Wahlkampf auch nicht alles gut gelaufen ist. Wie froh sind Sie, dass Sie die 11,6 Prozent nicht mehr als Parteichefin zu verantworten haben?
Mein Sonntagabend war schon entspannter in Schwäbisch Gmünd, wo ich mit meinen Wahlkämpfern in der Kneipe saß. Aber ich will ja weiterhin, dass meine Partei erfolgreiche Politik macht und überzeugt. Und ich sehe das Ergebnis zum Teil auch als mein Ergebnis an. Wir sollten bei der Aufarbeitung nicht nur auf die letzten Monate, sondern auf die letzten Jahre schauen.
Und was sieht man da?
Sie ahnen es: ein komplexes Bild. Wir steuern auf eine komplett neue Weltordnung zu, das hat Donald Trump letzte Woche im Oval Office erneut sehr deutlich gemacht. Die repräsentative Demokratie steckt in der Krise, weltweit ist progressive Politik in der Defensive. Eigentlich bietet sich hier die perfekte Ausrede dafür, warum es auch für uns schlecht gelaufen ist. Ich finde aber, es sollte das genaue Gegenteil einer Ausrede sein: der Arbeitsauftrag, als Demokraten und auch als progressive Kraft besser zu werden. Immerhin geht es gerade darum, dafür zu sorgen, dass es 2029 überhaupt noch demokratische Mehrheiten gibt.
Was bedeutet das für die Aufarbeitung des Ergebnisses?
Ich halte wenig von taktischen Wahlauswertungen, in denen wir über einzelne Plakate oder von mir aus auch Punkte-Pläne reden. Die entscheidende Frage ist doch: Welche Rolle haben wir gerade im Parteiensystem und welche muss es in Zukunft sein?
Der Ansatz von Annalena Baerbock und Robert Habeck der letzten Monate und Jahre war es, die Grünen als Brückenbauer in der Mitte des Parteiensystems zu etablieren. Im Wahlkampf hat Robert Habeck auf die "Merkel-Lücke" abgezielt. Das Ergebnis war, dass die Grünen sowohl an die Union als auch an die Linkspartei massiv verloren haben.
Der Ansatz von Robert Habeck und Annalena Baerbock war erfolgreich, er hat uns strukturell stärker in der Breite der Gesellschaft verankert. Die "Merkel-Lücke" aber hat sich zunehmend geschlossen. Menschen verändern sich, Wählergruppen auch. Ein Teil derer, die 2017 noch Angela Merkel gewählt haben, hat sich vermutlich mit Friedrich Merz nach rechts bewegt. Anderen steht Friedrich Merz zu sehr mit beiden Füßen in den 90ern – sie waren nach den Ampel-Jahren aber für uns nicht zu erreichen.
Was ist da passiert in den Ampel-Jahren?
Wir haben die Deutungshoheit über uns selbst verloren. Wir haben Fehler und es anderen damit leicht gemacht, uns in die ideologische Ecke zu stellen.
Welche Fehler?
Der verkrampfte Streit etwa, ob wir die Atomkraftwerke ein paar Monate länger laufen lassen oder nicht. Oder der sehr defensive Umgang mit dem Gebäudeenergiegesetz. Plötzlich war er wieder da, der Ideologie-Vorwurf. Und ob berechtigt oder nicht: Wir haben angefangen, uns für uns selbst zu entschuldigen. Die Hoffnung war, damit wieder als vernünftig und pragmatisch wahrgenommen zu werden. Stattdessen hat es dazu geführt, dass andere plötzlich definieren konnten, wer wir sind. Es wird eine der zentralen Aufgaben der nächsten Jahre sein, uns diese Deutungshoheit zurückzuholen.
Und was ist schiefgelaufen, dass die Grünen gleichzeitig massiv an die Linkspartei verloren haben?
Unserer progressiven Wählerschaft haben wir jahrelang das Gefühl gegeben, gar nicht mehr um sie kämpfen zu müssen. Dabei haben wir selbst eine Lücke entstehen lassen. Und die wurde von der Linkspartei gefüllt. Der Versuch zum Ende des Wahlkampfs, darauf zu reagieren, kam dann zu spät – und hat zu einer strategischen Unentschiedenheit geführt, die niemand mehr verstanden hat. Ich glaube: Wir können uns solche Unschärfen im polarisierten Parteiensystem nicht mehr leisten.
Wo sehen Sie die Unschärfen?
Wir treten ein für mehr Gerechtigkeit, werden aber immer noch als Elitenprojekt wahrgenommen. Wir kämpfen für konsequenten Klimaschutz, während sich der Zeitgeist stark dagegen gewendet hat. Wir sind – zu Recht – bereit, pragmatisch zu handeln, aber viele Menschen wissen nicht mehr, von welchem Standpunkt wir uns dafür eigentlich wegbewegen. Im Wahlkampf haben wir versucht, solche Unschärfen auch mit Stimmung zu überdecken. Das hat in Teilen funktioniert: Wir haben Zehntausende Mitglieder gewonnen, die Hallen waren überfüllt. Aber offensichtlich hat sich die Begeisterung nicht ausreichend auf die Wahlurne übertragen.
Haben Sie Ideen, wie das zu lösen ist?
Ich habe da ehrlicherweise noch mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen im Kopf. Das gehört zu einer aufrichtigen Auswertung auch dazu. Es wäre aber falsch, jetzt alles aus den letzten Jahren einzureißen und in die knallgrüne Nische zu kriechen. Es bleibt richtig, auch um die Mitte zu kämpfen – aber die ist halt nicht statisch, sondern formbar. Ich sehe meine Partei als Gegenpol zu einem konservativen Rechtsruck unter Friedrich Merz, als Zentrum des progressiven Teils der Gesellschaft – aber immer mit dem Ziel, diesen zu vergrößern. Dafür braucht es neue Allianzen und eine neue Konfliktfähigkeit.
Inwiefern?
Nehmen wir ein Beispiel: Wenn wir dafür sorgen wollen, dass Klimaschutz gesellschaftlich wieder die Relevanz bekommt, die die Klimakrise real längst hat, geht das nicht im Schonwaschgang. Wer die politische Agenda mitbestimmen und neue Mehrheiten formen will, muss bereit sein, in die Auseinandersetzung zu gehen.
Das heißt, das inoffizielle Motto des grünen Wahlkampfs beim Klimaschutz, nämlich "Kurs halten", war zu defensiv?
Robert Habeck hat beim Klimaschutz in Deutschland eine Kehrtwende geschafft. Kurs zu halten, auch Errungenschaften wie den Green Deal zu verteidigen, war und ist deshalb richtig. Aber gerade progressive Politik darf sich nicht im Verteidigen erschöpfen. Die Demokraten in den USA zeigen, wie gefährlich das ist: Sie verteidigen die politischen Spielregeln, den Anstand und letztlich die liberale Demokratie gegen die Republikaner unter Donald Trump.
Was ja ganz offensichtlich auch nötig ist.
Absolut, aber sie rennen nur noch hinterher. Zumal viele Menschen in den USA, aber zunehmend auch bei uns, inzwischen das Gefühl haben, die liberale Demokratie funktioniere für sie nicht mehr: auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssystem, bei den Mieten. Hier wird es nicht reichen, nur zu reagieren. Wir dürfen Veränderung und Disruption nicht den Rechtsextremen und Populisten überlassen. Wenn wir den Schub umkehren wollen, braucht es Kampfgeist und ein politisches Angebot, das mehr ist als: dagegen. Faschismus bekämpft man nicht nur mit Antifaschismus.
Aber was heißt das konkret für die Grünen?
Wir waren erfolgreich damit, in Zeiten von Polarisierung und Spaltung bewusst Brücken zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen und sehr unterschiedlichen Wählerschichten zu bauen. Aber wir müssen auch anerkennen, was sich gesellschaftlich verändert hat. Wenn wir heute eine Brücke bauen wollen, steht auf der anderen Seite oft jemand, der überhaupt keinen Bock darauf hat und unsere Brücke gleich wieder abfackeln will.
Also selbst Sprengmeister werden?
Auf keinen Fall! Aber wir brauchen ein neues Politikmodell, das bei aller Notwendigkeit von Kompromiss und Pragmatismus den Konflikt dort sucht, wo er ist. Die Mieterin aus Hamburg etwa und der Häuslebauer aus meinem Wahlkreis in Schwäbisch Gmünd mögen unterschiedlich viele Quadratmeter zu beheizen haben. Aber in der entscheidenden Frage stehen sie auf derselben Seite der Brücke: Sie wollen bezahlbare Energie. Ihnen gegenüber steht jemand ganz anderes: eine fossile Lobby, der es komplett egal ist, wie hoch die Heizkosten sind. Hier muss dann halt Schluss sein mit Vermittlerrolle.
Also sich nicht auf fragwürdige Gegensätze einlassen, sondern strukturelle Konflikte thematisieren, die alle teilen?
Genau. Im Privaten ist die Spaltung doch häufig viel geringer als im Politischen. Die unterschiedlichsten Milieus und Charaktere wollen oft dasselbe: ein bezahlbares Leben, Respekt, gute Bildung für ihre Kinder. Hier lassen sich Allianzen schmieden, die mehr versprechen als Formelkompromisse. Die mehr bringen, als unterschiedlichen Wählermilieus in unterschiedliche Richtungen nachzulaufen. Das muss ja scheitern.
Mit Formelkompromissen haben die Grünen in der Vergangenheit gerne die unterschiedlichen Positionen der Parteiflügel in der Migrationspolitik zu übertünchen versucht. Braucht es dort und eventuell auch bei anderen Themen jetzt echte Richtungsentscheidungen?
Wir werden Entscheidungen fällen müssen, ja. Wir verbringen viel Zeit damit, Formulierungen für Parteitagsbeschlüsse zu suchen, in denen jeder seinen Halbsatz wiederfindet. Das Ergebnis ist allerdings oft, dass da draußen niemand mehr versteht, was wir genau wollen. Auch hier wird es also mehr Klarheit brauchen. Ich habe an mir selbst gemerkt, wie schnell es manchmal geht: Eine Umfrage jagt die nächste, die Leute denken so, nicht so, dann müssen wir uns wohl anpassen. Wenn aber niemand mehr in den Talkshows widerspricht, weil alle ihre Positionen dem angleichen, was die Umfragen suggerieren, darf es auch nicht verwundern, wenn Menschen irgendwann wirklich glauben, Abschiebungen seien die Lösung all ihrer Probleme. Wir müssen uns auch in schwierigen Themen wieder zutrauen, meinungsbildende Kraft zu sein.
Die Grünen müssen jetzt neu laufen lernen.
Ricarda Lang
Aber ich höre da raus: Für Sie ist es nicht damit getan zu sagen, die Grünen müssen etwas linker oder etwas rechter werden?
Nein, darauf habe ich keine Lust. Die Aufgabe ist komplexer als "links oder rechts". Aber natürlich werden wir innerparteilich um Klarheit in den Positionen ringen müssen. Wann, wenn nicht jetzt?
Kann all das funktionieren, wenn sich am Führungspersonal nach der Wahl nun offenbar gar nichts mehr ändert?
Das stimmt ja nicht. Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock treten die beiden entscheidenden öffentlichen Figuren der Partei einen Schritt zurück. Sie haben die Partei seit 2017 wiederbelebt, das Land geprägt und viel für die Menschen in Deutschland geleistet. Die Grünen müssen jetzt neu laufen lernen. Und das werden wir.
Sie selbst wollen aber gerade nicht an führender Position dabei helfen?
Ich freue mich darauf, einfache Abgeordnete zu sein und – mit der Erfahrung, die ich als Parteivorsitzende sammeln durfte – für das zu kämpfen, was mich in die Politik gebracht hat: Gerechtigkeit. Es ist ja nicht so, dass man ohne Spitzenamt keinen Einfluss hätte.
Aber ausschließen, dass Sie irgendwann wieder Lust auf die erste Reihe haben, würden Sie auch nicht?
Nein. Ich werde jetzt hier nicht den Markus "mein Platz ist in Bayern" Söder machen. So schmerzfrei bin ich nun auch nicht.
Frau Lang, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch mit Ricarda Lang am 5. März in Berlin