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Landtagswahl in Thüringen: FDP-Kandidat Thomas Kemmerich – der Einzelkämpfer


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FDP-Mann Thomas Kemmerich
Der Einzelkämpfer


28.08.2024Lesedauer: 6 Min.
FDP-Wahlkämpfer in Thüringen: Thomas Kemmerich setzt im Wahlkampf auf Thomas Kemmerich.Vergrößern des Bildes
FDP-Wahlkämpfer in Thüringen: Thomas Kemmerich setzt im Wahlkampf auf Thomas Kemmerich. (Quelle: Florian Schmidt/t-online)

Einsam kämpft Thomas Kemmerich in Thüringen um den Wiedereinzug in den Landtag: Der FDP-Mann bekommt keine Hilfe aus der Bundespartei. Warum er trotzdem an seinen Erfolg glaubt – und was seine Cowboystiefel damit zu tun haben.

Die Frau in der rostbraunen Bluse bleibt kurz stehen und blickt den Mann im dunklen Anzug neugierig an. Schüttelt leicht den Kopf, fast winkt sie ab, dann aber gibt sie sich einen Ruck. Den weißen Einkaufsbeutel unterm Arm steuert sie auf ihn zu. "Wissen Sie", sagt sie, während sie ihn im grellen Sonnenlicht anblinzelt, "ich habe eigentlich nur eine Frage: Haben Sie sich damals nun von der AfD wählen lassen – oder nicht?"

Der Anzugträger antwortet nicht sofort, überlegt. Dann entgegnet er: Man könne sich nicht wählen lassen, sondern lediglich kandidieren. Wer dann in geheimer Wahl für wen stimmt, wisse man nicht, das müsse sie verstehen. Für ihn sei aber klar: Mit den Rechtspopulisten wolle er nicht zusammenarbeiten. "Ich stehe für eine bürgerliche Politik, die den einzelnen Menschen in den Fokus nimmt. Und ich möchte, dass all die Fleißigen in unserem Land wieder mehr Anerkennung bekommen für ihre Leistung. Dafür können Sie mich wählen."

Der, der hier spricht, ist Thomas Karl Leonard Kemmerich, 59 Jahre alt, Spitzenkandidat der FDP bei der Landtagswahl in Thüringen am kommenden Sonntag. Es ist Montag, der schreckliche Terror von Solingen steckt dem Land tief in den Knochen, und Kemmerich absolviert eine Reihe von Wahlkampfterminen in Erfurt: Zunächst steht er mehrere Stunden am Straßenstand in der örtlichen Fußgängerzone, dem Anger, später geht es weiter zu einem Unternehmensbesuch. Dann noch eine Podiumsdiskussion bei der Industrie- und Handelskammer, am Abend schließlich die große MDR-Wahlarena mit dem Spitzenpersonal der anderen Parteien.

Kemmerich, der Einzelkämpfer

Es ist ein harter Wahlkampfendspurt für Kemmerich, und das nicht nur wegen des enormen Pensums, das er abreißt, und auch nicht wegen der schwachen Umfragen, die die FDP in Thüringen derzeit bei 3 Prozent und damit ab Sonntag außerhalb des Landtags sehen. Das Rennen ist für Kemmerich auch deshalb schwierig, weil er es weitgehend allein bestreiten muss.

Als einziger Spitzenmann einer großen Partei bekommt er im Thüringer Wahlkampf keinerlei Unterstützung aus der Bundespolitik. Niemand aus der Bundes-FDP tritt mit ihm gemeinsam auf, Parteichef Christian Lindner nicht und auch nicht Generalsekretär Bijan Djir-Sarai oder andere liberale Zugpferde wie zum Beispiel Wolfgang Kubicki. Und: Kemmerich erhält keinen Cent aus der Berliner Parteizentrale, dem Hans-Dietrich-Genscher-Haus. Seine Thüringer FDP muss den gesamten Wahlkampf selbst finanzieren und dafür Spenden einsammeln. Kemmerich ist Einzelkämpfer. Man könnte auch sagen: eine Art Aussätziger.

Der Grund dafür liegt vier Jahre zurück und hängt direkt mit der Szene zusammen, auf die Kemmerich auch von der Dame am Wahlkampfstand angesprochen wird: Es ist der 5. Februar 2020, der Tag, an dem abseits von Thüringen die allermeisten erstmals überhaupt von Kemmerich Notiz genommen haben dürften.

Lindner gewinnt den Machtkampf

Nach langen Gesprächen stellt sich damals Bodo Ramelow (Linke) ohne eigene Mehrheit als Ministerpräsident zur Wahl – und fällt zweimal hintereinander durch. Die Liberalen schicken daraufhin im dritten Wahlgang Kemmerich als Kandidaten fürs Ministerpräsidentenamt ins Rennen. Eigentlich ein aussichtsloses Unterfangen für eine Partei, die es mit Ach und Krach überhaupt in den Landtag geschafft hat, eher so etwas wie ein symbolischer Akt. Doch entgegen aller Erwartungen erhält Kemmerich in geheimer Abstimmung die meisten Stimmen, während der AfD-Kandidat mit einem Mal komplett leer ausgeht. Schnell ist klar, was die AfD später bestätigt: Kemmerich ist mit Stimmen der Rechtspopulisten gewählt worden. Und nimmt die Wahl ohne Bedenkzeit auch an.

Der Rest ist Geschichte: Aus Südafrika schaltet sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ein, spricht von einem "unverzeihlichen" Fehler, der "rückgängig" gemacht werden müsse. Weil auch die CDU-Fraktion gemeinsam mit der AfD für Kemmerich statt für Ramelow gestimmt hat, reist die damalige CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nach Erfurt, um die Truppe um Fraktionschef Mike Mohring zur Räson zu bringen. Dabei gibt sie eine unglückliche Figur ab, einen Monat später erklärt sie ihren Rückzug von der Parteispitze.

Christian Lindner dagegen – damals wie heute Chef der Liberalen – stolpert nicht. Er gewinnt den Machtkampf gegen Kemmerich. Indem er seinen eigenen Verbleib an der Spitze der Partei an Kemmerichs Rücktritt kettet, gelingt es ihm, diesen davon zu überzeugen, vom Amt des Ministerpräsidenten zurückzutreten und den Weg frei zu machen für eine erneute Wahl Bodo Ramelows.

Partei entzieht ihm schon 2020 Unterstützung

Diese innerparteiliche Schlappe für Kemmerich wirkt bis heute nach. Zwar kann er sich im Nachgang als Landeschef der FDP in Thüringen behaupten. An der Parteibasis ist er beliebt, auch weil er das ist, was viele einen "Klartexter" nennen. Aber: Weil er später klartextet, nicht er, Kemmerich, sondern andere hätten im Zuge seiner unrühmlichen Wahl Fehler gemacht, versagt ihm die Bundespartei schon im Oktober 2020 jegliche Hilfe im jetzigen Wahlkampf.

Seitdem gilt das Verhältnis zwischen Kemmerich und Lindner als zerrüttet. Telefoniert wird nicht, heißt es im Umfeld der beiden. Und auch sonst betrachten viele in der Partei Kemmerich als Enfant terrible, als einen, mit dem nur wenige spielen wollen. Heute scheint das Kalkül in Berlin zu sein: Schafft er es entgegen aller Widrigkeiten doch wieder in den Landtag, hat er es sich verdient, wieder in den Familienschoß aufgenommen zu werden. Kemmerich, der verlorene Sohn, dürfte dann heimkehren.

Gelingt ihm der Wiedereinzug dagegen nicht – so wie es derzeit alle Umfragen prognostizieren –, hat sich das Thema womöglich von selbst erledigt. Dann bliebe ihm wohl nur der Rücktritt, und die Partei müsste sich in Thüringen gänzlich neu aufstellen.

Eine halbe Million Euro neuer Spenden

Für Kemmerich geht es deshalb in mehrfacher Hinsicht ums Ganze. Seine Strategie, auch an diesem Montag in der Erfurter Fußgängerzone: Die Bürgerlichen ansprechen sowie diejenigen, die vielleicht die AfD, nicht jedoch Björn Höcke gut finden – und dabei voll auf die eigene Person setzen. Auf die Marke Kemmerich.

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"Ich bin in Thüringen sehr bekannt. Und ich bin hier weit beliebter als die FDP selbst", sagt er über sich. "14 Prozent der Thüringer wollen, dass ich im nächsten Landtag vertreten bin." Wenn von diesen Menschen nur jeder Zweite sein Kreuz bei den Liberalen mache, gehe die Rechnung auf: "Dann knacken wir die Marke von 6 bis 8 Prozent. Dann sind wir drin."

Mut macht ihm und seinen Mitstreitern im Land dabei auch das enorme Spendenaufkommen. Im September 2023 habe die Partei über ein Budget in Höhe von rund 100.000 Euro verfügt, seitdem habe man zusätzlich 500.000 Euro Spenden akquiriert. Für einen sehr kleinen Landesverband mit rund 1.300 Mitgliedern ist das eine enorme Summe – die auch als Signal in Richtung Bundespartei verstanden werden kann: Seht her, wir schaffen’s auch so. Die Marke Kemmerich zieht.

Mit Cowboystiefeln "Anlauf nehmen"

Das Symbol dieser Marke trägt Thüringens Oberliberaler auch heute wieder an den Füßen. Inzwischen ist es Nachmittag geworden, Besuch bei den Erfurter Malzwerken, ein Traditionsunternehmen mit 45 Mitarbeitern in direkter Innenstadtnähe. Kemmerich steigt die Stufen zu einem hohen Turm in Cowboystiefeln hinauf.

Seitdem er 16 ist, läuft er so herum, erzählt er. Zunächst, um seine Eltern zu provozieren, doch auch als die Modewelle abebbte, behielt er die Stiefel an, besorgte sich immer wieder neue. Aus den USA, aus Spanien, zwischenzeitlich auch aus Holland. Drei Paar hat Kemmerich in der "Dauernutzung". "Die sind einfach wahnsinnig bequem", sagt er. "Und ja, die Stiefel verbindet man mit mir. Deshalb haben wir sie auch auf die Großplakate drucken lassen."

Dort, gut sichtbar auch an den Erfurter Magistralen, prangen die Stiefel als Schwarz-Weiß-Aufnahme neben dem Blumenstrauß, wie ihn die Linken-Politikerin Susanne Henning-Wellsow nach der Wahl zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten vor seine Füße knallte. Wieder der Bezug zum 5. Februar 2020, Kemmerich kokettiert damit, wenn er sagt: Das sei eine "Schlüsselszene für viele Menschen in Thüringen" gewesen. Er bekomme weiter viel Zuspruch für seine damaligen Entscheidungen. Der Wahlspruch auf dem Plakat: "Zurücktreten, um Anlauf zu nehmen."

Er wünscht sich eine Regierungsbeteiligung

Und was, wenn er trotz Anlauf nicht weit genug springt? Wenn sein Kalkül nicht aufgeht und er aus dem Landtag ausscheidet?

"So weit denke ich nicht", sagt Kemmerich. "Thüringen braucht einen wie mich. Einen Unternehmer, der gerade die Sorgen der Wirtschaft gut versteht und der ihre Probleme angehen will." Seine Traumvorstellung wäre eine Minderheitskoalition aus CDU, SPD und FDP, die sich ihre Mehrheiten für einzelne Vorhaben mit Stimmen der Linken und des BSW organisiert, nicht mit der AfD. Schmiedet die CDU derweil statt mit ihm mit dem BSW ein Bündnis, wäre aber auch die Rolle als "einzige bürgerliche Opposition" für ihn in Ordnung.

In der Berliner Parteizentrale scheint man weder an das eine noch an das andere zu glauben. Ob der mauen Umfragewerte, die die FDP in Thüringen, aber auch in Sachsen, wo am Sonntag ebenfalls gewählt wird, gerade einfährt, ist im Genscher-Haus sicherheitshalber keine Wahlparty geplant. Lediglich ein kurzes Statement soll es geben, und das nicht mal von Lindner als Parteichef, sondern von seinem Generalsekretär Djir-Sarai.

Kemmerich sagt: "Wir machen eine Party am Wahlabend, ganz klar." Ob er sich als tapferer Wahlkämpfer tags darauf den traditionellen Blumenstrauß in der Hauptstadt abholt, will er sich derweil noch überlegen. "Eingeladen bin ich, aber ich weiß noch nicht, ob ich das zeitlich schaffen werde", sagt Kemmerich. Die Gräben zwischen Thüringen und Berlin klaffen weiter tief.

Verwendete Quellen
  • Eigene Eindrücke und Recherche vor Ort
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