Auch Söder in der Schusslinie Charlotte Knobloch lehnt Aiwanger-Entschuldigung ab
Mit seiner Entscheidung, die Flugblatt-Affäre zu begraben, wollte Bayerns Ministerpräsident seine Regierung stabilisieren. Nun steht er selbst in der Kritik.
Auf der Pressekonferenz am Sonntagmittag sprach Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in München ein Macht- und Schlusswort: Er werde trotz eines antisemitischen Flugblatts aus der Jugendzeit seines Stellvertreters Hubert Aiwanger an diesem festhalten. Söder bedauere diese Angelegenheit, die auch Bayern geschadet habe, aber mit dieser Entscheidung "ist die Sache abgeschlossen". Sein einziger Rat an Aiwanger: Er solle das Gespräch mit jüdischen Gemeinden suchen.
Das tat dieser dann gleich im Anschluss und rief die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, an, die viele Jahre auch den Zentralrat der Juden in Deutschland geführt hat. Diese habe Aiwangers Entschuldigung nach eigener Aussage jedoch abgelehnt. "Ich habe ihm meine Meinung zu ihm, zu seiner Person ganz klar erklärt. Ich habe die Entschuldigung nicht angenommen", so Knobloch im Deutschlandfunk am Montag.
Die 90-Jährige überlebte den Holocaust als Kind selbst nur, da eine ehemalige Hausangestellte ihres Onkels sie drei Jahre lang versteckte. Ihre Großmutter, bei der sie zuvor gelebt hatte, verhungerte im Ghetto Theresienstadt.
Bereits am Sonntag hatte Knobloch angedeutet, unsicher zu sein, inwieweit es Aiwanger gelingen werde, die Antisemitismus-Vorwürfe, die noch im Raum stünden, "mit Worten und Taten zu entkräften". Am Montag bekräftigte sie jedoch erneut, dass die Entscheidung von Ministerpräsident Söder in dem Fall politisch zu akzeptieren sei. In der Bundes- und Landespolitik sowie bei anderen jüdischen Organisationen scheint man dies anders zu sehen – hier steht auch Söder in der Schusslinie.
Scharfe Kritik trifft Bayerns Ministerpräsidenten
So hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Söders Entscheidung sogar als Schaden für das Ansehen ganz Deutschlands bezeichnet. "Herr Söder hat nicht aus Haltung und Verantwortung entschieden, sondern aus schlichtem Machtkalkül", sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).
So verschieben sich Grenzen, die nicht verschoben werden dürfen.
Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin
Der Umgang mit Antisemitismus dürfe keine taktische Frage sein, sagte Faeser und fügte hinzu: "Herr Aiwanger hat sich weder überzeugend entschuldigt noch die Vorwürfe überzeugend ausräumen können." Stattdessen erkläre er sich "auf unsägliche Weise" selbst zum Opfer. Dabei denke er "keine Sekunde an diejenigen, die noch heute massiv unter Judenfeindlichkeit leiden. So verschieben sich Grenzen, die nicht verschoben werden dürfen." Faeser weiter: "Dass Herr Söder dies zulässt, schadet dem Ansehen unseres Landes."
Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sagte der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf Aiwanger: "Sich als Jugendlicher möglicherweise zu verlaufen, ist das eine, sich als verantwortlicher Politiker zum Opfer zu machen und der Inszenierung wegen an den demokratischen Grundfesten zu rütteln, ist das andere." Da sei eine Grenze überschritten. Vor dem Hintergrund sei die Entscheidung Söders "leider keine gute."
Auch die Einschätzung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) fiel eher kritisch aus, besonders mit Blick auf Aiwangers Krisenmanagement. "Wir haben gesehen, bei Herrn Aiwanger gab es scheibchenweise Bekenntnisse, es gab Erinnerungslücken und Medienschelte", so Lindner im "Bericht aus Berlin" der ARD. Was es dagegen nicht gegeben habe, sei "eine klare Position, Reue und Entschuldigung". Dieser Umgang mit den "entsetzlichen Vorwürfen" sei nicht geeignet, um das Ansehen des Freistaats Bayern zu erhalten und zu mehren. "Da übernimmt Herr Söder jetzt mit Verantwortung."
Mit seiner Entscheidung habe der bayerische Ministerpräsident nun seine politische Zukunft mit der von Herrn Aiwanger verknüpft. Ob dies seiner Ansicht nach klug sei, ließ er offen, betonte aber, dass wahltaktische Überlegungen in solchen Haltungsfragen keine Rolle spielen dürften.
Wendepunkt zur "Trumpisierung" deutscher Politik
Die Vorsitzenden der bayerischen SPD, Florian von Brunn und Ronja Endres, sprachen auf der Plattform X (ehemals Twitter) mit Blick auf Söders Rückendeckung für Aiwanger von einem "negativen Höhepunkt in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland".
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Die bayerische Landesvorsitzende der Grünen, Katharina Schulze, kritisierte, dass Söder mit seinem Handeln gerade nicht, wie dieser betont hatte, für Stabilität in Bayern sorge. Der Ministerpräsident habe sich "für Taktik statt für Haltung" entschieden.
Und das, obwohl "allein der Anschein von Antisemitismus in der Staatsregierung" dem Ansehen Bayerns schade. Dass Aiwanger nach der Flugblatt-Affäre bleiben darf, rüttele am demokratischen Grundkonsens deutscher Erinnerungskultur.
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Lehmann: Erschreckende Normalisierung
Sven Lehmann, ebenfalls bei den Grünen und parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, äußerte sich ähnlich ungläubig auf X. Er gehe davon aus, dass der Fall vor fünf bis zehn Jahren noch zum Rauswurf Aiwangers geführt hätte. "Dass Markus Söder ihn im Amt hält, ist eine erschreckende Normalisierung von menschenfeindlichen Positionen in hohen Staatsämtern. Und klebt ab jetzt an ihm", so Lehmann.
Aus Brüssel warnte Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europaparlaments und einstige Bundesfamilien- und Bundesjustizministerin, vor den Folgen von Söders Entscheidung. Auf X schrieb sie: "Im Rückblick wird die Trumpisierung der deutschen Politik nicht mit der AfD verbunden werden. Sondern mit einem ignoranten, skrupellosen Provinzpolitiker und einem schwachen konservativen Ministerpräsidenten."
Doch auch aus der CDU wird Kritik laut. So betont Ruprecht Polenz, einst langjähriger CDU-Bundestagsabgeordneter, dass Söder sich mit seiner Entscheidung selbst geschwächt habe und rechte Kräfte noch weiter anfeuern dürfte.
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Während sich die AfD-Accounts auf X mit Kommentaren jedoch eher zurückhalten und auch der bayerische Landeschef, Stephan Protschka, nur davon spricht, dass eben die Unschuldsvermutung gelte, hatte die einstige AfD-Parteichefin Frauke Petry bereits am Samstag die gesellschaftliche Aufregung um den Fall kritisiert. Sie forderte auf X, man solle sich, wenn überhaupt, mit dem "Denunzianten-Lehrer" auseinandersetzen. Die "Süddeutsche Zeitung" hatte in der vorigen Woche erstmals von dem Flugblatt Aiwangers berichtet und sich dabei auf die Aussagen eines ehemaligen Lehrers des Politikers berufen.
Aiwanger noch bei Holocaust-Gedenken vorstellbar?
Seitens jüdischer Organisationen meldete sich unter anderem die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zu Wort. Auch hier hält man Aiwanger inzwischen für untragbar. Die rhetorische Frage der RIAS auf X: "Können Sie sich Aiwanger nach der Wahl bei Gedenkveranstaltungen im KZ Dachau vorstellen?"
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, legte Aiwanger einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau nahe. "Es wäre jetzt ein gutes Zeichen, wenn er nicht nur das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden, sondern auch mit den Gedenkstätten in Bayern sucht und deren wichtige Arbeit stärkt, etwa durch einen Besuch in Dachau. Damit käme er seiner Vorbildfunktion als verantwortlicher Politiker nach", sagte Klein dem RND.
Das Internationale Auschwitz-Kommitee (IAK), ein Zusammenschluss von Holocaust-Überlebenden, forderte Aiwanger auf, nun aus eigenen Stücken zu gehen. "Die gesellschaftliche Spaltung, die er mit seinen egomanischen Redereien weiter anfacht, werden zunehmend größer", schrieb die Organisation auf der Plattform X.
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Jeder öffentliche Auftritt des Politikers, sei es im Bierzelt oder auf dem Festplatz, gerate zu einer demonstrativ beklatschten Unterstützung seiner Flugblatt-Aussagen. Dass er wiederholt davon gesprochen habe, er solle politisch "vernichtet" werden, sei in diesem Zusammenhang und besonders in der Wortwahl unangemessen und für Überlebende des Holocaust "unerträglich", so das IAK.
Freie Wähler begrüßen Entscheidung Söders
Die Landtagsfraktion der Freien Wähler in Bayern hat das Festhalten des Ministerpräsidenten an ihrem Parteichef hingegen begrüßt. "Wir sind froh, dass die Bayernkoalition für unser Land stabil und in Einmütigkeit weiterarbeiten wird", sagte Freie-Wähler-Fraktionschef Florian Streibl am Sonntag laut einer Mitteilung. Am 8. Oktober wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt. CSU und Freie Wähler hatten bisher stets erklärt, ihre Koalition nach der Wahl fortsetzen zu wollen. Das bekräftigte Söder am Sonntag erneut.
Freie-Wähler-Chef Aiwanger hatte zuvor in seinen Antworten auf einen Fragekatalog Söders bekräftigt, das antisemitische Flugblatt, das bei ihm während seiner Schulzeit gefunden worden war, nicht verfasst zu haben. Sein älterer Bruder hatte vor rund einer Woche mitgeteilt, dass es von ihm stamme.
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa