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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Julia Klöckner Sie will das so nicht stehenlassen

Nimmt die neue Bundestagspräsidentin die Gefahr für die Demokratie ernst genug? Besonders die Grünen zweifeln an Julia Klöckner – obwohl die ein wichtiges Versprechen macht.
Julia Klöckner ist überpünktlich, aber das wird ihr hier auch nicht helfen. Es ist Montag kurz vor halb drei im Bundestag, als die designierte Parlamentspräsidentin vor dem Fraktionssaal der Grünen ankommt. Die Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann empfangen die Besucherin, es ist ein großes Hallo mit noch größerem Lachen in den Gesichtern.
Im Saal, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vergeht vielen Grünen offenbar das Lachen. Klöckner sei bei ihrer Vorstellung "unvorbereitet", "fahrig" und "floskelhaft" gewesen, wird später kolportiert. Als "fatal" oder gar "eine Katastrophe" beschreiben einige ihren Auftritt hinter vorgehaltener Hand. Den Auftritt einer Frau, die nun als Bundestagspräsidentin das zweithöchste Amt im Staat nach dem Bundespräsidenten bekleidet.
Der Grüne-Jugend-Chef Jakob Blasel schreibt anschließend auf der Plattform Bluesky: "Diese Politikerin ist eine Gefahr für die Demokratie, weil sie die Bedrohung durch die AfD im Parlament immer wieder verharmlost."
Nun ist es so, dass die Grünen in der Opposition ihre Vorliebe zu großen Emotionen und scharfer Kritik wiederentdeckt haben. Der Kern ihrer Sorge scheint aber echt zu sein: Sie haben das Gefühl, dass Klöckner den Ernst der Lage für die Demokratie nicht erkennt – mit einer AfD, die sich fast verdoppelt hat und nun mit 152 Abgeordneten zweitstärkste Fraktion ist. Ein erster Test für sie zeichnet sich schon jetzt ab: Wie ernst meint es Klöckner mit der Reform der Geschäftsordnung?
Höhere Strafen, mehr Sanktionsmöglichkeiten
Die Geschäftsordnung ist so etwas wie die Hausordnung des Bundestages. Welche Gremien sind wofür zuständig? Wie laufen Abstimmungen ab und welche Mehrheiten braucht es? Aber auch: Was dürfen Abgeordnete und was dürfen sie nicht? All das ist aus Sicht der Grünen, aber auch der SPD und der Linken entscheidend, um die "politische Kultur" hochzuhalten – und den Einfluss der AfD gering.
Schon die Ampelkoalition hatte sich vorgenommen, die Geschäftsordnung zu reformieren. Es kam nicht dazu, auch weil sich SPD, Grüne und FDP mit der Union nicht einigen konnten. Ihr Entwurf sah zum Beispiel vor, das Ordnungsgeld bei besonders unangemessenen Zwischenrufen von 1.000 auf 2.000 Euro zu verdoppeln, im Wiederholungsfall von 2.000 auf 4.000 Euro. Es sollte zudem eine Regelung geben, durch die Abgeordnete automatisch zahlen müssen, wenn sie innerhalb von drei Sitzungswochen drei Mal zur Ordnung gerufen werden.
Auch in den Ausschüssen, wo die fachliche Arbeit im Bundestag passiert, wollte die Ampel die Regeln verschärfen. Ausschussvorsitzende sollten bei erheblichen Störungen Politiker von den Beratungen ausschließen können, sofern eine Mehrheit zustimmt. Das Wahlprozedere der Bundestagsvizes sollte ebenfalls so verändert werden, dass die AfD nicht mehr die Möglichkeit hat, das Parlament die ganze Wahlperiode mit immer neuen Personalvorschlägen zu langwierigen und letztlich doch erfolglosen Abstimmungen zu beschäftigen.
Klöckner: Gradmesser ist "der Anstand"
Als Julia Klöckner am späten Dienstagmittag am erhöhten Platz im Bundestagspräsidium steht und ihre erste Rede als neu gewählte Bundestagspräsidentin hält, hören die Grünen auch deshalb genau hin. Mancher wird am Rande der ersten Sitzung des neuen Bundestages später sagen, das sei nicht so schlimm gewesen wie befürchtet. Aus grünem Mund kommt das gerade fast einem Lob gleich.
Klöckner sagt in ihrer Rede Sätze, die auch Grünen gefallen müssten. "Ich werde darauf achten, dass wir ein zivilisiertes Miteinander pflegen, und wenn wir dies nicht tun, dann erlernen." Sie werde nicht nur die Redezeiten kontrollieren, sondern "hinhören", was am Rednerpult und im Saal gesagt werde. "Und auch hierbei gibt es einen ganz klaren Gradmesser für mich: der Anstand."
Und Klöckner verspricht auch, etwas an der Geschäftsordnung zu machen. Sie werde dafür arbeiten, "dass wir in dieser Legislaturperiode eine Reform gemeinsam hinbekommen". Zur "Stärkung des Parlaments" halte sie die für "sehr essenziell". Klingt für die Grünen erst mal gut.
Grüne wollen "Mindeststandards" für die Rede
Was Klöckner nicht sagt, ist, was sie damit genau meint. An der Stelle war sie auch schon bei ihrem Besuch in der Grünen-Fraktion am Montag sehr vage geblieben, wie Grüne kritisieren. Klöckner habe über die Herausforderungen für die Demokratie ohnehin erst auf Nachfrage etwas gesagt, heißt es. Das macht die Grünen skeptisch, wie überzeugt sie davon wirklich ist – und wie weit sie gehen will.
Die Grünen nämlich wollen in der Geschäftsordnung zum Beispiel auch festschreiben, was am Rednerpult im Bundestag nicht erwünscht ist. Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, nennt das am Dienstag "Mindeststandards für die parlamentarische Rede". Man wolle "nicht dulden, dass hier im Plenum rassistische, beleidigende, sexistische und extremistisch Äußerungen fallen".
Klöckner nähert sich dem Thema in ihrer Rede eher von der anderen Seite. "Die Verengung des zulässigen Diskurses", sagt sie, sei "keine gute Entwicklung in jüngster Zeit". Wer Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt ernst nehme, müsse auch andere Sichtweisen ertragen und aushalten. Der kontroverse Diskurs gehöre dazu, "nach klaren Regeln, nach klaren Verfahren". Und: "Nicht jede Meinung, die ich selbst nicht teile, kommt dem Extremismus gleich. Demokratie ist im besten Sinne Zumutung."
Klöckner: Hier "mauschelt kein Kartell"
Was das für Klöckners Meinung zu den "Mindeststandards für die parlamentarische Rede" und für andere strengere Ordnungsregeln bedeutet, da sind sich die Grünen selbst nicht einig. Einige wollen Klöckner in der Fraktion so verstanden haben, als wolle sie das nicht. Andere sind optimistischer. Zumal auch einflussreiche Grüne eher weiche Formulierungen bei den Redestandards wollen, die der Parlamentspräsidentin viel Spielraum lassen – damit die Meinungsfreiheit gewahrt bleibt.
Ganz am Schluss, als die erste Sitzung des neuen Bundestages schon fast sechs Stunden dauert, wird es plötzlich noch mal laut. Julia Klöckner hat gerade verkündet, dass der AfD-Kandidat für den Posten des Bundestagsvize, Gerold Otten, zum dritten und für heute letzten Mal bei der Wahl durchgefallen ist. "Das Kartell hat wieder gemauschelt!", ruft jemand von der AfD dazwischen.
Und Klöckner lässt das nicht so stehen. "Ich möchte Sie gerne in Kenntnis setzen", sagt sie, "dass das hier demokratische Vorgänge einer Mehrheit sind, und hier in diesem Bundestag mauschelt kein Kartell." Einen zu laschen Umgang mit der AfD will sich Julia Klöckner an ihrem ersten Tag wohl nicht vorwerfen lassen.
- Eigene Recherche
- bundestag.de: Anträge zur Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages überwiesen (Archiv)