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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Entlastungspaket Die große 65-Milliarden-Trickserei
Um 65 Milliarden Euro soll das jüngste Anti-Krisen-Paket die Bürger entlasten. So verspricht es die Regierung. Aber stimmt das überhaupt?
Größenwahn gehört nicht unbedingt zu jenen Charaktereigenschaften, die Olaf Scholz nachgesagt werden. Der Kanzler neigt nicht zur riesigen Geste – und redet zumeist auch so leise und unpathetisch, dass niemand sensationelle Ankündigungen erwartet.
Und dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen bei Scholz Präsentation und Inhalt arg auseinanderfallen. Der Kanzler schaltet dann in den Krisenmodus und trägt im monotonen Tonfall etwas vor, das es in sich hat. Als 2020 die Corona-Pandemie Deutschland erreichte, mobilisierte der damalige Finanzminister so viel Geld, dass er von einer "Bazooka" sprach. Später erklärte er, man wolle "mit Wumms" aus der Krise kommen.
Und vor Kurzem sagte Scholz all jenen Bürgern, die sich angesichts drastisch steigender Preise Sorgen machen: "You'll never walk alone." Es war ein weiteres, riesengroßes Versprechen von Scholz.
Alle Maßnahmen ins Schaufenster
Auf den ersten Blick hat der Kanzler seine Zusage nun eingehalten. Nach mehr als 20-stündigen Verhandlungen einigte sich die Ampel am Wochenende auf ein umfangreiches Entlastungspaket. Es ist bereits das dritte in diesem Jahr. Auf 13 Seiten listen die Koalitionäre zahlreiche Maßnahmen auf, die das Leben in Krisenzeiten erleichtern sollen. Insgesamt, so die Regierung, umfasse das Paket beachtliche 65 Milliarden Euro – und damit doppelt so viel wie die ersten beiden Entlastungspakete.
Das klingt nach Bazooka, nach Wumms und einer Regierung, die wirklich niemanden allein lässt. Und es stimmt ja auch: Die Maßnahmen erreichen in der Tat viele, die sich bislang zumindest alleingelassen fühlten, etwa Rentner und Studenten. Sie bekommen nun ebenfalls Direktzahlungen. Das jüngste Paket begünstigt Geringverdiener durch eine Ausweitung des Wohngeldes und eine Reduzierung der Beiträge zur Sozialversicherung. Dass die nächste CO2-Preiserhöhung verschoben wird, dämpft zumindest den weiteren Anstieg der Energiepreise. Und, und, und.
Nur kommen so noch längst nicht jene 65 Milliarden Euro zusammen, von denen seit Sonntag ständig die Rede ist. Denn der Kanzler und seine Koalition haben sich auch zweier Methoden bedient, die in der Politik nicht völlig unüblich sind, aber eben auch nicht ganz sauber: Die Ampel trickst erstens ein wenig, indem sie alle Maßnahmen ins Schaufenster der Entlastungen stellt, die sie finden konnte. Auch jene, die sie eh geplant hatte oder sowieso umgesetzt hätte. So wie die Einführung des Bürgergeldes und den Abbau der kalten Progression.
Zweitens setzen SPD, Grüne und FDP ganz stark auf das Prinzip Hoffnung, sie drücken sich also selbst alle Daumen. Denn einige Maßnahmen klingen gut, aber es gibt ja immer diese nervigen Details. Das gilt vor allem für die geplante Strompreisbremse, mit der die Verbraucher massiv entlastet werden sollen. Die EU muss dabei mitreden – und selbst wenn die Ampel sich für einen nationalen Alleingang entscheidet, mit dem sie droht, werden noch viele Einzelheiten Schwierigkeiten bereiten.
Gibt es eine europäische Lösung?
Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil es sich bei Strom und Gas um die wichtigsten Reformen handelt. Sie reichen an die Wurzel der Probleme heran und mildern nicht nur die Folgen, indem sie den Anstieg der Energiepreise mindern. Obwohl die hohen Gaspreise derzeit auch der Grund für die hohen Strompreise sind, bleiben die Beschlüsse bei diesem Thema allerdings maximal vage.
Um beim Gas die Preise zu dämpfen, wird erst einmal nur eine "Expertenkommission" aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbraucherschutz eingesetzt. Sie soll "zeitnah klären", ob und wie das funktionieren könnte, heißt es im Beschlusspapier. Dass diese Kommission überhaupt in den Beschlüssen aufgelistet ist, wird in der SPD schon als sozialdemokratischer Erfolg gewertet. Die FDP war wohl nicht sonderlich überzeugt davon.
Der vorher diskutierte Gaspreisdeckel ist dem Vernehmen nach auch wegen fachlicher Bedenken aus den Ministerien weitgehend verworfen worden. Der Markt sei zu kompliziert und auch der Umgang mit Fernwärme oder Ölheizungen ungeklärt. Deshalb sollen nun Modelle für ein Grundkontingent an Wärme (unabhängig vom Energieträger) beraten werden. Am liebsten wäre der Ampel dabei eine europäische Lösung. Ob es die gibt und wann? Das ist offen.
Und was macht die EU?
Bei der Reform des Strommarkts ist immerhin etwas klarer, wo es hingehen soll. Die Ampel will die Übergewinne der Energieunternehmen, die aus Rücksicht auf die FDP nun "Zufallsgewinne" heißen, abschöpfen, um mit dem Geld eine "Strompreisbremse" sowie einen Zuschuss zu steigenden Netzentgelten zu finanzieren. Ein Basisverbrauch an Strom soll so zu einem günstigen Preis angeboten werden. Wie hoch Basisverbrauch und Preis sein sollen? Offen.
Ebenso wenig steht bisher fest, ob die Abschöpfung der Übergewinne EU-weit geregelt wird. Die Ampel wünscht sich das und will in Brüssel Druck machen. Klappt das nicht, will die Regierung das Geld national abschöpfen, was dem Vernehmen nach wegen der Marktstruktur zumindest besser funktionieren würde als beim verwobenen Gasmarkt.
Das alles bedeutet aber auch, dass erst einmal mehrere Wochen vergehen werden, in denen in Berlin auf ein Konzept der Kommission gewartet wird. Ob das alles dann genug Geld einbringt, damit die Strompreisbremse ausreichend wirkt? Das ist angesichts der komplizierten Lage natürlich auch noch unklar.
Vertrackt ist auch die Lage beim 9-Euro-Ticket. Der Bund will ein Nachfolgemodell zwar mit 1,5 Milliarden Euro bezuschussen, aber nur, wenn die Länder mindestens die gleiche Summe zur Verfügung stellen. Es kann sich zwar kein Ministerpräsident leisten, dass dieses Thema im Föderalismus zerredet wird; aber sicher kann sich in der Bundesregierung eben auch niemand sein. Schließlich würde ein bundesweit gültiges Ticket die unzähligen Nahverkehrsverbünde weitgehend überflüssig machen. Doch die sind mehr als nur regionale Fürstentümer – und mächtig. Das letzte Wort ist hier noch längst nicht gesprochen.
Vieles war ohnehin geplant
Eine Revolution im Verkehrs- und im Energiesektor? Ob es zu diesen fundamentalen strukturellen Änderungen, die ein wesentlicher Teil des Entlastungspaketes sind, kommt, kann derzeit also noch niemand prognostizieren. Vorerst gilt das Motto: Wo ein Wille ist, ist hoffentlich auch ein Weg.
Vielleicht hat die Regierung auch deshalb einen eigenen Entlastungspuffer in ihre Beschlüsse eingebaut – und etliche Maßnahmen aufgelistet, die sie auch ohne Ukraine-Krieg und explodierende Preise umgesetzt hätte. Dass Hartz IV in ein Bürgergeld umgewandelt werden soll, stand bereits im Koalitionsvertrag. Und der Abbau der kalten Progression ist auch keine Erfindung der Ampel, sondern eher finanzpolitische Routine.
Zugutehalten muss man der Regierung, dass die Höhe des Bürgergeldes bislang unklar war und der Abbau der kalten Progression angesichts vermutlich eher hoher Tarifabschlüsse dieses Mal teurer werden dürfte als in den vergangenen Jahren.
Auch andere Regelungen wurden von der Koalition nun als Ad-hoc-Maßnahme verkündet, obwohl sie das streng genommen nicht sind. Finanzminister Christian Lindner kündigte bereits im März an, den ermäßigten Umsatzsteuersatz in der Gastronomie, eigentlich mal eine Corona-Maßnahme, beizubehalten. Auch die Entfristung der Homeoffice-Pauschale sollte laut Koalitionsvertrag im Jahr 2023 geprüft werden. Und was die Reform des Wohngeldes angeht: Bereits vor einiger Zeit hatte der Kanzler angekündigt, dass der Kreis der Berechtigten deutlich steigen soll.
Und trotzdem: All diese Dinge werden nun tatsächlich umgesetzt und entlasten viele Bürger.
Geld für Senioren, Geld für Studenten
Es gibt auch Beschlüsse im Ampelpapier, die wirklich neu sind, auch wenn sich bereits seit Längerem abzeichnete, dass sie kommen. Dazu gehören die Einmalzahlung von 300 Euro an die rund 21 Millionen Rentner und von 200 Euro an jeden Studenten. Beide Gruppen waren bei den bisherigen Paketen vergessen worden. Deshalb war es politisch geboten, sie nun zu berücksichtigen.
"Diese ganzen Sowieso-Maßnahmen werden jetzt als neu verkauft – das sind sie einfach nicht"
Linken-Finanzpolitiker Christian Görke
Bei den Studenten ist allerdings noch offen, wie sie an das Geld kommen sollen. Womöglich sollen es die Hochschulen richten. Es steht dabei, mal wieder, eine ganz praktische Frage im Raum: Wie kommen die Bürger eigentlich an Geld, selbst wenn der Staat es ihnen unbedingt geben will?
Das zeigt: Selbst bei den wirklich neuen Punkten im Entlastungspaket wird die Umsetzung vermutlich nicht ganz einfach.
Kritik der Opposition
Auch weil sich das 65-Milliarden-Paket bei näherer Betrachtung zumindest ein wenig als Ampel-Soufflé entpuppt, kommt aus der Opposition Kritik. Die Chefin des CDU-Wirtschaftsflügels MIT, Gitta Connemann, sagt t-online: "Statt struktureller Entlastungen teure Strohfeuer. Die Mittelschicht geht dabei nicht nur leer aus. Sie soll es auch noch bezahlen. Der Weg zur Hyperinflation wird gebahnt."
Der Linken-Finanzpolitiker Christian Görke wiederum sagt: "Diese ganzen Sowieso-Maßnahmen werden jetzt als neu verkauft – das sind sie einfach nicht. In diesem Paket steckt einiges, manches geht in die richtige Richtung, aber insgesamt ist es ein Flickenteppich mit vielen Löchern und Fehlstellen."
Wie viele Fehlstellen werden es wirklich? Bereits jetzt räumt man bei SPD und Grünen hinter vorgehaltener Hand ein, dass natürlich niemand wissen könne, wie hart der Winter werde und ob es weitere Entlastungen brauche. Damit relativiert sich auch die Ankündigung des Finanzministers, alles innerhalb der Haushaltsplanungen und der Schuldenbremse finanzieren zu können. Das kann funktionieren, aber auch nicht.
Im Zweifel wird dem Kanzler nach Bazooka, Wumms und "You'll never walk alone" noch etwas Neues einfallen, nein: einfallen müssen.
- Eigene Recherche