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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Atomkraft als "grüne Energie" Frankreich oder Deutschland? Einem Land droht ein teurer Irrweg
Die EU plant die Atomkraft zur "grünen Energie" zu erklären. Speziell Frankreich setzt im Kampf gegen den Klimawandel auf die CO2-arme nukleare Energie. Experten sind skeptisch.
"Ausgerechnet Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, ist bei dieser Hochrisikotechnologie falsch" – so reagierte Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck von den Grünen auf den Vorstoß der EU-Kommission, Gas- und Atomkraft künftig unter bestimmten Bedingungen als "grüne Energien" einzustufen.
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Deutschland verfolgt seit Jahren eine gegensätzliche Politik und hat den Ausstieg aus der Atomkraft fast abgeschlossen. Zu Jahresbeginn gingen drei der bislang sechs verbleibenden Kernkraftwerke vom Netz. Die drei letzten Meiler sollen spätestens Ende dieses Jahres folgen.
Doch die meisten Nachbarländer verfolgen eine andere Strategie. Speziell Frankreich setzt voll auf nukleare Energie. Um die Klimaziele zu erreichen, will das Land weiter in die relativ CO2-arme Form der Stromgewinnung investieren. Der Vorstoß der Kommission ein solches Vorgehen unter Umständen zu fördern, hat auch in Deutschland wieder Befürworter der Atomenergie auf den Plan gerufen.
Kritiker klagen über den riskanten "deutschen Sonderweg" des zeitgleichen Ausstiegs aus Kohle- und Atomstrom. Die Tatsache, dass Deutschland 2021 laut Zahlen des Statistischen Bundesamtes Milliarden Kilowattstunden Strom aus Frankreich importieren musste, befeuert die kritischen Stimmen. Ihre Meinung zum Thema können Sie uns so mitteilen. Doch Experten warnen, dass sich am Ende Frankreich auf einem teuren Irrweg wiederfinden könnte.
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Kurswechsel durch Macron
56 Atomreaktoren an 18 Standorten sind in Frankreich zurzeit aktiv. Mehr Meiler gibt es nur in den USA. 70 Prozent des Stromverbrauchs und 40 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs deckt das Land mit seinen Atomkraftwerken ab. Doch viele der Meiler sind alt und werden zunehmend anfällig für Probleme. Erst 2020 ging mit dem Kernkraftwerk Fessenheim an der deutschen Grenze das bis dahin älteste Kraftwerk des Landes nach langem politischen Hin und Her vom Netz.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron setzte nach seiner Wahl 2017 zunächst auch auf einen Atomausstieg und wollte Deutschland auf seinem Kurs Richtung erneuerbarer Energien folgen. Er plante den Atomstromanteil auf 50 Prozent zurückfahren und schon bis 2025 viele Atomkraftwerke stillzulegen. Doch eine anhaltende Energiepreiskrise bewegte den Präsidenten zum Umdenken.
Nun setzt er weiter auf Atomstrom und will rund eine Milliarde Euro in neue Reaktoren investieren. Dabei sollen auch neue Technologien, wie "Small Modular Reactors" (SMR) – oder zu deutsch: Modulare Minireaktoren – zum Einsatz kommen. Sie sollen günstiger und schneller zu bauen sein und zudem mehr Sicherheit gewährleisten als konventionelle Kraftwerke.
Kritik des Rechnungshofes
Die Bevölkerung in Frankreich scheint mehrheitlich hinter Macrons neuem Atomkurs zu stehen. 52 Prozent sprachen sich in einer Umfrage für die Nutzung von Atomenergie ergänzend zu den Erneuerbaren aus. Zehn Prozent befürworteten gar eine ausschließliche Nutzung der Atomkraft, während 37 Prozent einen Atomausstieg wollten.
Der französische Stromnetzbetreiber RTE behauptete zudem, dass die Stromversorgung aus 100 Prozent erneuerbaren Energien das Land im Jahr 2050 ein Drittel mehr Geld kosten würde, als der Mix aus je 50 Prozent Atomkraft und Erneuerbaren. Die RTE begründete dies mit dem notwendigen Netzausbau.
Doch es gibt auch Kritik an den Plänen der Regierung. Insbesondere der französische Rechnungshof zweifelt an der finanziellen Nachhaltigkeit. Laut seinen Berechnungen würde der französische Betreiber der Kernkraftwerke, die Firma EDF, bis 2030 circa 100 Milliarden Euro investieren müssen, um die Lebenszeit der bestehende Meiler um lediglich zehn Jahre zu verlängern. Das entspräche dem dreifachen des Börsenwerts des Unternehmens. Pro Reaktor würden also Kosten von rund 1,7 Milliarden Euro anfallen – umgerechnet rund 55 Dollar pro Megawattstunde (MWh) erzeugtem Strom.
Der Neubau eines konventionellen Atomkraftwerks würde gar 130 bis 200 Euro pro MWh kosten, kritisiert Ben Wealer, Energiewirtschaftsexperte an der Technischen Universität Berlin, gegenüber dem "Handelsblatt". Der Neubau Photovoltaik (PV) würde laut Wealer aktuell zwischen 29 bis 42 Euro pro MWh kosten und von Windkraft zwischen 26 bis 54 Euro pro MWh.
"Nie eine wettbewerbsfähige Energiequelle"
Für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat Wealer die Wirtschaftlichkeit der Atomkraft untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass keines der zwischen 1951 und 2017 gebauten 674 AKWs "unter wettbewerblichen Bedingungen" entstand. Die kommerzielle Nutzung von Kernenergie sei Nebenprodukt militärischer Entwicklungen und schaffe "nie den Sprung zu einer wettbewerbsfähigen Energiequelle".
Hinzu kommt die lange Bauzeit der Meiler. Die Wissenschaftsvereinigung Scientists for Future (S4F), die zu Nachhaltigkeitsthemen forscht, beziffert die Bauzeit eines konventionellen Atomkraftwerks auf 15 Jahre.
Auch der französische Rechnungshof befürchtet, dass die neuen Kraftwerke nicht termingerecht und zu vernünftigen Kosten gebaut werden könnten. So wird beispielsweise der Reaktor in Flamanville frühestens 2023 mit einer Verspätung von elf Jahren ans Netz gehen. Die Kosten haben sich demnach von 3,3 auf 19 Milliarden Euro vervielfacht.
Auch Minireaktoren zu teuer
Doch was ist mit den neuartigen Minireaktoren? Die Experten von S4F halten die Technologie für noch nicht ausgereift. Nach ihren Angaben benötigten die SMRs noch Jahrzehnte bis zu einer kommerziellen Nutzung. Für das Erreichen der Klimaziele könnten sie deshalb genauso wenig einen Beitrag leisten wie die bauaufwendigen herkömmlichen Atomreaktoren.
Zudem sieht ein vom Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) in Auftrag gegebenes Gutachten die Minireaktoren trotz des geringeren Baupreises "gegenüber anderen Energietechnologien wirtschaftlich weit unterlegen". Die Kosten für einen Minireaktor liegen laut Schätzungen bei mindestens einer Milliarde Euro. Ihre Leistung von 300 Megawatt ist dabei nicht mit denen von konventionellen Atomkraftwerken (1.000 bis 1.600 Megawatt) vergleichbar.
Es müssten also unzählige der Minireaktoren gebaut werden, um die konventionellen Kraftwerke zu ersetzen. Macrons Investitionsvorhaben wirkt angesichts dieser Zahlen nahezu mickrig. Es bräuchte also private Investoren, doch für die seien die Minireaktoren uninteressant, so Wealer.
Der Plan Macrons, weiter auf Atomkraft als Eckpfeiler der französischen Energiegewinnung zu setzen, könnte sich somit als milliardenschwerer Irrweg entpuppen. Nicht zuletzt deshalb ist der französische Präsident eine der treibenden Kräfte hinter dem Plan der EU-Kommission, die Kernenergie als nachhaltig einzustufen. Nur so könnten doch noch ausreichend private Investoren angelockt werden, um seine Pläne zu verwirklichen.
Für die Kritiker der Atomenergie klingt das wie ein Albtraum. "Es besteht die reale Gefahr, dass sich der Markt entsprechend ausrichtet", sagt Wolfram König, Präsident des Bundesamts für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, dem "Handelsblatt". "Damit würden benötigte Innovationen und Investitionen in erneuerbare Energien möglicherweise nicht in gleichem Maße erfolgen."
- Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Das deutsche Stromdilemma" (kostenpflichtig)
- Handelsblatt: "Atomkraft, ja bitte? Was Frankreichs Kernenergie-Offensive für Deutschland bedeutet" (kostenpflichtig)
- Handelsblatt: "Warum Frankreich auf Mini-Atomkraftwerke setzt" (kostenpflichtig)