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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ampel in der Corona-Krise Schaun mer mal, dann sehn mer scho
Der Druck wächst auch in den eigenen Reihen massiv. Doch die Ampelkoalition tut sich noch immer schwer, ihren Corona-Kurs zu korrigieren. Schlittert das Land tiefer in die Krise?
Wenn Christian Lindner ein Argument besonders wichtig ist, dann untermauert er es gern mit einer passenden Anekdote. So auch am Sonntagabend, als der FDP-Chef und Bald-Finanzminister bei "Anne Will" über die katastrophale Corona-Lage redete und erklären sollte, was die Ampelkoalition denn nun tun will.
Als es um einen möglichen Lockdown ging, erzählte Lindner aber nicht von den Leiden der Corona-Patienten auf den Intensivstationen und auch nicht von der Belastung für die Angehörigen oder das Pflegepersonal. Er erzählte von der Angst einer Unternehmerin.
Am Vortag sei er vor einer Apotheke in Berlin von einer Frau angesprochen worden, so Lindner. Sie habe sich als Inhaberin eines Modegeschäfts vorgestellt. Die Familie führe den Laden schon seit 60 Jahren. Den Lockdown des vergangenen Jahres habe er überlebt. "Noch ein weiterer wäre das Ende des Geschäfts."
Die Corona-Lage mag schwierig sein – aber Läden muss man deswegen noch lange nicht schließen: So konnte man das verstehen. Stattdessen werde sich ein neuer Krisenstab ab dieser Woche um die Impflogistik kümmern, kündigte Lindner dann noch an. Und ansonsten müssten die Länder die vorhandenen Maßnahmen eben "konsequent ausschöpfen".
Wir als künftige Koalition im Bund haben alles richtig gemacht, schuld sind die anderen: Es ist kurz zusammengefasst die Linie, die schon seit Tagen die Kommunikation der Ampelkoalitionäre dominiert. Angesichts der Dimension der Krise klingt das allerdings zunehmend nach einem eher verantwortungslosen "Schaun mer mal, dann sehn mer scho".
Selbst in den Parteien, die nächste Woche Olaf Scholz zum Kanzler wählen wollen, löst die Laissez-faire-Corona-Politik bei manchem inzwischen vor allem Kopfschütteln aus. Jemand von den Grünen sagt: "'Anne Will' war ein Debakel für die Ampel."
"Es droht ein völliger Fehlstart der Ampelkoalition"
Wer mit Vertretern der Partei spricht, hört hinter vorgehaltener Hand seit Tagen immer die gleiche Erklärung für den Corona-Kurs: Es sei die FDP, die sich einem angemessenen Handeln schlicht verweigere. Und es sei Olaf Scholz, der auf das Befinden der Liberalen große Rücksicht nehme, so wie schon in den Koalitionsverhandlungen.
Manche halten mit ihrem Frust gar nicht mehr hinterm Berg: "In der Corona-Politik droht ein völliger Fehlstart der Ampelkoalition", schrieb der Grünen-Europapolitiker Rasmus Andresen am Montagvormittag auf Twitter und forderte: "Hört auf Experten und handelt endlich."
Auch der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen forderte angesichts der Lage schnell mehr Einschränkungen: "Der Beschluss der Ampel im Bundestag kann nur ein erster gewesen sein", sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Es müsse schon vor dem 9. Dezember etwas geschehen, also vor dem ursprünglichen Termin für die nächste Ministerpräsidentenkonferenz.
Der Dienstag wird entscheidend
Dass man angesichts des Drucks wirklich bis zum 9. Dezember abwarten kann, um zu schauen, was die bisherigen Einschränkungen gebracht haben, daran glauben die Ampelkoalitionäre selbst nicht mehr. Schon am Dienstag sei mit einer Reaktion zu rechnen, heißt es aus dem Umfeld von Olaf Scholz.
Und dieser Dienstag ist im Plan der Ampelkoalitionäre aus zwei Gründen entscheidend. Zum einen sollen offenbar Details zum angekündigten Krisenstab präsentiert werden. Zum anderen wird das Bundesverfassungsgericht am Vormittag darüber entscheiden, ob die Bundesnotbremse verfassungsgemäß war. Wäre sie das, dann brauchte es wohl gute Argumente, sie in der aktuellen Lage nicht noch einmal einzusetzen.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts werde "den Korridor vorgeben", in dem zusätzliche Maßnahmen getroffen würden, sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner t-online. "Für uns sind weitere verschärfte Maßnahmen notwendig, die wir mit unseren Koalitionspartnern unter Einbeziehung der Länder beschließen werden." Es ist eine Vorfestlegung auf härtere Einschränkungen, die so in den vergangenen Tagen aus der Ampel nicht zu hören war.
Berichten zufolge wollen sich Noch-Kanzlerin Angela Merkel und Noch-nicht-Kanzler Olaf Scholz aus all diesen Gründen am Dienstag mit den Länderchefs zusammenschalten.
"Das Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen"
Es dürfte eine lebhafte Debatte werden. Denn aus den Bundesländern sind längst verschiedene Ideen zu hören, wie die gesetzlichen Möglichkeiten erweitert werden müssten. Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) etwa erhöhte am Montag den Druck: Die Länder benötigten "wieder alle möglichen Instrumente, um die vierte Welle zu brechen", sagte Bayaz t-online. "Es muss deshalb eine volle Länderöffnungsklausel im Infektionsschutzgesetz geben."
Die Ampelparteien hatten in ihrer Reform einige Instrumente von der Öffnungsklausel ausgenommen, zum Beispiel Ausgangssperren oder die vorsorgliche flächendeckende Schließung der Gastronomie.
Auch die designierte Bundesfamilienminister Anne Spiegel (Grüne), die derzeit noch Ministerin in der Ampelregierung von Rheinland-Pfalz ist, spricht sich für Verschärfungen aus. "Die Lage ist ernst, das Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen", sagte sie t-online. "Wir brauchen daher weitergehende Maßnahmen und müssen zum Beispiel auch die Einschränkung von Großveranstaltungen sowie Kontaktbeschränkungen in Betracht ziehen."
Wichtig sei ihr aber, betonte Spiegel, dass "die Schulen und Kitas unter strengeren Hygienemaßnahmen so lange wie möglich offen bleiben und nicht wieder als Erstes in den Fokus gerückt werden".
Die Liberalen und die "Realpolitik"
Besonders die FDP steckt jedoch weiter in einem Dilemma. Die Liberalen setzen sich nicht erst seit dem Bundestagswahlkampf gegen ihrer Ansicht nach zu scharfe Maßnahmen ein. Auch deshalb preschen sie nun nicht vor und fordern plötzlich ebenfalls einen bundesweiten Lockdown, wie auch immer der aussehen würde.
Warum auch etwas am Kurs ändern? In der FDP verfolgt man dieser Tage aufmerksam die Umfragen. Und die sehen die Ampelparteien noch immer auf dem Niveau der Bundestagswahl. Die Wähler der drei Parteien, so das Argument, schienen also im Großen und Ganzen recht zufrieden zu sein.
Doch möglicherweise lässt die Realität der Pandemie den Liberalen bald gar keine andere Wahl mehr: Denn die FDP will ja nicht das Milieu von AfD und "Querdenkern" bedienen. Ihre Wähler erwarten eine faktenorientierte Politik. Und wenn die Kliniken kollabieren, ginge das auch auf ihre Kappe. Auch deshalb geistert bei den Liberalen nun das Wort "Realpolitik" durch die eigenen Reihen.
Eine andere Umfrage könnte für die FDP deshalb ebenfalls von Interesse sein: 63 Prozent der Deutschen finden laut ZDF-"Politbarometer", dass nicht genügend getan wird gegen die Corona-Krise.
Und jetzt auch noch Omikron
Ausgerechnet die besorgniserregende Omikron-Variante könnte nun der argumentative Notausgang für die Ampelkoalitionäre sein, besonders für die FDP. Bislang ist zwar noch wenig darüber bekannt, aber der Virologe Christian Drosten warnte am Sonntagabend im ZDF: "Ich bin schon ziemlich besorgt im Moment."
Fachpolitiker sehen das genauso. Es spreche derzeit viel dafür, dass die Variante deutlich infektiöser sei, heißt es. Und auch Spekulationen über einen womöglich weniger schweren Verlauf könne man erst einmal keinen Glauben schenken.
Die Variante hat also das Potenzial, die Lage noch einmal deutlich zu verschlechtern – und könnte damit auch den Ampelparteien als mögliche Erklärung für einen Kurswechsel dienen. Dann könnte es heißen: Für das bisherige Virus hätten unsere Instrumente wohl gereicht, aber mit der neuen Herausforderung Omikron müssen wir jetzt härter durchgreifen.
Auch das hat Christian Lindner bei "Anne Will" womöglich schon angedeutet. "Das Auftreten der neuen Variante", sagte er da, "hat niemand vorausgesehen."
- Eigene Recherchen