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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Besuch in Sachsen-Anhalt Warum wählen sie die AfD?
Während die AfD im Westen in der Krise schwächelt, fährt sie in Sachsen-Anhalt Bestwerte ein. Was überzeugt so viele, einen Landesverband zu wählen, der als Gefahr für die Demokratie gilt? Ein Besuch vor Ort.
Ute Meinert hält Distanz. Es ist ihre erste AfD-Kundgebung. Eben ist ein AfD-Trabi mit der Aufschrift "Hol dir dein Land zurück" knatternd über den Marktplatz von Aken gefahren, direkt vor dem historischen Rathaus, Sitz des Bürgermeisters. Auf einer kleinen Bühne wettern die AfD-Funktionäre gegen Öko-, Euro-, Zuwanderungs- und Corona-Politik.
Es ist heiß, fast 30 Grad, die Sonne knallt. Nur etwa 40 Zuhörer verteilen sich über den Platz. Meinert steht weit hinten und hört still zu. Sie trägt Jeanskleid, ihre Handtasche über der Schulter hält sie mit beiden Händen fest. Das blonde, glatte Haar der Endfünzigerin glänzt in der Sonne.
"Ich wollte nur mal gucken", sagt sie. Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Presse lesen. Erklären aber will sie schon, warum sie heute hier ist. Hilfe zur Entscheidungsfindung, nur vier Tage vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Eigentlich sei sie CDU-Wählerin, ihr ganzes Leben lang schon. Das Interesse an der AfD? "Das hat bei mir in der Corona-Krise angefangen."
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Aken hat rund 7.000 Einwohner. Die Stadt liegt direkt an der Elbe. Sie hat einen Hafen, ist an den Elberadweg angeschlossen, gerade wurde der Schulwald mit neuen Setzlingen erweitert. Bei der letzten Wahl haben hier 32 Prozent CDU gewählt, 23 Prozent die AfD. Im Westen wäre das ein enormer Erfolg für die AfD. In Sachsen-Anhalt heißt das: Potenzial nach oben. Deswegen hat die AfD Aken und Umgebung in den letzten Tagen "abgeflyert", wie es die Funktionäre am Stand formulieren. Deswegen steht neben dem Trabi das AfD-"Bildungsmobil", deswegen tritt neben dem Direktkandidaten auch Fraktionschef Oliver Kirchner auf der Bühne auf.
Während die AfD bei den vergangenen Wahlen im Westen nur noch einstellige Ergebnisse erzielte, liefert sie sich in Sachsen-Anhalt mit der Regierungspartei CDU ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Und dass, obwohl mit der Asylpolitik das Kernthema der Rechtspopulisten gerade keine Konjunktur hat, obwohl die Partei in der Corona-Krise lange keinen klaren Kurs verfolgte.
In Umfragen erzielten CDU und AfD zuletzt um die 24 bis 29 Prozent Zustimmung, manchmal lag die AfD gleichauf oder sogar knapp vor den Christdemokraten. Gerade Orte wie Aken und Stimmen wie die von Meinert werden entscheiden, ob die AfD "dem Hasen", wie CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff von seinen Anhängern fast zärtlich genannt wird, tatsächlich den Rang ablaufen kann.
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"Jetzt ist schlimmer als DDR"
Meinert lebt in Aken. 34 Jahre lang hat sie für einen Rechtsanwalt gearbeitet. Jetzt hilft sie ihrem Mann, einem Unternehmer, im Büro. Sie hat eine klare Meinung zur Migrationspolitik, bei der sie nicht zwischen Flüchtlingen, Migranten und Deutschen mit Migrationshintergrund unterscheidet. "Türken, Türken, Türken, überall nur noch Türken", sagt sie über ihren persönlichen Albtraum, die Hauptstadt Berlin, und sticht mit dem Zeigefinger in die Luft. "Das geht doch nicht. Und das muss man doch sagen dürfen, ohne dass man gleich als rechts gilt."
Mit dieser Meinung hat sie sich bisher bei der CDU gut aufgehoben gefühlt. Jetzt aber ist Corona dazugekommen. Und die politischen Antworten aller anderen Parteien auf das Virus treibt Meinert hin zur AfD.
Meinert selbst will sich nicht impfen lassen, nicht sofort zumindest. "Da habe ich Angst vor." Auch Apps zur Kontaktnachverfolgung will sie nicht verwenden. Dass das nun ihre Reise- und Bewegungsfreiheit einschränkt, ärgert sie enorm. Obwohl anders versprochen, werde jetzt zwischen Geimpften und Ungeimpften unterschieden – und beschweren dürfe man sich nicht, sonst erhalte man wieder: den Stempel "rechts".
Meinert erinnert das an die DDR. Die Stasi habe ihren Vater sieben Jahre lang ins Gefängnis geworfen, als sie noch ein Kind war. Eine bittere Zäsur in ihrer Biografie, verlorene Jahre, die nie wieder aufgeholt werden konnten, sagt sie. Trotzdem findet sie: "Jetzt ist schlimmer als DDR."
"Lang lebe unser geliebtes Deutschland"
Auch andere auf der Kundgebung ziehen DDR-Vergleiche. Ein "Wendehals" sei Haseloff in der Corona-Krise, sagt Ewald Krauss. So wurden im Osten diejenigen genannt, die ihre politische Gesinnung nach dem Zusammenbruch der DDR rasch änderten. "Auf einmal Opfer", sagt Krauss. Haseloff hat sich den Titel in seinen Augen verdient, weil er die Lockdowns in der Krise mitgetragen hat, aber angeblich nicht überzeugt von deren Wirksamkeit war.
Krauss trägt kariertes Hemd und Badelatschen und lehnt mit verschränkten Armen an einer Mauer auf dem Marktplatz. Er hat kein Problem, mit der Presse zu sprechen, seinen richtigen Namen aber will auch er nicht lesen. Der 58-Jährige arbeitet als Servicetechniker, für seinen Job fährt er durch ganz Deutschland.
Auch Krauss setzte sein Kreuz nach der Wende eigentlich immer bei der CDU. Das habe sich rasch nach Gründung der AfD 2013 geändert. „AfD wähle ich schon seit Jahren“, sagt er. Als Hauptgrund für seine Abkehr nennt er die Europapolitik. Er verstehe nicht, warum Gesetze aus Brüssel von "den Bürokraten" in Deutschland eins zu eins umgesetzt würden. "Von Deutschland als Nationalstaat redet niemand mehr."
Die AfD hingegen redet viel vom Nationalstaat. Auf ihrem letzten Parteitag hat sie für den "Dexit", also den Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union, gestimmt. Mag der auch noch so unrealistisch sein. Der Landesverband in Sachsen-Anhalt gilt als besonders rechts, der Verfassungsschutz hat den gesamten Verband erst im Januar als rechtsextremen Verdachtsfall eingestuft. In Aken verabschiedet sich gerade Fraktionschef Oliver Kirchner von der Bühne, mit einem scharfen: "Lang lebe unser geliebtes Deutschland."
Anti-Euro, Anti-Asyl, Anti-Öko, Anti-Corona
Anti-EU, Anti-Asyl, Anti-Corona – das Thementableau der AfD ist schnell und leicht erweiterbar, auch ohne programmatische Tiefe. Und menschenfeindliche Ideologie und Verfassungsschutz schrecken viele Wähler in Sachsen-Anhalt offensichtlich nicht ab. Als "diktatursozialisiert" mit "gefestigten nicht demokratischen Ansichten" hat der CDU-Ostbeauftragte Marco Wanderwitz einen Teil der Ostdeutschen mit Blick auf die AfD-Erfolge jüngst bezeichnet. "Auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen." Er hat damit eine Welle der Kritik, auch in der eigenen Partei, ausgelöst. „Ostbeleidigungsbeauftragter“ nennt die AfD Wanderwitz nun.
Wanderwitz‘ Kritik springt zu kurz, am deutlichsten bei der "Diktatursozialisierung". Denn die Erfolge der AfD lassen sich nicht nur auf jene zurückführen, die alt genug sind, die DDR erlebt zu haben. Die AfD schneidet sehr gut bei Unter-30-Jährigen ab, besonders gut bei Männern. Jene also, die zu jung sind für eigene Erinnerungen an die DDR.
"Man kann auf die AfD schimpfen, aber sie sprechen Gedanken aus, die man selbst hat", findet der 32-jährige Akener Torsten Genicke (Name von der Redaktion geändert). "Andere Parteien trauen sich das nicht." Was in den 90ern normal gewesen sei, das werde jetzt als rechts abgestempelt, sagt er, der in den 90ern Teenie war. "Daneben finde ich das."
"Wer clever ist, der wird auch was"
Genicke trägt Tattoos, Piercings, Goldkette und Ohrringe. Unweit vom Akener Markplatz kniet er vor seinem Haus an einem Beet und schneidet eine Plane zurecht. Er ist in Aken aufgewachsen, zur Schule gegangen und hat hier nach der Lehre rasch ein eigenes Heim gekauft. Aus Aken kriege ihn keiner weg, sagt er. Das Klischee vom abgehängten Osten und einer Hartz-IV-Wählerschaft der AfD findet er fast amüsant. "Wer clever ist, der wird auch was, dem geht es hier auch gut."
Was die AfD sagt, was andere sich nicht trauen? Genicke denkt kurz nach und nennt dann die scharfe AfD-Kritik am Programm der Grünen, der Verkehrswende, den drohenden, hohen Benzinpreis, die schädlichen Batterien in der E-Auto-Produktion und die "armen, kleinen N****kinder, die da für ne Bemme arbeiten" müssen.
Genicke argumentiert pro AfD, will aber nicht explizit sagen, welche Partei er wählt. Zur Kundgebung will er nicht gehen, von solchen Veranstaltungen hält er insgesamt wenig. „Brauch ich auch nicht, ich weiß, wen ich wähle.“ Am Ende aber spiele das Wahlergebnis auch keine Rolle, findet er. Die "Verliererparteien" würden sich ohnehin zusammenraufen, zu einer Koalition gegen die AfD.
Kein Verständnis für Laschets Kurs
CDU-Chef Armin Laschet hat seine Partei wiederholt und eindringlich beschworen: keine Zusammenarbeit mit der AfD, nirgends. Wenige Tage vor der Wahl hat er die AfD wieder klar als "rechtsradikale Partei" und ihre öffentliche Ablehnung für CDUler als demokratische Pflicht bezeichnet. Ministerpräsident Haseloff folgt dieser Linie. Es ist der Pro-Demokratie-Kurs, von dem fraglich ist, ob er aufs Konto der CDU einzahlt oder ihr schadet.
Wähler wie Genicke kann die CDU so nicht gewinnen. "Undemokratisch" findet er die Haltung der Christdemokraten. Dass keine Partei mit der AfD zusammenarbeiten will, ist sein größter Kritikpunkt. Wer die meisten Stimmen erhalte, solle zusammenarbeiten, so sieht er es. Egal wie unterschiedlich die Parteien sind, egal ob links oder rechts. Die Wahlfreiheit der Parteien, der Rechtsextremismus bei der AfD? Nicht wichtig, findet er. "Spinner gibt es überall." Ob er glaubt, dass die AfD es besser macht? "Ich weiß es nicht, keiner weiß es – das ist ja das Ding."
Bürgermeister Bahn: "Froh, dass ich parteilos bin"
Den Druck, mit der AfD zusammenzuarbeiten, verspüren nicht nur Laschet und Haseloff. Ein paar Hundert Meter entfernt von Genickes Vorgarten, in einem Büro mit schweren Holzschränken, sitzt einer, auf dem er noch schwerer lastet: der Akener Bürgermeister Jan-Hendrik Bahn. Sein Terminkalender ist voll an diesem Tag, zwischen Bürgersprechstunde und Etat-Diskussionen für ein neues Feuerwehrauto nimmt er sich am Vormittag Zeit für ein Gespräch. Am Abend wird die AfD-Kundgebung direkt vor dem Fenster seines Amtszimmers stattfinden.
Bahn ist parteilos, Diplom-Kaufmann und Vater von fünf Kindern. 2015 hat er das Amt des Bürgermeisters nach mehr als 20 Jahren von einem SPD-Mann übernommen, der bis dahin im Rathaus noch ohne Computer arbeitete. Bahn holte erst einmal die dringend notwendige Digitalisierung nach. Er macht gerne und viel Werbung für sein Aken, spricht vom Hafen, der Gastronomie, dem neuen, nachhaltigen Tourismus. Der Blick nach vorne sei wichtig, progressiv denken, das Meckern einstellen, einfach machen. "Denkste negativ, wird es so kommen."
Bahn setzt auf verstärkten Dialog und Bürgersprechstunden, bei Bedarf mehrmals die Woche. In den letzten Monaten lief das wegen der strengen Kontaktbeschränkungen nur telefonisch, seit ein paar Tagen dürfen die Akener ihre Beschwerden auch wieder in seine Amtsstube tragen. Die Probleme der Akener spürt Bahn so sehr direkt – und ist zurzeit froh über seine Parteilosigkeit. Besonders das Standing der CDU würde er nicht haben wollen.
Ein "Mega-Debakel" sei die Impfterminplanung zu Anfang gewesen, die Hotlines hätten nicht funktioniert, Sorge und Frust bei den Ältesten seien groß gewesen. Und dann das Regel-Wirrwarr, die Maskenaffäre, die Intransparenz und Fehlkommunikation.
Zur Kooperation bereit
Der Bürgermeister hat viel versucht, um die Unzufriedenheit auf lokaler Ebene aufzufangen und Versorgungslücken zu schließen. Für ältere Bürger hat sein Team die Terminvereinbarung übernommen und dafür Nachtschichten im Homeoffice geschoben. Mit viel Druck hat er schließlich auch ein mobiles Impfzentrum nach Aken geholt. Reichen werde es nicht, glaubt Bahn. Auch er denkt, dass die AfD bei dieser Landtagswahl weiter zulegt. "Die Fehler in der zweiten und dritten Welle werden Stimmen kosten", sagt er.
Doch anders als für Laschet, Haseloff und Wanderwitz ist ein starkes AfD-Ergebnis für Bahn kein demokratisches Debakel. "Das muss eine Demokratie aushalten", sagt er und meint damit auch: eine Zusammenarbeit mit der AfD, wie Wähler wie Genicke sie fordern. Hinter den Werten der AfD steckten schließlich Stimmen, Wähler. Wer sich sperre wie die CDU, der stoße sie nur noch härter vor den Kopf.
Manchmal aber scheitert eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht auf inhaltlicher, sondern ganz praktischer Ebene. Zwei AfDler wurden bei der letzten Wahl in Bahns Stadtrat gewählt. Er hätte mit ihnen zusammengearbeitet, sagt der Bürgermeister. Doch die beiden seien nie zur Arbeit erschienen.
- Eigene Recherchen