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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vor 70 Jahren Die Eltern des Grundgesetzes sahen Facebook voraus
Als der Parlamentarische Rat die Meinungsfreiheit ins Grundgesetz schrieb, formulierte er äußerst klug. Die Verfassungsväter und -mütter dachten um die Ecke. Und nahmen die Existenz von Facebook schon vorweg. Mit einem schlauen Trick begrenzten sie unsere Meinungsfreiheit.
Der Artikel 5 des Grundgesetzes ist ein sogenannter Abwehrartikel. Aus der Geschichte heraus sollte er verhindern, dass Meinungsäußerungen vom Staat zensiert werden können. Deshalb heißt es in Artikel 5 (1): "Eine Zensur findet nicht statt." Es war der Schlussstrich unter einer langen Debatte. Schon in der Verfassung der Frankfurter Paulskirche hundert Jahre zuvor war die freie Meinungsäußerung garantiert worden, auch die Weimarer Verfassung wollte sie sichern. Doch durchgesetzt wurde sie erst mit dem Grundgesetz.
Lüth-Urteil betont die Bedeutung der Meinungsfreiheit
Mit der Verabschiedung des Grundgesetzes begann die eigentliche Debatte, was im Sinne der Meinungsfreiheit tatsächlich zulässig ist. Im Jahr 1958 kommt es am Bundesverfassungsgericht zu einer Entscheidung, die als eines der wichtigsten Urteile in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte gilt.
In dem Prozess geht es um die einstweilige Verfügung des Hamburger Landgerichts gegen den Leiter der Hamburger Pressestelle, Erich Lüth. Er hatte zum Boykott gegen den neuen Film des Nazi-Regisseurs Veit Harlan aufgerufen. Sittenwidrig sei das, urteilte das Landgericht.
Der Boykott wird daraufhin zum Fall für Karlsruhe. Im sogenannten Lüth-Urteil argumentieren die Verfassungsrichter schließlich, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit sei zu sehen als Garantie für die Freiheit. Alle allgemeinen Gesetze und Gerichtsentscheidungen seien deshalb im Sinne des Grundgesetzes auf die Achtung dieser Freiheit zu prüfen. Erstmals ist damit festgelegt: Es kann kein Gesetz und kein Gericht geben, das die Rechte des Grundgesetzes einschränken.
Das Grundgesetz setzt Facebook eine zweifache Grenze
Doch die Freiheit, die die Verfassungsrichter noch im Jahr 1958 betonen und zementieren, kennt harte Grenzen. Denn etwas doppeldeutig heißt es im Artikel 5 (2) über die Meinungsfreiheit: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre."
Das haben die Verfassungsväter und -mütter in mehrfacher Hinsicht schlau formuliert. Artikel 5 setzt Grenzen, die im Internet an Bedeutung gewinnen.
Erstens: Die "persönliche Ehre" und die Jugend werden geschützt. Sieht man sich so manche Äußerung auf Facebook an, möchte man sofort mit dem Grundgesetz winken. Meinungsäußerungen sind also nicht per se zulässig. Es gilt vielmehr, andere vor zu viel unflätiger Meinung zu schützen.
Zweitens: Artikel 5 bezieht sich ausdrücklich auf die "Meinungsäußerung". Falsche Tatsachenbehauptungen sind damit nicht geschützt. Fake News fallen nicht unter den Schutz unserer Verfassung. Auch hier sind Facebook und Co. in der Pflicht.
Feine Abwägungsfragen
Im Detail bereitete der Artikel 5 den Juristen immer wieder Kopfzerbrechen. So musste das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1995 urteilen, ob der Satz "Soldaten sind Mörder" als Tatsachenbehauptung und Ehrverletzung als unzulässig zu verbieten sei. Im Urteil kamen sie zu dem Schluss, dass letztlich die öffentliche Debatte über die Rolle der Bundeswehr schutzwürdig ist – und diese in der juristischen Betrachtung das entscheidende Kriterium darstellt. Die Debatte sei wichtig für den Diskurs in der Demokratie, so die Richter. Außerdem sei der Satz ein Tucholsky-Zitat und nicht als Tatsachenbehauptung zu verstehen. Auch könne nur die Ehre eines Einzelnen verletzt werden, nicht die einer großen Gruppe von Menschen.
Der Artikel 5 ist also kompliziert. Das Grundgesetz mahnt uns abzuwägen. Mit viel juristischem Sachverstand und kühlem Kopf.
Das Grundgesetz kann nicht von Privatunternehmen geschützt werden
Das ist genau das Gegenteil von dem, was täglich auf Facebook stattfindet. Nun hat die Politik gerade entschieden, dass die Internetplattformen künftig darüber entscheiden sollen, welche Inhalte wegen der Verletzung von Urheberrechten gelöscht werden müssen. Wir lagern die Wahrung eines unserer wichtigsten Grundrechte also an Privatunternehmen aus.
Meinungsfreiheit ist wichtig und kompliziert zugleich. Wie soll Facebook mit diesem Verfassungsrecht verantwortungsvoll umgehen können? Zumal US-Unternehmen erfahrungsgemäß herzlich wenig Lust an solch feinen juristischen Abwägungen haben? Die rhetorische Frage hat eine einfache Antwort: Gar nicht. Das Grundgesetz kann nicht von Privatunternehmen geschützt werden.
Der Algorithmus zensiert im Sekundentakt
Die feinsinnige juristische Abwägung wird im Netz durch einen plumpen Algorithmus ersetzt. Der sieht im Zweifelsfall nur nach, ob unsere schützenswerte Meinungsäußerung mit der falschen Musik unterlegt ist. Und löscht, zensiert im Sekundentakt. Zwar können Gerichte immer noch im Nachhinein über die Löschroutinen von Facebook, YouTube und Co. entscheiden. Im Sinne des Grundgesetzes ist der Einschnitt in die Meinungsfreiheit trotzdem verheerend – wenn ein Privatunternehmen in Hunderttausenden Fällen eine abwägende Rechtsprechung vorwegnimmt und damit faktisch ersetzt.
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Die Politik ist aufgefordert, zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes neu nachzudenken. Meinungsfreiheit und demokratischer Diskurs müssen im Internet deutlich besser geschützt werden. Das Grundgesetz kann dafür nur den Rahmen bieten, ausfüllen müssen wir ihn.
Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes: t-online.de blickt auf das erste Jahrzehnt der Bundesrepublik zurück. Im Multimedia-Spezial und auf unserer Homepage t-online.de finden Sie zahlreiche Beiträge zu dieser Zeit.
- Eigene Recherchen