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Aufstand der Armen in den USA: "Wir gehen nicht mehr weg"


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Aufstand der Armen in den USA
"Wir gehen nicht mehr weg"

  • Bastian Brauns
Bastian Brauns, Washington

Aktualisiert am 20.06.2022Lesedauer: 6 Min.
"Wir werden nicht mehr schweigen": William Barber ruft zum Protest auf.Vergrößern des Bildes
"Wir werden nicht mehr schweigen": William Barber ruft zum Protest auf. (Quelle: AllisonxBailey/imago-images-bilder)
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Die soziale Spaltung in den USA wird immer dramatischer. Nun begehren die Armen auf. Ihr Anführer ist ein Pastor, der keinen Kampf mit den Mächtigen scheut.

Der Anführer der amerikanischen Armutsbewegung stützt sich auf einen Stock aus hellem Holz. Seit mehr als 30 Jahren lebt William Barber mit Morbus Bechterew. Es ist eine chronisch-rheumatische Erkrankung, bei der sich seine Gelenke immer weiter versteifen, was ihm große Schmerzen bereitet.

Barber trägt ein weites, schwarzes Gewand. Der Schweiß perlt von seiner Stirn. Die Sonne in Washington brennt so heiß vom Himmel, dass ein Tanklaster mit Trinkwasser bereitsteht, um die vielen Durstigen zu versorgen. Gleich wird er zu Tausenden Menschen nahe der National Mall sprechen, die zum Wochenende dank Spendengeldern mit 500 Bussen aus dem ganzen Land in die US-Hauptstadt gekarrt wurden.

William Barber und seine Mitstreiter wissen: Wer in diesem großen Land wirklich auf Probleme aufmerksam machen will, der muss sichtbar sein und Macht demonstrieren. Nicht weniger als das Erbe des schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King Jr. haben sie dabei im Blick. Barber und seine Bewegung wollen die gleiche Wucht entfalten wie einst King, der 1968 erschossen wurde.

Barber ist es ernst. Das geht bei ihm sogar so weit, sich verhaften zu lassen. Er wollte einst das Parlament in seinem Bundesstaat North Carolina nicht mehr verlassen, weil er die Abgeordneten dort mit seinen Forderungen konfrontieren wollte. Es sei sein Recht, mit den Volksvertretern in Kontakt zu treten, rechtfertigte er sich damals.

Im Jahr 2018 hat der protestantische Pastor die Bewegung "Poor People's Campaign: A National Call for a Moral Revival" gegründet. Eine Kampagne für und von den Armen Amerikas, die eine "Wiedergeburt der Moral" herbeiführen soll, wie Barber es formuliert. Nicht 40 Millionen seien in Wahrheit arm in Amerika. Barber hat für seine Kampagne errechnen lassen, dass mehr als 140 Millionen Menschen in den USA arm sind oder nur ein extrem geringes Einkommen haben. Ein Beispiel für die Gründe: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist eine Forderung, die viele im Land konsequent als Instrument des Kommunismus ansehen.

Um die dramatischen Armutszahlen endlich wirksam zu bekämpfen, hat Barber in den vergangenen Jahren viele Verbündete um sich geschart. In der Menge des "Moral March" in Washington finden sich viele Schwarze, viele Latinos, aber auch viele Weiße. Auffällig viele Frauen sind gekommen. Das "National Institute on Retirement Security" hat errechnet, dass amerikanische Frauen mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit stärker von Altersarmut betroffen sind als Männer. Schwarze Frauen trifft es dabei noch viel härter.

"Wir müssen aufstehen"

"Ich möchte dabei sein, wenn hier Geschichte geschrieben wird", sagt Laurie Curse. Sie ist aus North Carolina gekommen, ist 60 Jahre alt, arbeitet seit 18 Jahren in einer Fabrik, deren Namen sie nicht verraten möchte. "Mein Gehalt ist seit fast zwei Jahrzehnten das gleiche. Das ist los in diesem Land. So wie mir geht Millionen anderer auch", sagt sie. Während Essen, Miete und Benzin immer teurer werden, werden die Menschen immer ärmer. "Ich habe inzwischen mein Auto verkauft, damit ich mir noch meine Krankenversicherung leisten kann", sagt Laurie Curse.

Wie viele andere hat auch Curse Angst davor, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie zu viel Protest wagt. "Aber es läuft sowas von falsch. Wir müssen aufstehen", sagt sie. Dass so viele in die US-Hauptstadt gekommen sind, zeige, wie groß die Probleme sind. Der nicht endende Rassismus, die wachsenden Obdachlosenzahlen, der mangelhafte Mindestlohn – all das könne so nicht weitergehen. Wählen ergebe für sie nur noch auf lokaler Ebene Sinn. "Die Politiker vor Ort haben noch Kontakt zu uns. Die können es sich nicht leisten, die Wahrheit zu verschweigen."

Den Kindern einer befreundeten Familie will sie in Washington zeigen, dass man politisch etwas bewegen kann. "Die Probleme in den Schulen werden immer schlimmer. Viele Kinder wissen nicht, wohin mit ihrer Wut und Frustration. Das lassen sie dann an anderen aus. Die Gewalt nimmt zu", sagt Laurie.

"Wir sind die Aussortierten!"

"Und darum fordern wir einen Armutsgipfel im Weißen Haus mit Präsident Biden", ruft Reverend Barber von der Bühne in die Menge auf der Pennsylvania Avenue. Im Hintergrund ist das Kapitol zu sehen, das am 6. Januar 2021 von einem Mob gestürmt wurde – fünf Menschen starben dabei. "Wir sind kein Aufstand", ruft Barber, "aber wir sind die Erneuerung!" Wenn er spricht, singt er halb, als würde er predigen. "Wir sind die Aussortierten! Aber wir werden nicht gehen!" Hinter dem progressiven Pastor steht ein Gospelchor aus schwarzen und weißen Amerikanern. Es ist eine Messe gegen den Missstand.

Angelehnt hat Barber seine "Poor People's Campaign" ganz bewusst an die gleichnamige sozialpolitische Kampagne, die die Bürgerrechts-Legende Martin Luther King Jr. 1968 organisiert hatte. Armut in Amerika – das heißt hierzulande noch immer: Einer von fünf schwarzen Amerikanern leidet schon in der dritten Generation darunter. Bei Weißen betrifft dieser Teufelskreis einen von hundert. Der Tag dieses Armutsmarsches auf Washington fällt nicht zufällig auf das Wochenende des "Juneteenth", jenem Tag, der für das Ende der Sklaverei in den Vereinigten Staaten steht.

"Ich liebe mein Land, ich bin stolzer Amerikaner"

In der Menge stehend erklärt ein anderer Pastor, auf welche Weise der Rassismus eigentlich beiden ethnischen Gruppen schadet. "Rassismus dient seit Jahrhunderten im Grunde nur dazu, die Armen in Schwarze und Weiße zu spalten", sagt Reverend Pat Jackson aus Maryland.

Dadurch werde den Armen die Kraft genommen, sich gegen weiße Reiche zu wehren. Aus diesem Grund arbeite er schon lange daran, verschiedene Gruppen zusammenzubringen. "Egal welche Hautfarbe, egal welche Religion – wir haben ein gemeinsames Problem, das wir nur gemeinsam lösen können." Insbesondere die christliche Kirche müsste sich deshalb an die Spitze dieser Bewegung stellen.

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"Das Problem ist, wir sind allergisch gegen Begriffe wie Sozialismus oder Kommunismus", sagt Pat Jackson. "Ich liebe mein Land, ich bin ein stolzer Amerikaner. Aber wir müssen endlich mit bestimmten Mythen aufräumen." Jeder müsse hart arbeiten, um seine Ziele zu erreichen. Aber niemand schaffe das alleine. "Es geht nicht um eine Ideologie, sondern um Gemeinschaft und darum, füreinander einzustehen. Das gilt auch für das Unternehmertum."

"Hört nicht auf, eure Geschichten zu erzählen"

Inzwischen ist ein prominenter Gast auf der Bühne. Bernice King, die Tochter des ermordeten Bürgerrechtlers, tritt nach Barber ans Mikrofon. "Armut ist Gewalt", ruft sie. "Wenn wir weiter gemeinsam marschieren, dann werden wir die Armut besiegen. Ein neuer Tag wird anbrechen. Wir werden nicht mehr länger schweigen!" Rhetorisch ähnelt der Klang ihrer Worte tatsächlich jenem Martin Luther Kings.

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Bernice King betont das Vermächtnis ihres Vaters, das in dieser Bewegung weiterlebe. "Hört nicht auf, eure Geschichten zu erzählen", fordert sie die Anwesenden auf.

Den ganzen Tag über sprechen auf der Bühne Menschen von ihrer Armut und wie sie hineingeraten sind. Eine junge Frau erzählt davon, dass ihr gekündigt wurde, nachdem sie sich darüber beschwert hatte, von ihrem Arbeitgeber wegen eines kurzen Toilettengangs gegängelt worden zu sein.

Wie schlecht es um den Arbeitnehmerschutz in den USA steht, lässt sich unter anderem daran erkennen, dass in Baltimore, nur eine Autostunde entfernt, die Belegschaft eines Apple-Stores jetzt eine Gewerkschaft gegründet hat – erstmals in der Geschichte des Technologiekonzerns.

"Jedes Jahr sterben 250.000 Menschen"

Am Straßenrand sitzt eine Frau, die gerade 70 geworden ist. Mit Sonnenhut, Krückstock und dem Glauben daran, dass sie etwas ändern kann, ist die frühere Kinderärztin Charlotte Phillips aus New York gekommen. Sie kennt das US-Gesundheitssystem seit Jahrzehnten durch ihre Arbeit. 1984 hat sie die gemeinnützige Organisation "Brooklyn for Peace" gegründet. Sie ist überzeugt davon, dass soziale Ungleichheit nur zu Gewalt und Krieg führt.

Für Charlotte sind die weltweit mit Abstand höchsten Militärausgaben Amerikas das größte Problem. "Wir bauen und verkaufen Waffen, um Menschen zu töten", sagt sie und hält eines ihrer drei Schilder hoch. Zu lesen ist darauf: "Jedes Jahr sterben 250.000 Menschen in den USA wegen Armut und Ungleichheit."

Auf einem Panzer aus Pappmaschee verkünden Friedensaktivisten die gleiche Botschaft wie Charlotte. "Geld für die Armen, nicht für den Krieg", ist darauf zu lesen. Tatsächlich verschärft nach der Pandemie jetzt auch der Krieg in der Ukraine die sich ohnehin seit Jahren verschlechternde Lage in den USA.

Vergangene Woche verkündete die US-Zentralbank deshalb den größten Zinsanstieg seit mehr fast drei Jahrzehnten. Die Inflation scheint außer Kontrolle. Sie trifft die Ärmsten der Armen. Wenn jetzt die Wirtschaft absackt, kostet das Arbeitsplätze. Auch das trifft die Armen.

Die Bewegung, die sich an Martin Luther King orientieren will, hat angesichts der hohen Armutszahlen tatsächlich noch mehr Potenzial als die des Bürgerrechtlers in den Sechziger Jahren. Die Angst vor Jobverlust und davor, noch weiter abzurutschen, ist heute zwar womöglich noch größer. Aber immer weniger Menschen halten sich zurück. Denn sie haben nichts mehr zu verlieren.

Verwendete Quellen
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