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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Supreme Court Entscheidung über Abtreibungen Showdown im brutalsten Kulturkampf
Seit Jahrzehnten tobt in den USA ein "Abtreibungskrieg". Nun steht eine Entscheidung des Obersten Gerichts an. Kippt der Supreme Court das Recht, das deutlich liberaler als in Deutschland ist?
"Jesus würde dir verzeihen", sagt die Frau mit den geflochtenen Zöpfen und der ruhigen Stimme. Sie steht vor Amerikas mächtigstem Gericht, hält ein Smartphone in der Hand und filmt mitten in das Gesicht einer jungen Frau. "Ich habe abgetrieben" ist in weißer Schrift auf Lexis schwarzem T-Shirt zu lesen.
Das Gespräch, das die beiden Frauen führen, ist kein Gespräch im eigentlichen Sinn. Sie reden, aber nicht miteinander. Vor dem Supreme Court in Washington gehören sie jeweils einer Gruppe an, die von der anderen Seite nur noch das Schlechteste zu denken scheint. Die einen sollen Sünder und Kindermörder sein. Die anderen Rassisten und Fundamentalisten. "Wie konntest du diese schwere Entscheidung nur treffen?", fragt die Frau mit den Zöpfen. "Es war keine schwere Entscheidung! Aber es war verdammt schwer, sie irgendwo umsetzen zu können!", sagt Lexis, die mit ihrer Freundin Larada gekommen ist.
Aus dem ganzen Land sind an diesem Dezembertag Abtreibungsgegner und Abtreibungsbefürworter angereist. Zu Tausenden drängen sie sich zwischen den Absperrgittern vor dem monumentalen Gerichtsgebäude. Dort wird derzeit das wohl wichtigste Verfahren zum Abtreibungsrecht seit Jahrzehnten verhandelt.
Abtreibungsgegner wittern ihre Chance. Befürworter befürchten das Schlimmste. Denn im Supreme Court besteht seit den Neubesetzungen von Donald Trump eine deutliche konservative Mehrheit der Richterinnen und Richter von 6 zu 3. Schon lange warnen die Liberalen im Land deshalb vor einer rechtskonservativen Wende – insbesondere was Waffen- und Abtreibungsrechte angeht.
Kippt ein grundsätzliches Recht der Frauen?
Vor fast 50 Jahren, am 22. Januar 1973, fällten die damals mehrheitlich liberalen Richter vom Obersten Gerichtshof der USA eine Grundsatzentscheidung in Sachen Abtreibung. Seit dem damals verhandelten Fall "Roe versus Wade" wird schwangeren Frauen in den Vereinigten Staaten das grundsätzliche Recht zugestanden, selbst über eine Abtreibung zu entscheiden. Die US-Bundesstaaten dürfen seither zwar bestimmte Einschränkungen, aber keine weitreichenden oder gar absoluten Verbote gegen Schwangerschaftsabbrüche erlassen. "Roe v. Wade" ist ein Urteil, mit dem buchstäblich Geschichte geschrieben wurde – für Generationen junger Frauen.
Das könnte sich nun ändern. Ein halbes Jahrhundert später marschiert eine neue Generation durch die US-Hauptstadt Washington und will, dass diese Geschichte endlich wieder umgeschrieben wird. Hunderte junge Studentinnen und Studenten strömen zu dem großen Platz zwischen Supreme Court und Kapitol.
Ein Fall, der alles verändern könnte
Ihre uniformen blau-roten Jacken mit dem Schriftzug "Liberty University" weisen darauf hin, wes Geistes Kinder sie sind. Die privat geführte, christliche Universität in Virginia wurde einst von einem fundamentalistischen Baptistenprediger gegründet. Vielen gilt sie als Kaderschmiede der religiösen Rechten. "I am the post-Roe Generation" ist auf einem Plakat zu lesen, das eine der Anti-Abtreibungs-Aktivisten von "Students for Life" hochhält. Ein Mann am Straßenrand wirkt zufrieden. Er nickt und raunt den Studierenden zu: "The eagles have landed".
"Roe v. Wade" steht nach 50 Jahren plötzlich auf der Kippe. Denn im Bundesstaat Mississippi ist es seit 2018 per Gesetz verboten, Schwangerschaften nach der 15. Woche abzubrechen. Die Regierung handelte so, als hätte es die Entscheidung von 1973 gar nicht gegeben. Eine letzte Klinik in Mississippi aber hält sich nicht an das Verbot und nimmt Abtreibungen entsprechend der bisherigen Rechtsprechung des Supreme Courts auch noch nach diesem Zeitraum vor. Darum klagt Mississippis Gesundheitsminister Thomas E. Dobbs gegen die Abtreibungsklinik "Jackson Women's Health Organization". Der Supreme Court hat die Klage zugelassen. "Dobbs versus Jackson" soll der neue Präzedenzfall sein.
Denn es geht vor dem Obersten Gerichtshof eben um mehr als diesen Einzelfall. Halten die Richterinnen und Richter die Gesetzgebung aus Mississippi für rechtens, beziehungsweise überlassen es dem Bundesstaat, würde das de facto die Überholung der Entscheidung "Roe versus Wade" von 1973 bedeuten. Das hätte prinzipiell Folgen für die Abtreibungsgesetzgebung in allen US-Bundesstaaten.
Überall wären dann Einschränkungen wie in Mississippi möglich, wenn es dafür denn eine politische Mehrheit gibt. Viele fürchten, dass sogar komplette Verbote möglich würden. Das grundsätzliche Recht von Frauen, Schwangerschaften selbstbestimmt und jederzeit abzubrechen, würde jedenfalls dahinter zurückfallen. Insgesamt 21 republikanisch regierte Bundesstaaten warten bereits mit sogenannten "trigger laws" und ähnlichen Gesetzen teils seit Jahrzehnten auf eine solche Entscheidung des Obersten Gerichtshofs.
Verhältnisse wie in Deutschland?
Diese seit langem vorbereiteten Gesetze würden quasi umgehend, nachdem "Roe v. Wade" gekippt würde, in Kraft treten können. Darunter könnten letztendlich auch so strenge Regelungen wie der sogenannte "Heart Beat Act" in Texas fallen. Demzufolge darf eine Schwangerschaft nicht mehr abgebrochen werden, sobald der Herzschlag eines Fötus zu messen ist, was etwa ab der fünften Woche der Fall ist.
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Es mag überraschend klingen, aber tatsächlich ist die Gesetzgebung zur Abtreibung in den Vereinigten Staaten teils deutlich liberaler als etwa in Deutschland. Wer in der Bundesrepublik eine Schwangerschaft nach der 12. Woche ohne medizinische Begründung zum Schutz der Gesundheit der Mutter abbricht, macht sich strafbar. Auch eine vorausgehende Beratung ist vorgeschrieben.
In den meisten US-Bundesstaaten hingegen sind Abtreibungen noch viele Wochen später erlaubt. Maßstab ist hier oftmals der schwer festzulegende Status der "Viability", also der grundsätzlichen Überlebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs. "Viability" besteht etwa zwischen der 24. und 28. Woche. Laut Daten des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) wurde im Jahr 2018 allerdings nur ein Prozent der Abtreibungen nach der 21. Woche durchgeführt. Die überwiegende Mehrheit der Abbrüche (92 Prozent) findet ohnehin vor der 13. Woche statt. Dennoch: Würde das Gesetz aus dem republikanisch regierten Mississippi Bestand haben, wäre es mit der Beschränkung auf die 15. Schwangerschaftswoche noch immer liberaler als in Deutschland.
Ein Vergleich der beiden Länder ist dennoch schwierig. Denn in den USA ist es ungleich schwerer, einen gleichberechtigten Zugang zu medizinischen Dienstleistungen zu erhalten. Frauen, die auch noch später abtreiben wollen würden, müssten teils viele Hunderte Kilometer weit reisen, um zu einer Klinik in einem anderen Bundesstaat zu gelangen, in dem Abtreibungen auch noch zu späteren Zeitpunkten erlaubt sind. Kritiker sehen darin unter anderem eine Diskriminierung von Menschen, die sich das nicht werden leisten können. Viele sprechen deshalb auch von Rassismus, weil dadurch mehr Afroamerikaner oder Latinos als Weiße davon betroffen wären.
Unversöhnliche Aggressionen
"Was für eine Riesenlüge", ruft eine Frau in der Menge vor dem Supreme Court in Washington. Abtreibungsgegner könnten gar keine Rassisten sein, denn es würden mehr schwarze Babys abgetrieben als weiße. "Wir schützen die Leben von Schwarzen!". Andere Menschen brüllen Bibelzitate in Megafone. Auf Plakaten sind Sprüche zu lesen wie: "Fürchtet euch nicht vor Corona, der Antifa oder Black lives matter. Fürchtet Gott!"
Andere halten Bilder von blutüberströmten Embryoköpfen in die Höhe. Ein riesiges Banner zeigt einen Löwen. "Die Augen des Löwen von Judäa wachen über dich. Hältst du dich an sein Gesetz, wirst du leben." Ein Mann ruft: "Turn or burn!" – kehrt um oder brennt (in der Hölle)!
Dazwischen steht auch Marjorie Taylor Greene, die rechtskonservative Republikanerin, die auch vor QAnon-Verschwörungsideologien nicht zurückschreckt, und dreht Videos für ihre Social-Media-Blase. Später twittert sie: "Die Gesundheitsversorgung von Frauen bedeutet nicht, ein Baby im Mutterleib zu ermorden."
Obwohl die Polizei die Abtreibungsgegner und -befürworter trennen wollte, strömen immer mehr von ihnen zur politischen Gegenseite. Es ist ein wirrer Schilderwald aus Sprüchen wie "Abtreibung ist Gesundheitsversorgung" und "Abtreibung ist Mord". Die einander feindlich gesinnten Rufe werden immer lauter. Man versteht das eigene Wort nicht mehr, aber darum geht es auch nicht. Es geht nur um Sieg oder Niederlage. Dabei finden sich in den so gegensätzlich wirkenden Gruppierungen vor dem Supreme Court mehr Grautöne, als es zunächst scheinen mag.
Colleen Harris etwa ist überzeugte Katholikin und gegen Abtreibungen, aber trotzdem "pro choice", also dafür, dass Frauen selbst entscheiden dürfen. Beratung findet sie dafür aber wichtig. Und "viel mehr sexuelle Aufklärung, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern", sagt sie.
Nur ein paar Meter weiter steht Kay Fellows, eine junge Frau mit türkisgefärbten Haaren und einem Megafon in der Hand. Sie bezeichnet sich als queer, vegan und demokratisch. Dennoch sei sie "pro life", lehnt Abtreibungen in jedem Stadium ab. Ihre Argumentation: "Vergewaltigung ist ohne Frage ein schweres Gewaltverbrechen.
Aber auch Abtreibung ist ein Gewaltverbrechen. Gewalt lehnen wir als linke Gruppierung grundsätzlich ab." Das Ziel sei eine Gesellschaft, in der alle einander helfen, sagt sie. Frauen müssten dann nicht mehr abtreiben, weil sie in jeder Lebenslage ohne Stigmatisierung unterstützt würden. Es gehe stattdessen um besseren Gesundheitsschutz für Minderheiten. Warum sie nicht zu den Republikanern wechsle? "Weil wir deren Anti-LGBT-Haltung und deren Rassismus absolut ablehnen", so Kay.
Gefahr für die Republikaner
Drinnen im Gerichtsgebäude, das für die Öffentlichkeit derzeit nicht zugänglich ist, hören die neun obersten Richter der USA derweil die Argumente beider Seiten an. Es gibt Audioaufzeichnungen dieser ersten Sitzung. Beobachter äußern sich mit ersten Mutmaßungen. Ob sich vielleicht aus den Fragen der mehrheitlich konservativen Richter bereits deuten lässt, ob das Urteil "Roe v. Wade" wirklich kippen wird? Beobachter befürchten dann eine weitere Eskalation des seit Jahrzehnten andauernden "Abtreibungskriegs". Mit einer Entscheidung aber wird erst in mehreren Monaten gerechnet.
Fällt "Roe v. Wade", ist allerdings nicht ausgemacht, ob die Republikaner davon politisch wirklich profitieren würden. Eine große Mehrheit der Amerikaner erachtet Abtreibungen "in allen oder in den meisten Fällen" als richtig. Laut einer Umfrage des "Pew Research Center" sind dies derzeit 59 Prozent. Nur 39 Prozent der Befragten lehnen Schwangerschaftsabbrüche "in allen oder in den meisten Fällen" ab.
Die Sorge unter Republikanern ist deshalb groß, dass ihr derzeit gutes Momentum mit schlechten Umfragewerten von Joe Biden bis zu den wichtigen Zwischenwahlen im kommenden Jahr wieder vergehen könnte. Ausgerechnet die so notwendigen, wechselfreudigen, moderateren Wähler könnten von einer Anti-Abtreibungsentscheidung eines republikanisch geprägten Supreme Courts dann wieder zu den Demokraten getrieben werden.
- Eigene Recherchen vor Ort
- CDC: Abortion Surveillance – United States, 2018 (Englisch)
- Pew Research Center: About six-in-ten Americans say abortion should be legal in all or most cases (Englisch)
- Washington Post: Abortion wars have raged for decades. They could soon get worse (Englisch)
- Washington Post: What the Supreme Court justices have said about abortion and Roe v. Wade (Englisch)
- Guttmacher Institute: An Overview of Abortion Laws (Englisch)