Migranten an der US-Grenze Bidens größtes Dilemma
Getrieben von der Hoffnung auf ein neues Leben überqueren Migranten aus Lateinamerika täglich ohne Papiere die Grenze der USA. Ein kleiner Grenzort fühlt sich damit allein gelassen. Der Vorwurf: Die Biden-Regierung flicke einen Rohrbruch mit einem Pflaster.
Der Fluss ist nicht immer so zahm wie an diesem Morgen. Kleine mit Kieselsteinen und Grün bedeckte Inseln ragen aus dem Gewässer, das Mexiko von den USA trennt. Es dauert keine 15 Minuten, bis aus kleinen Punkten entlang der hügeligen Küste des Rio Grande Menschen mit erschöpften Gesichtern, nassen Hosenbeinen und Rucksäcken werden, die in Texas amerikanischen Boden betreten, ein neues Leben beginnen. In der kleinen Grenzstadt Del Rio wirkt es wie ein schlechter Scherz, wenn die Regierung im rund 2.800 Kilometer entfernten Washington sagt: "Die Grenze ist zu."
Die elf Migranten kommen aus Venezuela. Der Weg von Alberto und seinem vierjährigen Sohn Andres führte über die mexikanische Stadt Monterrey an die Grenze. Andres sitzt auf Albertos Schultern, als die beiden den Rio Grande überqueren. Hinter dem Zaun des Grundstücks am Fluss, an dem die Migranten ans Ufer gehen, wartet bereits der Grenzschutz. Ein Beamter weist die Migranten auf Spanisch an, die Handys auszustellen, Ausweis und Geld am Körper zu tragen und ihre restlichen Sachen in ihren Rucksäcken zu verstauen. Der Ton ist freundlich, es wird auch kurz gelacht.
"Er denkt, es sei ein Spiel"
Alberto hat Mühe, den Reißverschluss seines vollgestopften Rucksacks zu schließen. Andres tätschelt ihm die Schulter. "Er weiß nicht, was passiert. Er denkt, es sei ein Spiel", sagt der Vater. "Man kommt mit der Hoffnung. Man kommt mit dem Wunsch nach einer neuen Zukunft, danach, zu entkommen und keine Angst mehr zu haben." Wenig später steigt auch er in den weißen Transporter des Grenzschutzes ein. Das Fahrzeug ist in zwei Zellen unterteilt, die nur etwas breiter als eine Oberschenkellänge sind. Die Türen knallen zu.
Zurück bleibt der weiße Pickup mit dem Sheriffstern, der schon seit dem Morgengrauen auf dem Schotterweg am Zaun des Privatgrundstücks parkt. Joe Frank Martinez steht stundenlang am Fluss – die Pistole im ledernen Gürtelholster, das Fernglas in der Hand, den Blick nach Mexiko gerichtet. "Ich bin hier seit 13 Jahren Sheriff. So schlimm habe ich es noch nie erlebt", sagt er. Als Sheriff des Val Verde Countys fallen 177 Kilometer Grenze in seinen Zuständigkeitsbereich.
"Es ist eine humanitäre Krise"
Martinez gehört wie US-Präsident Joe Biden der Demokratischen Partei an. Die steigende Zahl derjenigen, die ihr Leben bei der Überquerung des Rio Grande aufs Spiel setzen, führt der Sheriff auf den gelockerten migrationspolitischen Kurs von Bidens noch recht neuer Regierung zurück. Martinez spricht mitfühlend über das Schicksal vieler Menschen, die am Ufer des Flusses ankommen. "Es ist eine traurige Angelegenheit. Es ist eine humanitäre Krise. Sie lastet nicht nur auf unseren Bürgern, sondern auf dem ganzen Land."
Martinez sagt, angesichts der schieren Masse illegaler Übertritte komme seine Behörde an ihre Grenze. Die Gefängnisse seien ohnehin voll – in den USA festgenommene Schmuggler erhöhten den Druck auf die Einrichtungen. Er wünschte sich, dass die Entscheidungsträger in Washington sehen könnten, was Del Rio jeden Tag erlebe.
Der Sheriff weiß genau, wo die Migranten früher oder später am Tag auftauchen werden. An diesem Morgen fährt am anderen Flussufer erst ein mexikanisches Militärfahrzeug vor, später zeigt auch eine Polizeieinheit Präsenz. Auf amerikanischer Seite haben sich Reporter des konservativen Fernsehsenders Fox News für eine Schalte aufgebaut, sie berichten seit Tagen über die Ankünfte in Del Rio.
Um Viertel vor elf ist es dann soweit: Die kleine Gruppe läuft auf der mexikanischen Seite einen Pfad auf dem Hügel zum Wasser herunter. Nach wenigen Schritten sind die Hosenbeine nass, streckenweise geht es über die kleinen Inseln mit Kieselsteinen und Gestrüpp. Vor dem kleinen Steg, an dem auch Sheriff Martinez steht, geht das Wasser den Erwachsenen bis zu den Oberschenkeln. Die Strömung des Rio Grande hat hier Kraft.
Venezolaner hoffen auf Unterstützung
Venezolaner wie Alberto und Andres können darauf setzen, in den USA Unterstützung zu bekommen, wie Martinez erklärt. Menschen aus Kuba begäben sich auch bereitwillig in die Hände der Behörden. Migranten aus Mexiko, Guatemala, Honduras oder El Salvador dagegen versuchten, den Ordnungskräften zu entkommen, da sie andernfalls nach dem Grenzübertritt direkt zurückgeschickt werden würden. Und so wählen sie gefährlichere Wege ins Land, vertrauen auf Schmuggler. Bei einer Verfolgungsjagd mit den Behörden kamen kürzlich acht mexikanische Staatsbürger ums Leben. Zwei Amerikaner wurden schwer verletzt.
Bruno Lozano ist verärgert. Der Bürgermeister der 36.000 Einwohner von Del Rio hält es für völlig unzureichend, wie die Regierung mit der Situation an der US-Südgrenze umgeht. Biden sei nun seit Januar im Amt. "Und ich warte immer noch auf einen Plan", sagt er. "Sie versuchen, ein kaputtes Rohr, das mitten in Ihrem Haus gebrochen ist und die ganze Nachbarschaft überflutet, mit einem Pflaster zu flicken." Nur "100 Prozent Abschiebung" könne die amerikanischen Gemeinden schützen. Die Worte wären nicht so überraschend, kämen sie aus dem Mund eines Republikaners. Doch der 38-Jährige gehört wie Biden und Sheriff Martinez der Demokratischen Partei an.
Eine Stadt, so nah an der Grenze
Eine Luftaufnahme links an der Wand von Lozanos Schreibtisch lässt erkennen, wie nah seine Stadt an der Grenze liegt. Wie ein dunkles Band schlängelt sich der Rio Grande zwischen Del Rio und der Stadt Acuña auf der mexikanischen Seite entlang. Die US-Regierung konzentriere sich auf Polizeireformen oder die Stärkung der Rechte von Schwarzen und sexuellen Minderheiten. Das alles betreffe ihn auch, sagt Lozano, der erste offen schwule Bürgermeister der Stadt. Die Zuwanderung sei aber ein noch viel drängenderes Problem. Einige Bürger hätten Angst, sich auf Grünflächen in der Stadt aufzuhalten. Menschenschmuggler operierten mittlerweile auf der US-Seite der Grenze. Und gerne würde er die Biden-Regierung fragen, warum Geld für die Unterbringung von Migranten ausgegeben werde, während das Land mit einer "Epidemie" der Obdachlosigkeit kämpfe.
Innerhalb der Stadt spürt man die Nähe zu Mexiko vor allem an den Taco-Läden. Menschen läuft man im Supermarkt, aber nicht auf der Straße über den Weg: In Del Rio wird Auto gefahren. Dass Migranten nicht orientierungslos im Stadtzentrum stranden, ist auch der Verdienst der Val Verde Border Humanitarian Coalition. Wer nicht abgeschoben wird und sich bis zu einer gerichtlichen Vorladung frei im Land bewegen kann, wird vom Grenzschutz meist weniger als 24 Stunden nach dem Grenzübertritt bei den Räumlichkeiten des Vereins in Del Rio abgesetzt. Bei den Freiwilligen um Tiffany Burrow können sich die Migranten ihre Weiterfahrt organisieren. Bus- oder Flugtickets zum Zielort müssen sie selbst bezahlen. Die Ehrenamtlichen helfen aber dabei, Verbindungen aus dem schlecht angebundenen Ort zu finden. Es gibt Duschen, für Kinder steht Spielzeug bereit. "Hier bekommen sie einen ersten Eindruck von Amerika", sagt Burrow.
Missverständnisse nach Machtwechsel?
Ariel aus Kuba will mit seiner Partnerin und der einjährigen Tochter weiter in den nordöstlichen Bundesstaat New Jersey. Seine Familie habe bewusst bis nach dem Regierungswechsel gewartet, um in die USA zu gelangen, sagt Ariel – Bidens republikanischer Vorgänger Donald Trump verfolgte eine extrem restriktive Migrationspolitik. "Wir haben die Nachrichten gelesen und den besten Moment abgepasst, um Mexiko zu verlassen", sagt der 31-Jährige. Er besteht darauf, Englisch zu sprechen – das müsse er schließlich weiter verbessern.
"Ich will das Beste für diese Familien. Sie können den Schmelztiegel bereichern, der Amerika ist", sagt Tiffany Burrow. Nach dem Machtwechsel habe es das Missverständnis gegeben, dass die Grenzen der USA "weit offen" seien. Jetzt schleiche die Regierung um das Thema herum, statt es anzugehen. "Wir haben sie hier unten noch nicht gesehen", sagt Burrow. Die Situation an der Grenze habe für die Regierung keine Priorität. "Alles andere steht im Vordergrund."
Im Ort sei die Stimmung gegenüber den Migranten zunehmend feindselig, schildert Burrow. Es sei nicht unüblich, dass Autofahrer bei dem Verein anhielten, die Ankömmlinge filmten und die Videos in sozialen Medien veröffentlichten. Die Ehrenamtliche sagt: "Ich frage mich manchmal, wie viel unser Land aushalten kann."
Auch Alberto organisiert die Weiterfahrt für sich und seinen Sohn bei den Freiwilligen der Val Verde Border Humanitarian Coalition. Wenige Tage später berichtet er am Telefon, dass die beiden es nach Miami geschafft hätten. In Florida habe bereits seine Frau mit seinem anderen Sohn gewartet - nach zwei Wochen der Trennung sei die Familie nun wieder vereint. Anfang Juni muss der Venezolaner vor einem Einwanderungsrichter erscheinen. "Ich hoffe, dass wir es schaffen werden."
- Nachrichtenagentur dpa