Presse zum TV-Duell "Eine blamable Vorstellung – selbst für seine Verhältnisse"
Trump eine Karikatur, Biden der letzte Gentleman? Überall auf der Welt wurde das TV-Duell um die Präsidentschaft verfolgt. Die Presse fällt ein vernichtendes Urteil – nicht nur für Trump.
Hitzige Wortgefechte, ein überforderter Moderator: Das erste TV-Duell zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem demokratischen Herausforderer Joe Biden war an Chaos kaum zu überbieten. Warum es trotzdem lange nachhallen wird, weiß die internationale Presse.
Washington Post: "Trump kam scheinbar voller Trauer und Empörung an, entschlossen, sich nur durch den Abend zu brüllen, ohne eine Frage beantworten oder aufrichtig mit den Zuschauern sprechen zu müssen. Er warf Biden Probleme mit den Auslandsgeschäften seines Sohnes Hunter vor und weigerte sich dann, seinen Rivalen antworten zu lassen. Er jammerte über 'Fake News' und Hillary Clinton. Er redete so viel, dass es unmöglich wurde zu verstehen, wovon er sprach. Er redete unaufhörlich und sagte doch sehr wenig. Er redete so viel, als wolle er seine Worte in den Zuschauer hineinprügeln."
The Times (London): "Der klarste Verlierer dieser ersten Präsidentschaftsdebatte zwischen Donald Trump und Joe Biden war Amerika. (...) Tatsächlich war das keine Debatte, die einen vernünftigen Sinn ergab. Es war ein missmutiger und bisweilen unverständlicher Streit zwischen zwei wütenden Männern in den Siebzigern, die sich spürbar gegenseitig verabscheuen. (...) Diese Wahl wird nicht geräuschlos enden. Im letzten Teil der Debatte ging es um die Integrität der Wahl. Trump blieb bei seiner konsequenten Weigerung, sich zur Anerkennung des Wahlergebnisses zu verpflichten. Stattdessen setzte er noch eins drauf und behauptete, dass Briefwahlstimmen Betrug ermöglichen, und er ermutigte seine Anhänger, das Geschehen in den Wahllokalen zu überwachen. Verbunden mit seiner Weigerung, weiße Rassisten zu verurteilen – er forderte die Gruppe 'Proud Boys' auf, sich 'zurückzuhalten und bereitzuhalten' – bot dieser Teil keine großen Hoffnungen auf eine baldige Linderung der tiefen Spaltung Amerikas."
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Neue Züricher Zeitung: "Trump gelang es in dieser aufgeheizten Atmosphäre nicht, Auskunft über sein politisches Programm für eine zweite Amtszeit zu geben – und zum Beispiel den Fernsehzuschauern zu erklären, wie er die weltgrößte Volkswirtschaft wieder auf Vordermann bringen will. (...) Biden (sah) im Übrigen nicht aus wie die Karikatur, die Trump und seine Wahlkampfberater in den vergangenen Wochen von ihm gezeichnet hatten. Der 77-Jährige war präsent, griff den Präsidenten dort an, wo er angreifbar ist – zum Beispiel bei den Themen Corona-Pandemie und Krankenversicherungsreform – und hatte keinen massiven Aussetzer. Letztlich schnitt Biden damit, gemessen an den Erwartungen an ihn, besser ab als Trump, der in den Meinungsumfragen zurückliegt. Fast alle Kommentatoren waren sich aber einig darüber, dass die Debatte insgesamt keinen guten Eindruck hinterließ."
Politiken (Kopenhagen): "Unterbrechungen, Chaos, grobe Beschuldigungen, persönliche Angriffe, abfällige Spitznamen und erhobene Stimmen: Das waren die Grundzutaten der ersten TV-Debatte zwischen Präsident Trump und Joe Biden. Würdig war das nicht. Im Gegenteil. Obwohl Fox-News-Moderator Christopher Wallace mit imponierender Ruhe sein Bestes gab, um die Debatte in der Spur zu halten, war sie eine demütigende und deprimierende Vorstellung für eine verehrte Demokratie wie die USA. Sie zeigte eine Supermacht, die im extremen Streit mit sich selbst ist. Trotzdem war die Debatte wichtig. Zum einen zeigte sie im Übermaß die Tiefen, in die Trump bereit ist, im Kampf um den Machterhalt zu versinken. Zum anderen – und das ist vielleicht wichtiger – hat die US-Bevölkerung Joe Biden endlich im Nahkampf mit Trump sehen können. Und er hat sich in feinem Stil geschlagen. Das war nicht "Sleepy Joe", wie Trump seinen Gegner abfällig nennt. Er war klar, ruhig, eindeutig mental frisch und überraschend aggressiv. So wurde in der Nacht auch klar, wer der Sieger der US-Präsidentenwahl sein sollte: Biden."
Los Angeles Times: "Inmitten der unaufhörlichen Unterbrechungen etablierte sich Biden als Stimme der Vernunft und des Mitgefühls und bildete einen Kontrast zu Trumps ungehemmten Beschimpfungen. Trump war unterdessen eine übertriebene Version seiner selbst: roh, verleumderisch und demagogisch. Er schimpfte über bekannte Obsessionen: 'Recht und Ordnung', die 'Fake-News-Medien' und – die größte und gefährlichste Lüge der Nacht – seine Behauptung, dass Briefwahlen mit zügellosem Betrug verbunden sind. (...) Jeder, der Donald Trumps Debatten mit Hillary Clinton im Jahr 2016 verfolgt hatte, war sich bewusst, dass er in seiner ersten Debatte mit Joe Biden wahrscheinlich aggressiv und widerlich sein würde. Aber Trumps Mobbing-Auftritt in Cleveland war eine Beleidigung für das amerikanische Volk."
The Telegraph (London): "Unfähig oder nicht willens, die Klingen zu kreuzen, wurde ein frustrierter Biden darauf reduziert, seinen Kopf zu schütteln, manchmal begleitet von einem verärgerten Gekicher. Die schillernde Gestalt, die in der Obama-Administration für etwas Leichtigkeit sorgte, war verschwunden und wurde durch einen verängstigten, müden Mann ersetzt, der entsetzt war über die ihm dämmernde Erkenntnis, dass er von einem Mann übertroffen wurde, den er zweimal als 'Clown' bezeichnete."
NRC Handelsblad (Amsterdam): "Beide Kandidaten betonten so schnell wie möglich die Punkte, die sie vermitteln wollten. Als es um die Ernennung für das Oberste Gericht ging, begann Biden sofort über das Gesundheitssystem von Präsident Obama zu reden, das sein Nachfolger Trump zu zerstören versucht und mit dem sich das Gericht bald befassen wird. Und als der Moderator das Thema Rassismus ansprach, ignorierte Trump dies und begann stattdessen über die Strafverfolgung zu sprechen. Brauchen wir wirklich noch zwei Debatten von dieser Art?"
Tagesanzeiger (Zürich): "Die Diskussion der beiden Kontrahenten mochte unergiebig sein, sie erlaubte aber eine Einschätzung ihrer charakterlichen Befindlichkeit. Und nach fast vier Jahren Chaos und Clownshow blieb am Ende der gestrigen Debatte jenes Fazit, das bereits Watergate-Starjournalist Bob Woodward nach 19 Interviews mit dem Präsidenten gezogen hatte: Trump ist der falsche Mann für den Job. Und kaum dürfte das Chaos auf der Bühne in Cleveland, verursacht vornehmlich von Donald Trump, jemanden dazu bewegen, ins Lager des Präsidenten zu wechseln. Das aber war die Aufgabe, die Trump in Cleveland hätte erfüllen müssen. Er hat es nicht vermocht, im Gegenteil: Selbst für seine Verhältnisse lieferte der Amtsinhaber gestern eine blamable Vorstellung. Und je lauter er Joe Biden ins Wort fiel, desto mehr entblößte sich der Präsident als ein selbstbezogener Mann auf einem gigantischen Ego-Trip."
- Nachrichtenagentur dpa
- eigene Recherche