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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die vergessene Krise Afghanistans "Es geht nur noch um das nackte Überleben"
Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan warnten viele vor einer humanitären Krise im Winter. Seitdem ist es um das Land still geworden. Jetzt ist der Winter da
Es ist das erste Mal seit Langem, dass Afghanistan in der deutschen Öffentlichkeit wieder etwas Aufmerksamkeit geschenkt wird: Das Land am Hindukusch steuere "in die größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit", warnte Außenministerin Annalena Baerbock kurz vor Weihnachten. Die Feiertage sind traditionell auch in der Politik die Zeit, der großen Krisenherde zu gedenken. Danach aber passiert oft: nichts.
Im Sommer kehrte die deutsche Bundeswehr Afghanistan nach einem 20-jährigen Einsatz den Rücken. Nachdem die internationalen Truppen das Land verlassen hatten, übernahmen die Taliban innerhalb kürzester Zeit die Macht. Die Staatengemeinschaft fror daraufhin die für das Land so wichtigen Hilfsgelder ein. Experten warnten schon damals: Dem krisengebeutelten Land droht im Winter eine schwere humanitäre Katastrophe.
Millionen Menschen brauchen humanitäre Hilfe
Der Winter ist mittlerweile da, doch in Deutschland haben die Bundestagswahl, der Regierungswechsel und eine wieder eskalierende Corona-Pandemie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit voll und ganz auf sich gezogen. Auch außenpolitisch richten sich die Augen mittlerweile angsterfüllt auf die eskalierende Situation an der ukrainischen Grenze zu Russland. Die nahende Katastrophe in Afghanistan schien schon in Vergessenheit geraten. Nun äußert sich also die neue Außenministerin. Große Teile der Wirtschaft in Afghanistan seien zusammengebrochen, viele Menschen müssten hungern, sagte Baerbock. "Über 24 Millionen Menschen brauchen in diesem Winter humanitäre Hilfe, um überleben zu können."
Die furchtbare Zahl hat Baerbock vom International Rescue Committee (IRC). Die Organisation veröffentlichte jüngst ihre "Emergency Watchlist", in der sie die schlimmsten humanitären Krisen weltweit auflistet. Afghanistan schafft es in dem Report auf den traurigen ersten Platz – noch vor Ländern wie Äthiopien und dem Jemen. Denn dem Land fehlt es an allem.
Zahl der Hungernden in wenigen Monaten verdoppelt
Zum einen wären da Armut und Hunger. Eine deutliche Sprache sprechen die Zahlen, die der Landesdirektor für Afghanistan bei der Welthungerhilfe, Thomas ten Boer, nennt: Die Arbeitslosenquote im Land steigt Richtung 85 Prozent. Gleichzeitig sind auch die Lebensmittelpreise um 50 Prozent gestiegen. Bis Juni 2022 könnten 97 Prozent der mehr als 40 Millionen Menschen im Land in Armut leben. 98 Prozent der Bevölkerung bekommen nicht mehr genug zu essen. Die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, hat sich von 11 Millionen im Mai dieses Jahres auf 22,8 Millionen im November mehr als verdoppelt – und sie steigt weiter.
Darüber hinaus steht das Gesundheitssystem Afghanistans kurz vor dem Kollaps. Es gebe nicht genügend Medikamente, Personal und medizinische Ausrüstung, erklärt Christine Kahmann von Unicef auf Anfrage von t-online. Die Zahl der Betten in den Krankenhäusern decke nicht den Bedarf. Ärzte versuchten zwar alles, um möglichst viele Leben zu retten, hätten aber seit Monaten kein Gehalt mehr erhalten. Speziell in ländlichen Regionen hätten bereits viele Gesundheitszentren schließen müssen. Währenddessen sind Krankheiten wie die Masern und auch das Coronavirus auf dem Vormarsch.
Temperaturen bis Minus 25 Grad
Der nun anstehende Winter wird die Situation wohl noch weiter verschlimmern, denn zumindest in Teilen des Landes wird es bitterkalt. Die Temperaturen in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans, können in den kalten Monaten auf minus zehn Grad fallen, erklärt ten Boer. In den zentral gelegenen, bergigen Gebieten und im Nordosten des Landes könnten es sogar bis zu minus 25 Grad werden.
Viele Menschen haben bei den eisigen Temperaturen kaum Schutz vor der Kälte. Er habe zwar keine endgültigen Informationen, schätze die Zahl der Menschen ohne adäquate Behausung jedoch auf ungefähr drei Millionen, sagt ten Boer. "Sehr wahrscheinlich mehr", fügt er an. Geld für Brennmaterialien hätten viele Familien nicht, erklärt Kahmann. Zudem befürchtet sie, dass speziell ländliche Regionen durch starke Schneefälle in den kommenden Monaten schwer für Helfende zu erreichen sein werden.
Die Kinder trifft es besonders hart
All diese Probleme treffen die Jüngsten des Landes besonders hart. "Vor allem die Situation der Kinder ist katastrophal", sagt Kahmann. "Afghanistan ist seit vielen Jahren einer der schlimmsten Orte der Welt, um ein Kind zu sein", sagt sie. Dabei zahlten die Kinder den höchsten Preis in einer Not, für die sie selbst nichts könnten. "Es geht für viele Familien wirklich nur noch um das nackte Überleben", so Kahmann weiter.
Allein 14 Millionen Mädchen und Jungen bekämen nicht ausreichend zu essen. Mehr als eine Million dieser Kinder sei so stark mangelernährt, dass ihr Leben am seidenen Faden hinge. "Wenn sie jetzt keine Hilfe erhalten, werden viele von ihnen den nächsten Frühling nicht erleben", prognostiziert Kahmann. Es sei ein Wettlauf gegen die Zeit. Selbst wenn sie überleben, werden die Kinder ein Leben lang mit den Folgen des Hungers zu kämpfen haben. "Die Auswirkungen von Mangelernährung sind irreversibel und die gesundheitlichen Schäden werden sich ein Leben lang auswirken", sagt ten Boer.
"Dort, wo das Lachen von Kindern zu hören sein sollte, herrscht Stille"
Die Eltern stünden angesichts der vielen Probleme vor "herzzerreißenden Entscheidungen", so Kahmann. Sie wüssten nicht, wie sie ihre Kinder ernähren und gleichzeitig warm halten können. Das Geld reiche nur für Nahrung oder Brennmaterialien – nicht aber für beides. Viele Erwachsene verzichteten deswegen auf Mahlzeiten, um das wenige Essen ihren Kindern geben zu können. Doch selbst dabei handele es sich häufig nur um trockenes Brot, das sie mit Tee genießbar machten. "Dort, wo das Lachen von Kindern zu hören sein sollte, herrscht Stille", berichtet Kahmann. "Die Kinder sind zu schwach, weil sie all ihre Kraft benötigen, um am Leben zu bleiben."
Beide Organisationen kämpfen händeringend vor Ort, um Leben zu retten. "Was es am dringendsten braucht, ist Nahrungsmittelsicherheit", sagt ten Boer. "Wir müssen ausreichend Essen für die Familien bereitstellen, um die Mangelernährung zu minimieren und den Menschen dabei zu helfen, den Winter zu überbrücken." Auch Kahmann plädiert dafür, möglichst viele Hilfsgüter in die Provinzen zu bringen – vor allem Medikamente, Zusatznahrung für mangelernährte Kinder, warme Decken und Heizmaterialien. Zudem müsse die medizinische Versorgung aufrechterhalten werden.
Appell an die Staatengemeinschaft
Dabei brauchen die Organisationen Unterstützung. Kahmann richtet an die internationale Gemeinschaft den flehentlichen Appell, Hilfe trotz der politischen Unwägbarkeiten fortzusetzen. Dafür müsse "alles getan" werden, sagt sie. Die Zeit dränge. "Wir dürfen nicht warten, sondern müssen alle Fenster für die humanitäre Hilfe nutzen, bevor der Winter sich weiter zuspitzt und die Situation sich weiter verschlimmert", so ihre eindringliche Warnung. Sie bittet auch die Bevölkerung in Deutschland und Europa um Hilfe: "Es braucht dringend weiter Spenden", so Kahmann.
Ten Boer mahnt auch langfristig weiter Hilfe an. "Nur Nahrungsmittel sind für das afghanische Volk nicht genug", sagt er. "Deutschland muss an Afghanistan interessiert bleiben und seine Entwicklung und Zukunft unterstützen." Von der internationalen Gemeinschaft wünscht er sich Unterstützung für die unterdrückten Frauen im Land. "Die internationale Gemeinschaft muss sich weiter auf die Gleichberechtigung der Frauen konzentrieren."
Mit ihrer Ankündigung, von Deutschland finanzierte Hilfe auch über Nichtregierungsorganisationen zu leisten, dürfte die Außenministerin also offene Türen einrennen. Die Menschen in Afghanistan sind darauf angewiesen, dass sie Wort hält.
- Interview mit Thomas ten Boer
- Interview mit Christine Kahmann
- IRC Emergency Watchlist 2022
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa