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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Versagen der afghanischen Armee Die falschen Sündenböcke
Die afghanische Armee ist auf der Flucht oder läuft zu den Taliban über – ein Debakel. So überraschend, wie der Westen tut, ist es jedoch nicht. Nur in einer Provinz formiert sich Widerstand gegen die Islamisten.
Der von der westlichen Allianz unterstützte Präsident Aschraf Ghani ist unter dubiosen Umständen ins Ausland geflohen.
Die jahrelang von internationalen Militärs ausgebildete afghanische Armee? Beugte sich in vielen Regionen kampflos den Taliban.
In den vergangenen Tagen wurden diese beiden Entwicklungen zum Sinnbild des westlichen Scheiterns in Afghanistan.
Präsident Ghani gab den Kampf um Kabul auf, ohne die Mitglieder seiner Regierung zu informieren. Stattdessen belud er Autos und Hubschrauber mit Geld. Als nicht noch mehr Scheine hineinpassten, mussten Koffer auf dem Rollfeld zurückbleiben, berichtet die russische Botschaft in Kabul. Die Umstände der Flucht Ghanis sind das peinliche Eingeständnis eines Staatsführers, der in der Bevölkerung keinen Rückhalt hatte.
Vieles spricht dafür, dass die russische Schilderung der Wahrheit entspricht. Denn es gilt als wahrscheinlich, dass sich der afghanische Präsident zunächst in die ehemaligen Sowjetrepubliken Usbekistan oder Tadschikistan absetzte. Dafür brauchte er russische Unterstützung, ohne Moskau läuft in diesen Staaten wenig.
Vormarsch der Taliban war keine Überraschung
Mit seinem plötzlichen Verschwinden wollte Ghani laut eigenem Statement ein Blutbad in Kabul verhindern. Zweifel an dieser Aussage sind angebracht, schließlich hätte es dafür eine Armee benötigt, die für die afghanische Regierung kämpfen wollte. Doch die hatte Ghani nicht.
- Tagesanbruch: Die Taliban haben einen raffinierten Plan
Widerstand der Sicherheitskräfte gegen den Vormarsch der Taliban gab es im letzten Monat stattdessen kaum. Die USA, deren Geheimdienste und westliche Partner haben die Lage falsch eingeschätzt. Jeder westliche Politiker, der aktuell ein Interview zu Afghanistan gibt, zeigt sich überrascht davon, wie schnell die Taliban das Land eroberten.
Anzeichen für die Schwäche der Armee gab es allerdings schon lange, der Westen wollte sie in den vergangenen Jahren nur nicht sehen. Er überschätzte die Sicherheitskräfte maßlos. Vielleicht schauten die Verantwortlichen auch nicht so genau hin, weil sie ihre Ausbildungserfolge nicht infrage stellen wollten. So oder so: Es ist ein Desaster.
Ein militärisches Fiasko
Das Ausmaß dieser Fehleinschätzungen zeigte sich in den letzten Tagen in schockierenden Szenen. Am Freitag war Präsident Ghani noch in Masar-i-Scharif, um seine Truppe dort auf den Kampf gegen die Taliban einzuschwören. Einen Tag später übergab die afghanische Armee die Provinz an die Islamisten – kampflos. Zuvor hatten sich auch "Regierungstruppen" in der Provinz Herat kampflos ergeben. Das löste einen Dominoeffekt aus. International entstand das Bild einer Hasen-Armee, das westliche Politiker nur allzu gerne bedienten.
Dies sind nur einige Vorfälle von vielen. Ist also alles die Schuld einer überraschend "feigen" afghanischen Armee und ihres Regierungschefs?
Mit dieser These macht es sich der Westen zu einfach.
Vier Fehler muss sich das westliche Bündnis ankreiden:
1. Kampfbereitschaft der afghanischen Armee überschätzt
Die afghanische Armee und die Sicherheitskräfte haben gegen die Taliban gekämpft – und das viele Jahre lang. Mit Bombenanschlägen und Selbstmordattentaten haben die Islamisten die Moral dieser Kräfte zermürbt. Allein von 2014 bis 2019 starben geschätzt 45.000 Soldaten der Nationalarmee im Kampf gegen die Taliban und gegen die Terrormiliz IS. Der Westen zeichnete zuletzt das Bild eines Afghanistan, das in den letzten Jahrzehnten von der Gefahr des radikalen Islamismus befreit wurde. Dem war nicht so.
Auf dem Papier schien das Kräfteverhältnis klar: knapp 300.000 afghanische Soldaten und Sicherheitskräfte gegen Schätzungen zufolge 50.000 bis 70.000 Taliban. Doch Zehntausende Soldaten der afghanischen Armee haben nie existiert. Diese "Geistersoldaten" wurden zwar von den USA bezahlt, aber es habe sie nur in den Büchern gegeben, berichtet der "Spiegel". Hinzu kommt, dass die Fahnenflucht schon in den vergangenen Jahren ein großes Problem war: Im Jahr 2016 schätzten afghanische Offiziere, dass monatlich 5.000 Soldaten oder Polizisten desertierten.
2. Die Folgen des eigenen Abzugs wurden unterschätzt
Nachdem vor allem die USA mit ihrem Rückzug aus Afghanistan begonnen hatten, verlor die afghanische Armee an Kampfkraft und Teilbereiche waren nur bedingt einsatzfähig. Der Abzug der westlichen Soldaten war ein Schlag für die Moral der afghanischen Armee, sie fühlte sich im Stich gelassen.
Plötzlich gab es keine US-Luftunterstützung mehr, keine nachrichtendienstliche Aufklärung. Die afghanischen Truppen konnten das nicht kompensieren.
Hinzu kam, dass die afghanischen Streitkräfte von der eigenen Regierung nur schlecht ausgerüstet waren. Mit der US-Armee gingen auch viele Subunternehmen, die beispielsweise für die Wartung von Kampfflugzeugen zuständig waren.
Die Taliban nutzten den plötzlichen Abzug des Westens. Die Islamisten unterwanderten die Armee, versuchten, Offiziere zu kaufen. Sie bauten eine Drohkulisse auf, schrieben Armeeangehörigen, dass sie ihre Familien töten würden. Deshalb flohen auch Offiziere wenige Tage nach dem Bundeswehrabzug ins Ausland – aus Angst.
3. Die Versorgungswege wurden preisgegeben
Der überhastete westliche Abzug erschwerte es der afghanischen Armee, die eigenen Truppen an der Front zu versorgen. Es war einfach für die Taliban, die Versorgungswege zu unterbrechen, denn viele Provinzhauptstädte sind nur durch eine Straße verbunden, auf der Nachschub transportiert werden konnte.
Mit dem Ausbleiben von Munition, Treibstoff und lebenswichtiger Ressourcen gab es für die Soldaten auch keine Hoffnung mehr. "In den letzten Tagen gab es gar kein Essen, kein Wasser und keine Waffen", sagte ein Soldat in der nördlichen Provinz Kundus dem "Wall Street Journal".
Der Dominoeffekt – die Aufgabe von immer mehr Provinzen an die Taliban – wurde dadurch beschleunigt, dass immer mehr Waffen und militärische Geräte der afghanischen Armee in die Hände der Islamisten fielen.
4. Realitäten im Land missachtet
Die westlichen Staaten wollten aus Afghanistan ein zentralisiertes Land machen, doch das ging völlig an der Realität vorbei. Afghanistan ist gespalten in unterschiedliche Stammeskulturen und in Provinzen, die von Warlords kontrolliert werden. Der Bevölkerung wurden mit Rückendeckung des Westens Provinzgouverneure aus Kabul vorgesetzt. Deshalb sahen es große Teile nicht unbedingt kritisch, als die Taliban diese austauschten.
Auch das ist keine Entwicklung der vergangenen Jahre: Schon der erste Präsident nach der westlichen Invasion, Hamid Karzai, wurde im Land als "Bürgermeister von Kabul" bezeichnet. Korruption in der aktuellen Regierung trug dazu bei, dass sie keinen Rückhalt in der Bevölkerung hatte.
Nach der Flucht Ghanis scheint ein Großteil der Menschen nicht darüber zu trauern, dass ihr Präsident das Land verlassen hat. Außerdem wird oft vergessen, dass die Taliban keine externe Gruppe sind, die das Land erobert. Sie sind tief in der afghanischen Gesellschaft verwurzelt.
Auch afghanische Politiker begingen folgenreiche Fehler: So befeuerten sie stets das Narrativ vom Westen als Besatzungsmacht, die für das Leid im Land verantwortlich ist. Damit wollten sie die eigene Beliebtheit in der Bevölkerung steigern, aber brachten vor allem den Taliban Sympathien – den Vorkämpfern gegen den Westen.
Ohne Exit-Plan zum Chaos
Demnach gibt es viele militärische und psychologische Gründe, die zu der schnellen Zersetzung der afghanischen Armee führten – viele davon waren absehbar und hatten mit dem überhasteten Abzug des westlichen Bündnisses zu tun. Die These, der Westen habe Afghanistan den Taliban quasi übergeben, ist folglich richtig.
Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die westliche Präsenz an dieser Situation im Land in den kommenden Jahren nichts verändert hätte. Das Problem war eher ein strategisches: Der Plan für Afghanistan hat schlichtweg nicht funktioniert. Ein Exit-Plan, der nicht zu Chaos geführt hätte, fehlte.
Talibangegner ziehen Kräfte zusammen
Immerhin gibt es auch aktuell noch Widerstand gegen die Islamisten. Die Provinz Pandschschir wurde noch nicht von den Taliban erobert. Dort sammeln sich momentan um den Warlord Ahmad Massoud, den Sohn des afghanischen Nationalhelden Ahmad Schah Massoud, und um Afghanistans Vizepräsidenten Abdul Dostum ehemalige Soldaten der Armee und Gegner der Taliban, die sich zumindest kampfbereit geben.
Sie veröffentlichen Aufmarschbilder, die Stärke demonstrieren sollen – besonders für mögliche Friedensverhandlungen mit den Taliban. Aber ob sie den Islamisten etwas entgegensetzen können, muss bezweifelt werden. Zu stark sind die Taliban mittlerweile geworden.
Trotzdem zeigt die Mobilisierung in Pandschschir, dass der Bürgerkrieg in Afghanistan noch blutiger werden könnte. Dem Westen und dem afghanischen Präsidenten Ghani bleibt dabei nur eines: die Zuschauerrolle. Sie haben Afghanistan verloren.
- "Spiegel": Wie die afghanische Armee so schnell kollabieren konnte
- "ZDF heute": Warum die Taliban Afghanistans Armee besiegen
- "Reuters": Taliban fighters ambush, kill dozens of retreating Afghan troops
- "Tagesschau": Warum es die Taliban so leicht hatten
- "Guardian": Taliban say they seek no ‘revenge’ in press conference
- "Reuters": Afghan vice president says he is "caretaker" president
- "Zeit": Berüchtigter Warlord Dostum kehrt aus dem Exil zurück