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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eskalation in Nahost "So etwas habe ich noch nie erlebt"
Heulende Sirenen, explodierende Raketen: Viele Menschen in Israel sind den Schrecken des ständigen Alarms und die Flucht in Schutzbunker gewöhnt. Doch diesmal herrscht mehr Angst – auch vor einem Krieg.
Eine qualvolle Stunde lang herrschte Kriegsatmosphäre in Tel Aviv und seinen Vororten. Immer wieder heulten am Dienstagabend die Sirenen auf, die vor eingehendem Raketenbeschuss aus Gaza warnen. Dazu ertönte in der Ferne dumpfes Knallen, wann immer das Raketenabfangsystem "Iron Dome" ein Geschoss in der Luft aufhielt.
Die Straßen der sonst so quirligen Mittelmeermetropole waren wie leergefegt, Passanten suchten Schutz in Bunkern oder den Treppenhäusern der nächstgelegenen Gebäude. Diese gelten bei Raketenbeschuss nach Bunkern als sicherster Ort. Zum späten Abend hin verstummten die Sirenen für eine Weile, nur um nachts erneut die Menschen aus dem Schlaf zu reißen. Es war eine Nacht, wie das urbane Zentrum des Landes sie seit Jahren nicht erlebt hat.
Israelischer Soldat durch Panzerabwehrrakete getötet
Mindestens 1.200 Raketen haben palästinensische Terroristen im Gazastreifen seit Montagabend gen Israel abgefeuert. Die meisten von ihnen fing "Iron Dome" ab, doch die Wucht des Angriffs überwältigte die Anlage immer wieder. Ein Geschoss traf einen leeren Bus in Holon, einem Vorort Tel Avivs, und verletzte die Umstehenden. Mindestens fünf israelische Zivilisten, darunter ein Kind, kamen bisher bei den Angriffen ums Leben. Am Mittwochmorgen starb zudem ein 21-jähriger israelischer Soldat durch eine Panzerabwehrrakete.
In Reaktion darauf bombardierten die israelischen Streitkräfte (IDF) letzte Nacht und im Laufe des heutigen Tages etliche militärische Ziele in Gaza, wobei laut palästinensischen Angaben 53 Menschen starben, darunter mehrere Kinder. Über 200 Palästinenser wurden verletzt. Der IDF-Sprecher Jonathan Conricus betonte, die Armee attackiere einzig "militärische Ziele, die für militärische Zwecke genutzt werden", von der Hamas jedoch bewusst inmitten ziviler Infrastruktur platziert worden seien.
Unter anderem bombardierte die Luftwaffe mehrere mehrstöckige Gebäude, von denen eines nach IDF-Angaben als Hauptquartier für die Aufklärungseinheit der Hamas gedient hatte. Zudem tötete sie heute zehn hochrangige Kommandeure der Hamas sowie vier Experten für die Entwicklung und Produktion von Waffen.
"Gestern war es wirklich beängstigend"
Die Terrororganisation Hamas intensivierte daraufhin ihre Angriffe. Abends ertönten in Tel Aviv und den umliegenden Städten erneut Sirenen und trieben die Menschen in die Bunker.
Die Bewohner der Städte im Süden Israels leiden regelmäßig unter Raketenbeschuss, für die Menschen im urbanen Zentrum des Landes ist die Lage jedoch eine Ausnahmesituation. "So etwas habe ich noch nie erlebt", erzählt Oriana Shushan, eine 45-jährige Israelin, die seit 23 Jahren in Tel Aviv wohnt. Am Dienstagabend überraschten die Sirenen sie bei einem Tanzabend, der im Keller eines Gebäudes stattfand. Eine Stunde harrte sie dort mit den anderen Teilnehmerinnen aus, bis sie sich wieder ins Freie wagte. "Wir sind es gewöhnt, dass der Alarm ein paar Minuten dauert", erzählt sie am Telefon. "Aber gestern war es wirklich beängstigend."
Panik herrscht jedoch nicht: Kurze Zeit, nachdem die Sirenen gestern Abend verstummten, fuhren im Zentrum des Landes wieder Autos durch die Straßen, saßen manche Israelis wieder äußerlich entspannt in Imbissbuden.
Spekulationen über eine Bodenoffensive
Mit einer baldigen Beruhigung der Lage rechnen derweil nur wenige. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte harte Vergeltung für die Raketenschläge an. Das israelische Nachrichtenportal Ynet zitierte heute gar eine Quelle aus dem Sicherheitskabinett mit den Worten: "Wenn wir alle unsere Ziele getroffen haben und die andere Seite sich noch immer nicht ergeben hat, werden wir eine Bodenoperation starten, auch wenn wir das nicht anstreben."
In der Tat spekulieren viele Israelis derzeit über einen Krieg, wie die israelische Armee ihn zuletzt 2014 gegen Terrororganisationen in Gaza führte. Der Einsatz von Bodentruppen sei nicht unmittelbar geplant, teilte ein Armeesprecher heute Abend mit, zähle jedoch zu den Szenarien, auf die das Heer sich vorbereite.
Im Zentrum des Konflikts steht Jerusalem, wo sich schon seit Wochen Palästinenser und israelische Sicherheitskräfte täglich heftige Straßenkämpfe liefern. Der Streit dreht sich um das Vorgehen der Polizei, das viele Palästinenser als unnötig brutal empfinden, sowie einen Rechtsstreit um mehrere Grundstücke in einem arabisch geprägten Viertel, bei dem mehreren palästinensischen Familien die Zwangsräumung drohen könnte.
Lage in Lod außer Kontrolle
Die Spannungen ziehen inzwischen auch innerhalb des Landes weite Kreise: In mehreren israelischen Städten protestierten heute arabische Bürger, zum Teil kommt es dabei zu Zusammenstößen mit Polizisten oder jüdischen Aktivisten. In der arabisch-jüdischen Stadt Lod ist die Lage derart außer Kontrolle geraten, dass die Regierung dort eine Ausgangssperre verhängt hat.
Mehrere arabische Staaten, darunter auch jene, zu denen Israel diplomatische Beziehungen unterhält, haben das Vorgehen der israelischen Regierung kritisiert. Innerhalb des Landes jedoch scheinen bislang die meisten Menschen den Kurs der Regierung zu stützen. "Es gibt enormen Druck sowohl von der Rechten als auch von der Linken, aggressiv zu reagieren", meint der israelische Sicherheitsexperte Amos Harel, Militäranalyst für die Zeitung Haaretz. Auch die Hamas in Gaza gibt sich weiter kämpferisch und droht mit weiteren Angriffen.
Manche Israelis nehmen die Lage mit schwarzem Humor. Für heute Abend um 18 Uhr Ortszeit hatte die Hamas Bombardements auf israelische Städte im Norden des Landes angedroht. Doch um 18 Uhr passierte nichts. Etliche Israelis spotteten daraufhin auf Twitter über die Verspätung. "Ich bin schon ins Treppenhaus gegangen", schrieb einer, "um mir gute Plätze zu sichern".
- Eigene Recherche