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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dauerkrise im Libanon Das Land, in dem es keine Zukunft gibt. Für niemanden.
Schlimmer kann es nicht mehr werden – diese Einstellung ist im Libanon verbreitet. Doch es wird immer noch schlimmer: Nach der Corona-Pandemie und der verheerenden Explosion droht nun sogar ein Bürgerkrieg.
Michel Hamoud sitzt auf einem klapprigen Gartenstuhl vor seinem zerstörten Haus. "Von meiner Heimat, die mir alles bedeutet, ist nichts geblieben. Politiker haben uns alles genommen. Einfach alles." Er inhaliert langsam den Rauch seiner Shisha-Pfeife und sagt: "Ich träume von Europa. Von einem Leben in Frieden."
Der 44-Jährige lebt mit Ehefrau Pascale und zwei Kindern, vier und fünf Jahre alt, im Stadtteil Karantina. Ein Wohnviertel am Hafen, das die Explosion am 4. August besonders hart traf. 190 Menschen starben, 6.000 wurden verletzt und fast 300.000 obdachlos.
Durch die Luft geschleudert
Die Explosion schleuderte Michel Hamoud in seinem Kleiderladen durch die Luft. Glassplitter und herabfallende Steine verletzten zu Hause seine Frau und die Kinder. Vier Wochen nach der Detonation erinnern Blutspuren an den Wänden noch immer an die Tragödie.
Die Explosion hat vielen nicht nur das Zuhause genommen, sondern auch die wirtschaftliche Existenz – zumindest denen, die noch eine hatten. Büroräume, Restaurants und Geschäfte liegen in Trümmern. Auch der Laden von Michel Hamoud: "Ich habe nur noch ein paar Pfund in meiner Tasche. Ich habe alles verloren: Meine Arbeit, mein Zuhause, mein Auto. Woher soll ich Geld fürs Essen nehmen? Ich denke Tag und Nacht an nichts anderes."
Die Detonation im Hafen von Beirut deckt auf, was vielen Libanesen bereits klar war: Korruption, Misswirtschaft und fehlende soziale Verantwortung der politischen Führung sind tödlich. Im Juli hatten libanesische Sicherheitsexperten vor den Folgen einer Explosion gewarnt. Passiert war nichts. Sechs Jahre lang lagerten die gefährlichen Chemikalien dicht neben Wohnvierteln.
Bei Demonstrationen nach der Tragödie hieß es auf auf Plakaten: "Ihr wusstet es!" Oder: "Das war kein Unglück, das war Mord." In Gesprächen vor Ort beklagen viele, dass Politiker aller Konfessionen das Wohlergehen der Bürger gleichgültig sei. Stattdessen raubten sie das Land seit Jahren aus, steckten Geld in die eigenen Taschen. Landesweit gibt es stundenlange Stromausfälle, Müll verstopft die Straßen und stinkt zum Himmel. Das Gesundheitssystem ist miserabel. Hunderttausende sind arbeitslos, mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Landes lebt in Armut. Fast doppelt so viele wie im Vorjahr.
Hunderttausende protestieren gegen das System
Im Oktober 2019 protestierten Hunderttausende gegen die korrupte Staatsmacht. Die Revolution vereint alle Konfessionen: Christen, Sunniten und Schiiten. Vor allem die junge Generation fordert, dass das konfessionelle Staatssystem abgeschafft wird. In ihren Augen ist es die Wurzel aller Übel. Der Konfessionalismus wurde mit dem Ende des Bürgerkriegs 1990 installiert. Ranghohe Ämter im Staatsapparat werden seitdem nach Konfessionen verteilt. Insgesamt 18 verschiedene Konfessionen zählt das Land.
Michel Hamoud ist Christ. Er träumt wie viele Landsleute von einem Libanon, in dem es egal ist, an welchen Gott man glaubt. Ein Libanon, in dem jeder unabhängig seiner Konfession gleiche Chancen hat. Und in dem sich die politische Elite nicht gegenseitig Posten zuschachert: "Wir brauchen in unserem Land keine bewaffnete Hisbollah und korrupten Politiker. Wir brauchen einen politischen Neuanfang."
Bei dem will der französische Präsident Emanuel Macron helfen – zumindest ein bisschen. Vor ein paar Tagen reiste er nach Beirut, Forderungen inklusive: Anti-Korruptionsgesetz, Reformen des Bankensystems und Energiesektors. An dem religiös-konfessionellen Proporzsystem will er aber nicht rütteln. Also genau an dem Problem, von dem sich Leidtragende wie Michel Hamoud befreien wollen.
In seinen Laden kam seit der Wirtschaftskrise kaum noch Kundschaft. Ihr knappes Geld geben die Menschen für überlebenswichtige Güter wie Nahrung und Medikamente aus. Aber nicht nur fehlende Kundschaft treibt den Familienvater fast in den Ruin. Banken zahlen Anlegern nur noch rund 200 Dollar ihrer Ersparnisse aus, in Raten von zwei Wochen. "Bereits vor der Explosion hatten wir nur noch Geld fürs Nötigste", sagt Hamoud. Das libanesische Pfund hat in acht Monaten mehr als 80 Prozent an Wert verloren. Die libanesische Mittelklasse verarmt.
Und dann auch noch die Pandemie
Der Ausbruch von Covid-19 verschärft Michel Hammouds wirtschaftliche Lage und die vieler Landsleute. Ein drakonischer Shutdown im März 2020 hat sie tiefer in die Perspektivlosigkeit getrieben. Geholfen hat es wenig: Der Libanon zählt so viele Covid-19-Fälle wie noch nie. Im Durchschnitt sind es etwa 600 neue Infizierte pro Tag – bei knapp sieben Millionen Einwohnern. Das marode Gesundheitssystem ist doppelt belastet: Kliniken müssen sich neben den Corona-Patienten auch um Tausende teils Schwerverletzte kümmern. Landesweit fehlt es den Krankenhäusern an Personal, Ausrüstung und medizinischem Gerät.
Unter Einheimischen gibt es eine gängige Phrase: "Schlimmer kann es nicht mehr werden." Aber es wird schlimmer: Nahrungsmittelpreise stiegen bereits vor der Explosion. Das Land bezieht 85 Prozent der Lebensmittel aus Exporten – der Großteil kam über den Hafen von Beirut ins Land. Grundnahrungsmittel wie Reis oder Milch kosten heute dreimal so viel wie im vergangenen Jahr. Für viele nicht mehr bezahlbar. Neben Armut wächst auch die Kriminalität. Perspektivlosigkeit und Wut auf die herrschende Klasse machen das Land zu einem Pulverpass.
Die Ereignisse zeigen, wie fragil die politische Lage im Land ist. Die schiitische Miliz Hisbollah, die als Staat im Staate fungiert und an der Regierung beteiligt ist, verliert an Rückhalt. Teile der Bevölkerung machen sie für die Tragödie im Hafen verantwortlich. Die Miliz kontrolliert den Hafen. Medienberichte legen ihre Verwicklung mit dem dort gelagerten Ammoniumnitrat offen, das zur Explosion führte. Sie soll große Lieferungen des Stoffes erhalten haben, die in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem in Beirut detonierten Material stehen.
Der französische Präsident Macron warnte vor kurzem, dass der Libanon ohne Hilfe von außen eine Rückkehr zum Bürgerkrieg riskiert. Eine Befürchtung, die viele Libanesen teilen. Auch Michel Hamoud: „Ich habe große Angst vor einem nächsten Bürgerkrieg. Ein europäisches Land muss eingreifen. Das wäre besser für uns alle.“
Die jungen Menschen gehen
Die jüngsten Ereignisse schüren diese Angst. Vergangene Woche kam es südlich von Beirut zu bürgerkriegsähnlichen Szenen. Die Hisbollah-Miliz lieferte sich mit Anhängern eines lokalen, sunnitischen Clans Straßengefechte und Schießereien. Zwei Menschen starben. Der Auslöser: Hisbollah-Anhänger hissten anlässlich des islamischen Feiertags Aschura ein religiöses Banner, was Mitglieder des sunnitischen Clans provozierte. Gewalt auf den Straßen ist ein Hinweis auf das, was noch kommen kann. Denn sie zeigt, wie zerbrechlich das Verhältnis zwischen religiösen Gruppierungen ist. In der Krise werden interreligiöse Konflikte sichtbar, die seit langem unter der Oberfläche brodeln.
Auch Spannungen im südlichen Grenzgebiet zum Nachbarland Israel nehmen zu. Vergangene Woche fielen Schüsse auf israelische Soldaten, die daraufhin Posten der Hisbollah attackierten. Beide Länder befinden sich offiziell im Kriegszustand. Seit Wochen verstärken die Israelis ihre Truppen im Grenzgebiet. Eine gefährliche Gemengelage, die jederzeit kippen und den Libanon ins Chaos stürzen kann. Der letzte Krieg zwischen Israel und der Hisbollah-Miliz endete vor 14 Jahren. Die Angst vor einer Wiederholung ist groß – und real. Ein kleiner Fehler auf beiden Seiten könnte ihn auslösen.
Auch ohne einen Bürgerkrieg ist die Zukunftsprognose düster: Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Michael Fakhri, warnt vor massiven Versorgungsengpässen: „Die Explosion hat die Hauptnahrungsquelle des Landes zerstört und den Libanon weiter an den Rand einer Hungerkrise gebracht.“ Nasser Saidi, ein ehemaliger Gesundheitsminister, befürchtet, der Libanon könnte zu einem zweiten Venezuela werden.
Berichten des Nachrichtensenders Al Jazeera zufolge haben im Vergleich zum Vormonat viele Einheimische das Land verlassen. Zumindest diejenigen, die noch genug Geld in der Tasche oder den richtigen Pass haben.
Vor allem die junge, gut ausgebildete Generation kehrt ihrer Heimat den Rücken zu. Auch Michel Hamoud will nur noch weg. Raus aus dem Land, in dem er aufgewachsen ist und in dem er sich mühevoll eine Existenz aufgebaut hat. "Wenn ich könnte, würde ich sofort abhauen. Mit meinen Kindern. Was sollen sie hier für ein Leben führen? Hier gibt es keine Zukunft mehr. Für niemanden."
- Eigene Recherchen und Gespräche
- Aljazeera: A new exodus from Lebanon after deadly Beirut blast
- Arab News: Can Lebanon avoid the Venezuela meltdown scenario?
- UN: International community must support Lebanon and international agencies to avert hunger crisis, says UN human rights expert weet von Larissa Aoun
- "Welt": Die explosive Spur führt zur Hisbollah
- Worldometrers: Coronavirus-Zahlen im Libanon
- UN: ESCWA warns: more than half of Lebanon’s population trapped in poverty
- Reuters: Exclusive: Lebanon's leaders were warned in July about explosives at port - documents