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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Pankaj Mishra über Gaza "Ich rechne mit dem Schlimmsten"

Nach der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023 war die Solidarität des Westens mit Israel groß. Zu groß, kritisiert Pankaj Mishra. Warum er Trump jetzt alles zutraut, erklärt der indische Autor im Interview.
Auf den Terrorakt folgte der Krieg: Nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel eingefallen war, mehr als 1.000 Menschen ermordet und Hunderte verschleppt hatte, begann Israels Krieg in Gaza. Dazu hatte Israel zwar das Recht, sagt Pankaj Mishra. Doch Israel sei im Krieg gegen die Hamas in Gaza schnell viel zu weit gegangen, beklagt der international erfolgreiche Schriftsteller aus Indien, der als eine Stimme des Globalen Südens gilt.
Mit einer kritiklosen Unterstützung Israels hätten zudem auch westliche Staaten, darunter Deutschland, Schuld auf sich geladen, so Mishra. Wie begründet er diese Ansicht? Und welche Rolle spielt Donald Trump in diesem und anderen Konflikten? Diese Fragen beantwortet Mishra im folgenden Gespräch.
t-online: Herr Mishra, der Titel Ihres neuen Buches lautet "Die Welt nach Gaza". Wie ist unsere Welt nach Gaza?
Pankaj Mishra: Die Welt verändert sich drastisch und dramatisch, es passiert direkt vor unseren Augen. Donald Trump streckt – über die Köpfe der Ukrainer und auch der Europäer hinweg – die Hand gen Moskau aus, zugleich erklärt er, Gaza in eine "Riviera des Nahen Ostens" verwandeln zu wollen. Wir haben es hier mit einem Zusammenbruch des internationalen Rechts und der internationalen Ordnung zu tun. Machen wir uns nichts vor: Die Welt verändert sich gerade so stark wie seit den 1940er-Jahren nicht mehr. Der Krieg Israels gegen Gaza war der erste Schritt in diesem Prozess der Zerstörung der Normen und der Moral.
Moment! Vergessen Sie nicht den Auslöser für diesen Krieg und wer damit den ersten Schritt zur Zerstörung von Normen und Moral gemacht hat? Es war die Hamas, die am 7. Oktober 2023 rund 1.200 israelische Zivilisten massakrierte und damit die israelische Reaktion provozierte.
Der 7. Oktober 2023 war ein brutaler Versuch der Hamas, aus der israelischen Besatzung auszubrechen. Dieser Versuch führte ohne jeden Zweifel zu schrecklichen Gräueltaten gegen israelische Zivilisten, gegen Menschen, die völlig unschuldig waren. Daran können wir sehen, wie diese Art von Ausbruchsversuchen gegen alle gewalttätigen kolonisierenden Staaten oft in furchtbaren Gräueltaten gegen Zivilisten enden. Das ist es, was am 7. Oktober 2023 tatsächlich passiert ist. Das ist auch das, was 1857 in meiner Heimat Indien im großen Aufstand gegen die Briten passiert ist und seit 1954 im Algerienkrieg gegen die französische Kolonialmacht.
Zur Person
Pankaj Mishra, 1969 im indischen Jhansi geboren, ist Schriftsteller, Essayist und Literaturkritiker, er zählt zu den bekanntesten Intellektuellen Asiens und des Globalen Südens. Mishra war Gastprofessor am Wellesley College und am University College London, 2014 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung für seinen internationalen Beststeller "Aus den Ruinen des Empires". Darin und in "Das Zeitalter des Zorns" (2017) beschäftigt sich Mishra mit dem Verhältnis zwischen den Gesellschaften der "Dritten Welt" und dem Westen. Nach seinem Roman "Goldschakal" (2023) ist gerade Mishras neues Buch "Die Welt nach Gaza" im Verlag S. Fischer erschienen.
Sie setzen Israel mit historischen Kolonialmächten gleich und erklären damit solche Gräueltaten? Die Hamas und ihre Verbündeten haben nicht nur gemordet, sondern auch Frauen, Kinder und Männer nach Gaza verschleppt. Das deutet doch weniger auf einen eruptiven Ausbruch von Gewalt hin als auf eine langfristige Strategie.
Die Geiselnahmen gehören ohne jeden Zweifel zu den furchtbarsten Ereignissen dieses schrecklichen Tages. Israel hatte nach dem 7. Oktober 2023 jedes Recht, die Hamas zu bekämpfen. Das steht außer Frage. Aber es hat sich nicht an die Regeln und Gesetze gehalten, die selbst nach einer solchen Attacke gelten müssen.
Aber es ist doch die Hamas, die bis heute den Tod palästinensischer Zivilisten in Kauf nimmt, ja sogar provoziert, wenn sie sich in Tunneln unter zivilen Einrichtungen oder sogar darin versteckt. Wie lässt sich so etwas rechtfertigen?
Ich stelle die Gegenfrage: Wer ist der ursprüngliche Aggressor in dieser Situation? Ist es etwa Gaza oder das Westjordanland? Steht Letzteres nicht unter ständiger militärischer Besatzung durch den Staat Israel? Daran dürfte kein Zweifel bestehen, ebenso wenig daran, dass Israel ununterbrochen Krieg gegen das Westjordanland und den Gazastreifen geführt hat, indem es bisweilen ganze Stadtviertel bombardierte, zu anderen Zeiten stellte man den Menschen dort einfach Strom und Wasser ab. Israel hat dort die Macht über Leben und Tod. Die Behauptung ist also falsch, dass die Geschichte des 7. Oktober 2023 mit dem Angriff der Hamas und anderer militanter palästinensischer Gruppen auf Israel begann. In Wirklichkeit währt dieser Krieg schon sehr viel länger.
Sie spielen auf die Gründung Israels 1948 und die folgende Vertreibung der Palästinenser und die israelische Besatzung Gazas und des Westjordanlands seit dem Sechstagekrieg 1967 an?
Ja. Dieser Krieg ist hauptsächlich auf die brutale Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den israelischen Staat zurückzuführen. Wenn wir das verstehen, dann können wir darüber diskutieren, was am 7. Oktober 2023 wirklich geschah. Wir dürfen einfach nicht vergessen, was den Palästinensern angetan worden ist. Darum habe ich mein Buch "Die Welt nach Gaza" geschrieben. Es soll die Menschen daran erinnern, dass es einst einen Konsens in der westlichen Welt gab – und zwar den Konsens, dass den Palästinensern großes Unrecht angetan worden ist. Aus diesem Grund tragen wir ihnen gegenüber Verantwortung. Deutsche Bundeskanzler wie Willy Brandt und Helmut Schmidt waren sich dieser Tatsache bewusst, mehrere Generationen von europäischen Politikern haben in diesem Sinne gehandelt.
Am 7. Oktober 2023 beging die Hamas mithilfe ihrer Verbündeten allerdings den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Angesichts dieser Tat musste die deutsche Solidarität mit Israel groß sein.
Diese Art bedingungsloser Solidarität mit dem Staat Israel, die deutsche Politiker und deutsche Medien an den Tag gelegt haben, ist in vielerlei Hinsicht ziemlich beispiellos. Es bedarf doch der Erklärung, wie Deutschland von der Anerkennung der palästinensischen Rechte damals hin zu einer nahezu bedingungslosen Unterstützung Israels heute kam. Egal, wie rechtsextrem dessen Regierung auch ist, egal, wie explizit dort ein Programm der ethnischen Säuberung angestrebt wird.
Deutschlands Verantwortung für Israel resultiert aus dem Zivilisationsbruch des Holocaust.
Es steht absolut außer Frage, dass Deutschland dieser historischen Verantwortung nachkommen muss. Israel wurde 1948 nach dem Holocaust gegründet, der zu den monströsesten Gewalttaten gehört, die jemals eine Gruppe von Menschen einer anderen Gruppe von Menschen angetan hat. Die entscheidende Frage ist aber, wann und warum sich diese Verantwortung gegenüber dem Staat Israel in eine Lizenz für das Begehen von Massakern verwandelte. Deutschland ist ein wichtiger Rüstungslieferant für Israel. Da müssen sich doch die deutsche politische Klasse und die deutsche Gesellschaft insgesamt fragen, ob sie zukünftig die ethnische Säuberung von Gazastreifen und Westjordanland unterstützen wollen. Wird Deutschland damit seiner historischen Verantwortung gegenüber Israel und der Menschheit insgesamt auf diese Weise gerecht? Das glaube ich nicht.
Bitte erklären Sie Ihre Kritik näher.
Deutschland und der Westen messen mit zweierlei Maß: Die russische Vollinvasion der Ukraine haben sie verurteilt, vor Trumps Rückkehr war auch die Haltung der Vereinigten Staaten in diesem Punkt unmissverständlich. Die russischen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine rufen bis heute westlichen Protest hervor. Zu Recht! In Gaza haben wir es hingegen mit einer völlig verkehrten Welt zu tun. Die westliche politische Klasse hat Israel in seinem Krieg gegen Gaza unterstützt, die von Israel begangenen Gräueltaten wurden geleugnet. Die Lektion daraus werden wir noch sehr, sehr lange zu spüren bekommen.
Welche Lektion ist das?
Es gibt keine Regeln mehr, jetzt kann man alles tun. Man kann fast 20.000 Kinder töten, Krankenhäuser zerstören, auch Schulen, Universitäten, Moscheen und Kirchen in die Luft jagen. So wird das gerechtfertigt, was nicht gerechtfertigt werden darf: Indem die westliche Politik und die westlichen Medien diese Dinge einfach ignorieren. Das wird sich noch bitter rächen, Macht ist nun die einzige Währung, die noch zählt. Diese Lektion ist uns durch den israelischen Angriff auf den Gazastreifen wirklich in Herz und Verstand eingeprügelt worden.
Sie kritisieren westliche Politiker und westliche Medien aufs Schärfste, diese hätten das Leid der Palästinenser kaum wahrgenommen. Der Blick in die deutsche Berichterstattung seit Beginn des Gaza-Kriegs zeigt aber, dass dies sehr wohl eine Rolle gespielt hat und noch spielt.
Das sehe ich ganz anders. Es gibt ein eklatantes und extremes Missverhältnis zwischen der Anteilnahme, dem Mitgefühl und der Aufmerksamkeit für die Opfer auf der israelischen Seite und denen auf der palästinensischen Seite. Das ist ein ziemlich unanständiges Verhalten seitens der westlichen Politik und der westlichen Medien. So gut wie niemand hat dafür Verständnis außerhalb der westlichen Staaten.
Das stimmt so nicht: Die Regierungen Norwegens und Spaniens gehören zu den größten Kritikern des israelischen Vorgehens in Gaza, auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Israel zur Mäßigung aufgerufen. Die frühere US-Regierung unter Joe Biden sanktionierte extremistische Siedler im Westjordanland.
Norwegen und Spanien sind ein ziemlich kleiner Teil des Westens angesichts des Ausmaßes der von Israel in Gaza begangenen Grausamkeiten, nicht wahr? Die Sanktionen Bidens haben wenig am Schicksal der Menschen in Gaza geändert. Zumal die Vereinigten Staaten an ihrer Unterstützung für Israels Regierung unbeirrt festgehalten haben. Deutschland wiederum hat gemahnt, geändert hat das aber nichts. Israel führte weiter seinen Krieg gegen die Hamas auf Kosten der Menschen Gazas.
Der Krieg in Gaza hätte längst beendet sein können, wenn die Hamas alle Geiseln freigelassen hätte. Stattdessen inszenierte sie Freilassungen von Geiseln und selbst die Übergabe der Leichen entführter israelischer Kinder als ein "Schauspiel". Wundert es Sie, dass die Sympathien nicht auf der Seite der Hamas stehen?
Dieses Verhalten der Hamas ist würdelos – und ich billige es nicht. Aber in dieser Situation nutzt sie jedes Mittel. Nichts rechtfertigt darüber hinaus die Grausamkeiten gegen die Menschen in Gaza, die nichts mit der Hamas zu tun haben. Für Benjamin Netanjahu spielt das Schicksal der Geiseln zudem eher eine zweitrangige Rolle. Er spielt sein eigenes Spiel.
CDU-Chef Friedrich Merz könnte sich vorstellen, Netanjahu nach Deutschland einzuladen, obwohl gegen den israelischen Premier ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof besteht. Was ist das für ein Signal?
Das ist ein ziemlich schlechtes Zeichen. Deutschland hat die falschen Lehren aus seiner eigenen Geschichte gezogen. Denn es hilft nun an vorderster Front dabei, die Struktur der internationalen Gesetze und Normen, die eigentlich eingeführt wurden, um Verbrechen wie den Holocaust zu verhindern, zu demontieren. Für mich ist es erstaunlich und überaus traurig, das zu beobachten. Denn ich gehöre zu denjenigen, die seit vielen Jahren sagen, dass Deutschland den Ruf und die Soft Power hat, um eine neue Weltordnung zusammen mit den nicht-westlichen Ländern, mit den Ländern des sogenannten Globalen Südens zu schaffen.
Wie stellen Sie sich das vor?
Deutschland hat sich den Verbrechen seiner Geschichte auf eindrückliche Weise gestellt. Es hatte auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nur eine kurze Kolonialgeschichte. Deutschland kann deswegen auf andere Weise mit den Ländern des Globalen Südens umgehen, die zum Großteil einst von imperialistischen Staaten kolonisiert worden sind. Es gibt derart große Herausforderungen, wie Klimakrise und Künstliche Intelligenz, die internationale Kooperation und Institutionen erfordern, um sie zu meistern. Von allen großen europäischen Nationen hatte gerade Deutschland diese historische Chance, aber Deutschland hat sie völlig verspielt.
Dies soll durch die deutsche Unterstützung Israels im Krieg in Gaza geschehen sein?
Genau so ist es. Der Rest der Welt ist schockiert, dass deutsche Politiker und Medien eine fundamentale Tatsache nicht erkennen können, die ihnen geradezu ins Gesicht starrt: Sie haben sich zutiefst mitschuldig an schwerwiegenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemacht, indem sie Israel seit dem 7. Oktober 2023 auf diese vorbehaltlose Weise unterstützt haben. Es entzieht sich auch meinem Verständnis, warum gerade Benjamin Netanjahu irgendeine Form von Vertrauen in Deutschland genießt.
Vor der Attacke der Hamas protestierten Zigtausende Israelis gegen die ultrarechte Regierung Netanjahus und seine sogenannte Justizreform. Spielen Sie darauf an?
Ja. An der Spitze der israelischen Regierung haben wir Netanjahu, einen Mann, der sich vor dem Gefängnis retten will. Er hält verzweifelt an der Macht fest und nahm dafür Leute in sein Kabinett auf, die früher als Terroristen bezeichnet wurden. Die Zerstörung der Demokratie in Israel ist also im Gange. Das Argument, Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, überzeugt niemanden mehr.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass einst ein Bild von Moshe Dayan in ihrem Zimmer hing. Wie fand der israelische Verteidigungsminister des Sechstagekriegs 1967 seinen Weg zu Ihnen?
Moshe Dajan war relativ populär in Indien, er symbolisierte militärische Effizienz und Einheit. Ich habe Israel früher so gesehen, wie seine Regierungen es aussehen lassen wollten seit den Sechzigerjahren: Als Erlösung nach dem Holocaust für dessen Opfer sowie die Garantie dafür, dass sich etwas Derartiges niemals wiederholen kann. Wie mir ging es vielen anderen Menschen im Globalen Süden. Israels Gründung wurde zunächst mit Wohlwollen wahrgenommen, denn die europäischen Juden hatten einen sicheren Ort verdient. Dass dieser Ort allerdings durch Gewalt und Vertreibung der Palästinenser geschaffen wurde, hat die Sympathie verschwinden lassen.
Diese war aber auch eine Folge des Kriegs, den arabische Staaten 1948 gegen Israel begannen. In diesen und anderen muslimischen Ländern wurden zudem ebenfalls massenweise Juden vertrieben.
Jüdische Israelis erlebten die Geburt ihres Nationalstaats 1948 als eine Frage von Leben und Tod. Da ist wahr. Ebenso sind die Vertreibungen von Juden aus arabischen Ländern ein Unrecht gewesen.
Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern währt nun seit 1948. Wie wirkt sich dieser permanente Stresszustand aus?
Die Situation ist schrecklich. Wir haben es in Israel mit einer Gesellschaft zu tun, der ständig erzählt wird, dass sie ihre Feinde vernichten muss, bevor diese Israel zerstören. Jedes Anzeichen von Widerstand seitens der Palästinenser wird als unerträglich empfunden.
Hamas, Hisbollah und deren Schutzmacht Iran wollen Israel auch von der Landkarte tilgen, den Menschen in Gaza, im Libanon und im Iran wird doch wenig anderes erzählt.
An dieser Stelle müssen wir wieder darüber sprechen, was zuerst da war. Reden wir also über das Jahr 2018, als die Hamas es mit gewaltfreien Demonstrationen an den Grenzübergängen zwischen Gaza und Israel probiert hat. Die Leute forderten ein Recht auf Rückkehr. Was war die Folge? Am Ende waren mehr als 200 Palästinenser tot. Mein Buch beginnt mit dem Aufstand der Jüdinnen und Juden, die 1943 von den Deutschen im Warschauer Ghetto gefangen waren. In der Geschichte gibt es immer wieder Beispiele von Menschen, die sich in völliger Hoffnungslosigkeit gegen ihre Unterdrücker auflehnen. Es war die Reaktion von Menschen, die wussten, dass sie ohnehin getötet werden sollten, ohne an die Konsequenzen zu denken, erhoben sie sich.
Der Vergleich zwischen dem Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 gegen die SS und die Terrorattacke der Hamas auf israelische Zivilisten 2023 ist gewagt. Zudem kam es bei den erwähnten Demonstrationen durchaus zu gewalttätigen Aktionen eines Teils der Teilnehmer.
Sie waren anfangs gewaltlos. Das hat viele Menschen berührt, hatte dann aber keinerlei Auswirkungen. Die Hamas hat diese Erkenntnis sicher in ihre Planungen für den 7. Oktober 2023 einbezogen. Selbstverständlich haben sie tote israelische Zivilisten einkalkuliert, sicher sind sie von einer israelischen Vergeltung ausgegangen, die wiederum palästinensische Zivilisten das Leben kosten würde. Sie haben aber zwei Dinge unterschätzt: Einmal das Ausmaß der Überrumpelung der Israelis am 7. Oktober 2023 und das Ausmaß des Gegenschlags. Die Hamas hat nicht geahnt, wie radikal Benjamin Netanjahu und seine Regierung wirklich sind. Derartige Fehleinschätzungen waren schon immer Teil dieser Art von Ausbrüchen von militanten und antikolonialen Bewegungen. Was am 7. Oktober 2023 geschah, war historisch nicht beispiellos. Wir gehen an diese Fragen mit einer historischen Unschuld heran, die sowohl naiv als auch ziemlich schockierend ist.
Wie sehen die Staaten des Globalen Südens den Konflikt?
Für die meisten Menschen außerhalb der weißen westlichen Länder ist die Palästinafrage eine Frage der aufgeschobenen Dekolonisierung. Wenn sie den Nahen Osten betrachten, sehen sie mit Israel einen Stellvertreterstaat der westlichen Interessen, der das Land der Palästinenser, die dort lebten, besetzt und gestohlen hat und weiterhin besetzt und stiehlt. Ihnen bleibt auch nicht verborgen, dass Israels Regierung immer enger mit weißen Rassisten und rechtsextremen Politikern in Europa und Amerika zusammenarbeitet.
Zu denen zählen Sie auch Trump. Wie schätzen Sie ihn als Präsidenten ein?
Es handelt sich um einen Mann, der offensichtlich ein hohes Maß an Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten hat, ein großes Vertrauen in seine Macht, alle möglichen Dinge zu tun. Zum Beispiel Russland und der Ukraine "Frieden" bringen zu können. Trump will sich einmischen, er ist keiner, der sich hier um Nettigkeiten kümmert. Trump ist auch ein Mann, der nun Teile der Welt mit Russland aufteilen will, wie früher europäische Mächte Teile der Welt unter sich aufgeteilt haben. Trump ist die perfekte Verkörperung dieser imperialistischen Mentalität, die nicht einmal daran interessiert ist, ein Lippenbekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten abzulegen oder über gemeinsame Werte oder Ähnliches zu sprechen.
Was bedeutet Trump für die USA?
Trump repräsentiert Amerika in seinem Niedergang nahezu perfekt. Ob es nun um die Ukraine oder den Gazastreifen geht, es gibt keinen Grund mehr für die USA, so zu tun, als ginge es um etwas anderes als um die eigenen nackten Interessen. Es werden sehr harte Zeiten auf uns zukommen.
Nun hat Trump der Hamas mit schwersten Konsequenzen gedroht, wenn sie die restlichen Geiseln nicht übergibt. Womit rechnen Sie?
Ich rechne mit dem Schlimmsten. Die Lektion unserer Zeit besteht hingegen darin, dass man bei der Begehung schweren Unrechts – wie der Zerstörung des Gazastreifens – irgendwann die Konsequenzen dafür tragen muss. Es ist besser, die Regeln der Normen von Moral und Recht nicht zu zerstören. Der Preis des moralischen Verzichts ist einfach zu hoch. Wir brauchen diese zerbrechlichen Strukturen, die die Zivilisation schützen, wir müssen sie bewahren, wenn wir nicht in die Barbarei abgleiten wollen.
Herr Mishra, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Pankaj Mishra via Videokonferenz