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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hisbollah-Pager und Walkie-Talkies explodieren Der Schuss geht nach hinten los
Im Libanon explodieren fast zeitgleich Tausende Pager und verletzen ihre Träger. Dabei soll es sich um einen gezielten Schlag des israelischen Geheimdienstes gegen die Hisbollah gehandelt haben – mit fatalen Folgen für die Region.
Was im Libanon gerade geschieht, klingt nach Hollywoodfilmen – nach Streifen, in denen es um Spionage oder Science-Fiction geht. Fast zeitgleich explodierten am Dienstag Tausende kleine Funkempfänger, sogenannte Pager, die überwiegend von Mitgliedern der Schiitenmiliz Hisbollah getragen werden. Einige von ihnen waren beim Einkaufen, andere befanden sich mitten auf der Straße. Die Pager detonierten in Hosentaschen, an Hosenbunden, in der Nähe von Gesichtern oder in der Hand ihrer Besitzer. Videos und Bilder von Explosionen und verängstigten Menschen werden seitdem in den sozialen Netzwerken geteilt.
Am Mittwoch explodierten dann laut libanesischen Staatsmedien "drahtlose Geräte, wie Walkie-Talkies" (mehr dazu lesen Sie hier). Die Folgen dieser Angriffe wiegen schwer. Die libanesischen Behörden bestätigten bisher an beiden Tagen zusammen mindestens 24 Todesopfer und mehr als 3.000 Verletzte, davon mindestens 200 Schwerverletzte.
US-Medien wie die "New York Times" und die Agentur Reuters berichten, dass der israelische Geheimdienst Mossad eine Lieferung mit 5.000 Pagern abgefangen und diese mit 25 bis 50 Gramm Sprengstoff versehen habe. Ein ähnliches Szenario gilt bei den Walkie-Talkies als wahrscheinlich.
Die israelische Regierung bekennt sich zu derartigen Angriffen nie öffentlich, aber eine Beteiligung des Mossad wäre keine Überraschung. Denn seit dem Terrorangriff der Hamas gegen Israel und seit dem Beginn des Krieges am 7. Oktober feuert die vom Iran unterstützte Hisbollah-Miliz, die längst einer Armee gleicht, Raketen auf Israel. Die israelische Armee schießt zurück und schaltet regelmäßig gezielt Hisbollah-Kämpfer aus.
Trotzdem kann die Pager-Attacke als Provokation und Machtdemonstration Israels gesehen werden. Ein Angriff ohne Rücksicht auf Verluste, der offenbar keine wichtigen Hisbollah-Funktionäre ausschaltete. Hingegen wurde auch der iranische Botschafter im Libanon, Mojtaba Amani, verwundet. Sollte der Mossad für den Angriff verantwortlich sein, wird Teheran dies als gezielten Angriff auf einen seiner diplomatischen Vertreter werten.
Israel spielt also mit dem Feuer, vielmehr mit einem Flächenbrand in der Region. Es scheint so, dass der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu einen großen Krieg in der Region bewusst in Kauf nimmt. Die Gefahr ist groß, dass er dabei Israels internationale Rückendeckung zerstört, die er in einem solchen Konflikt braucht.
Kein großer strategischer Erfolg
Zwar liegen gezielte Schläge gegen die Hisbollah im Sicherheitsinteresse Israels. Die Miliz hat nicht nur die Bevölkerung im Libanon in Geiselhaft genommen, sondern sie beschießt auch Israel immer wieder mit Raketen – besonders nach dem 7. Oktober. Auch nach den Tötungen des Hisbollah-Militärkommandeurs Fuad Schukr und des ranghohen iranischen Generals Rasi Mussawi, vermeintlich auch durch Israel, haben diese Angriffe zugenommen.
Besonders die israelische Bevölkerung in Grenznähe lebt in steter Unsicherheit. Viele mussten aus dem Norden bereits evakuiert und zeitweise umgesiedelt werden. Diese Menschen haben Angst und sind wütend. Und die israelische Führung sieht sich verpflichtet, ihre Bevölkerung zu verteidigen.
Aber kommt sie dieser Verpflichtung auch nach oder machen Aktionen wie explodierende Pager die Situation für die Menschen in Israel noch gefährlicher?
Denn letztlich hat die Sprengung von Tausenden Pagern Israel keine großen strategischen Erfolge eingebracht. Zwar könnte Netanjahu damit eine weitere Warnung in Richtung der Islamisten im Libanon gesandt haben und die Aktion vor allem als Machtdemonstration sehen. Aber Israel stellt damit die Hisbollah bloß; es ist für die Miliz ein äußerst peinlicher Vorfall, der mit einem massiven Gesichtsverlust verbunden ist.
Bis zu 200.000 Raketen im Arsenal
Die Hisbollah hat bereits Rache geschworen. Damit droht sich die Eskalationsspirale immer weiterzudrehen. Nur ist die Miliz eben nicht vergleichbar mit der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen. Sie soll geschätzt über 20.000 Kämpfer, 20.000 Reservisten und bis zu 200.000 Raketen verfügen.
Damit wäre sie der israelischen Armee zwar noch immer deutlich unterlegen, aber sie kann durchaus großen Schaden in Israel anrichten, vor allem weil sie – im Gegensatz zur Hamas – von ihren Verbündeten aus Syrien und dem Iran über den Landweg mit Nachschub versorgt werden könnte.
Es ist zudem unwahrscheinlich, dass die Hisbollah sich von Pager-Angriffen einschüchtern lässt. Es handelt sich um radikale Islamisten, die in Israel ihren Erzfeind sehen und den Staat vernichten wollen. Ein Großteil der Menschen, die einen Funkempfänger bei sich trugen, wurde lediglich verletzt. Kaum anzunehmen, dass sie nun gemäßigter auftreten, wenn sie aus dem Krankenhaus kommen.
Die Hisbollah-Führung steht nun unter Druck, gewaltsam auf die explodierenden Pager zu reagieren. Sonst verliert sie intern auch an Legitimität.
Kein Deal mit Netanjahu
Dass die Lage bislang nicht völlig eskaliert ist, liegt vor allem am großen militärischen Ungleichgewicht in der Region. Die israelische Armee ist der Hisbollah und selbst der iranischen Armee in Schlagkraft, Modernität der Streitkräfte und Ausrüstung haushoch überlegen. Deswegen kündigen das Mullah-Regime und Vertreter der Hisbollah zwar immer wieder Vergeltung an, sind aber in der Umsetzung eher zurückhaltend.
Trotzdem sind derartige Aktionen immer ein sensibler Balanceakt zwischen strategischem Nutzen und einer möglichen Gefahr für die eigene Bevölkerung. Und dieser Nutzen ist aus der Perspektive Israels eher fragwürdig.
Netanjahu scheint sich dagegen auf seine eigene militärische Stärke und im Notfall auf die Unterstützung der USA zu verlassen. Aber damit spielt er mit der Geduld seiner westlichen Partner, die ihn schon seit Monaten dazu auffordern, einen großen Krieg in der Region zu unterbinden. Zu deeskalieren und nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen.
Ohne Erfolg. Netanjahu beharrt auf seinem Kriegskurs und US-Präsident Joe Biden zögert, Druck auf den israelischen Premier auszuüben, um nicht die Chancen seiner Vizepräsidentin Kamala Harris im US-Wahlkampf zu schmälern. Denn die Demokraten müssen einerseits ihre Unterstützung für Israel demonstrieren und gleichzeitig einen Flächenbrand verhindern und einen Deal zwischen Israel und der Hamas in die Wege leiten.
Ein schwieriger Balanceakt, der bislang nicht funktioniert. Netanjahu ließ sich weder auf einen Geisel-Deal noch auf einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ein. Das schürt bei demokratischen Wählerinnen und Wählern Wut auf die eigene Regierung.
Von Netanjahus Kriegstaktik profitiert also vor allem sein Freund Donald Trump. Inzwischen hat der ehemalige Präsident Israel zwar aufgefordert, den Krieg "zu beenden". Er würde es vorziehen, kein Chaos im Nahen Osten zu erben, das er wieder auflösen müsste. Es gab jedoch auch Berichte, wonach er Netanjahu geraten habe, kein Abkommen zu schließen, da dies den Demokraten einen Vorteil bringen könnte – was später vom ehemaligen Präsidenten und dem Büro des israelischen Premierministers dementiert wurde.
Nichtsdestotrotz spielt die israelische Führung auch mit der Geduld ihrer wichtigsten Partner. Netanjahu möchte Trump wieder im Weißen Haus sehen und wird sich bis dahin bemühen, Abkommen und Deals zu untergraben, um die Biden-Regierung und Harris zu schwächen. Aber sollte der israelische Geheimdienst Pager im Libanon zum Explodieren gebracht haben, ist das vergleichbar mit Roulette und letztlich ein gefährliches Spiel mit dem Frieden. Den Preis zahlen die Zivilisten im Libanon, in Israel und im Gazastreifen und die israelischen Geiseln, die noch immer in akuter Lebensgefahr sind.
- ft.com: The Middle East plays roulette as everyone gambles for time (englisch)
- tagesschau.de: Mossad soll Pager laut Medien mit Sprengstoff bestückt haben
- n-tv.de: "Israel hat in der Nacht vorher Kriegsziele verändert"
- stern.de: Der Tod kam aus der Hosentasche
- zeit.de: Die Pager-Provokation
- jpost.com: Iranian ambassador Mojtaba Amani wounded in Hezbollah explosion (englisch)
- sueddeutsche.de: Netanjahu droht der Hisbollah
- deutschlandfunk.de: Sorge vor Eskalation – Hisbollah droht Israel Vergeltung an
- spiegel.de: Taiwanischer Pager-Hersteller hat explodierte Geräte offenbar nicht selbst hergestellt