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Demografie in Russland: Regime schaut den Russen unter die Bettdecke


Kolumne "Russendisko"
Jetzt schaut das Regime den Russen unter die Bettdecke

MeinungEine Kolumne von Wladimir Kaminer

28.07.2024Lesedauer: 3 Min.
Meinung
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Wladimir Putin: Das Regime blickt den Russen mittlerweile unter die Bettdecke, meint Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Das Regime blickt den Russen mittlerweile unter die Bettdecke, meint Wladimir Kaminer. (Quelle: Vyacheslav Prokofyev/dpa)

Russland führt Krieg, Wladimir Putin braucht Menschen und Soldaten. Nun sind dem Regime nicht einmal die Betten seiner Bürger heilig, meint Wladimir Kaminer.

Noch nie seit Beginn des Krieges war die Zahl der Verluste an der Front so hoch wie in diesen Sommermonaten, berichten unabhängige Beobachter. Trotz aller Anstrengungen der russischen Zentralbank kann die Inflation nicht gestoppt werden, und die neuen Freunde Indien und China verdienen unsäglich viel Geld, weil der Westen Russland boykottiert. Was in Russland zusätzliche Preissteigerungen bewirkt.

Doch nicht der Krieg gegen die Ukraine, nicht die angespannte wirtschaftliche Lage und nicht die Inflation kümmern die russische Führung, sondern die Bekämpfung der sogenannten LGBT-Propaganda, der angebliche Mutterschutz und die Geburtenrate. Während das Parlament immer neue Entwürfe schreibt, um Abtreibungen in Russland per Gesetz zu verbieten, spricht sich der Präsident gegen solche Verbote aus.

(Quelle: Frank May)

Zur Person

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Gebrauchsanweisung für Nachbarn" (mit Martin Hyun) ist im März 2024 erschienen.

"Die Frau muss gebären wollen," sagt Putin. Sie solle es nicht nur als ihre von der Natur und Gesellschaft auferlegte Pflicht, sondern auch als einen Lebenssinn begreifen. Am liebsten spricht der Präsident über die tragende Rolle der Familie, über traditionelle Werte, die der Frau den Sinn ihrer Existenz offenbaren sollen: "Wir sollen nicht mit Verboten dieses Thema angehen, sondern die Frauen materiell und moralisch motivieren". Eine vernünftige Erklärung für die Fixierung des Präsidenten auf Geburtenraten können nur Psychologen liefern.

Diese sagen, es sei ein verbreitetes Phänomen der menschlichen Natur, dass alleinstehende Männer um die siebzig grundsätzlich ein großes Interesse am Kinderkriegen entwickeln, Ratschläge geben und den Frauen gerne vormachen würden, wie man es richtig macht. Weil sie es aber nicht können, versuchen sie dann trotzdem, ihre Ratschläge und Wünsche in Form von Drohungen, Beschimpfungen oder – wie in unserem Fall – in Form von Gesetzen und Verordnungen vorzubringen. Nun hat das russische Parlament in einem Entwurf neben der LGBT-Propaganda auch die Childfree-Bewegung – also die freiwillige Kinderlosigkeit – mit Strafe bedroht.

Erschwerte Partybedingungen

Auch das Clubleben in den Großstädten wird unter besondere Beobachtung gestellt. Die Partymacher müssen fürchten, dass sie Besuch von einem Schlägertrupp, einem Veteranenverein oder einer Spezialeinheit der Polizei bekommen, die nach dem Stand der traditionellen Werte in dem jeweiligen Club Ausschau hält. Manchmal kommen sie alle zusammen. Die Kirche reitet selbstverständlich bei der Kampagne zur Geburtensteigerung ganz vorne mit.

Der russische Patriarch hatte die Pornografie als Teufelswerk angeprangert, wer hat ihm bloß erzählt, dass es so etwas gibt? Der Same des Volkes wird verschwendet! So regte sich der Patriarch im Fernsehen auf, und sah dahinter einen Heimatverrat (dafür drohen bis zu zwanzig Jahre Freiheitsentzug).

Toxisch maskulin, patriarchal und homophob, stets auf Kinderzeugung fixiert, macht es sich der russische Staat in den Schlafzimmern seiner rechtlosen und verwirrten Bürger bequem und will unter jede Decke gucken, alle Hände sehen. Wird da etwa die sexuelle Energie des Volkes verschwendet? Neben der Peitsche wird aber auch Zuckerbrot verteilt. In den russischen Talkshows erzählen Männer um die siebzig – manche in Uniformen, andere mit weißen Bärten – den Frauen, wann und wie sie gebären sollen, am besten ganz jung. Zum Teufel mit dem Studium.

Nach dem neuen Beschluss zur Steigerung der Geburtenrate bekommen Studentinnen unter 25 Jahren 100.000 Rubel bei der Geburt eines Kindes. Das Geld soll ihnen das Pausieren beim Studium versüßen. Gleichzeitig ging die Söldnerakquise für die Front in eine neue Phase, es wird nun mit dem Slogan geworben: "Bringe Deinen Freund zum Anwerbeamt und kassiere 100.000 Rubel". Auf diese Weise können Studentinnen unter 25, wenn sie wollen, mehrfach kassieren: Ein Kind mit dem Freund zeugen, den Freund zum Anwerbeamt bringen und dann als alleinerziehende Mutter Putins Muttergeld beantragen.

Keine schnellen Lösungen

Aber im Ernst: Russland hatte schon vor Putin ein demografisches Problem, die Männer sterben im Schnitt viel früher als die Frauen und es werden wenig Kinder geboren. Der demografische Wandel Russlands gleicht, als Grafik dargestellt, einem kaputten Tannenbaum, der zu lange auf dem Weihnachtsmarkt in einer Ecke gelegen hat, sämtliche Zweige fehlen und oben und unten ist der Baum kahl.

Dem Zweiten Weltkrieg folgten einige kinderlose Jahre, danach wuchs in der Sowjetunion etwas nach, wenig genug, und später in den Neunzigerjahren, die man heute nur noch als "Wilde Neunziger" bezeichnet, waren die Menschen mehr mit ihrem Überleben beschäftigt als mit Kinderkriegen. Und nun fehlen die Soldaten. Doch selbst wenn die Russen alles stehen und liegen lassen und sich hauptberuflich dem Kindermachen widmen, werden diese Kinder erst in zwanzig Jahren für den Wehrdienst tauglich sein, wenn überhaupt. Zu diesem Zeitpunkt wird es keine Putins mehr geben und das Land wird andere Prioritäten haben, als Kriege mit den Nachbarn zu führen.

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