t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Wehrpflicht: Europa braucht Schutz vor Putins Russland


Drohender Krieg
Die Zeit der Behaglichkeit ist vorbei

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

Aktualisiert am 27.03.2025Lesedauer: 5 Min.
Heer stellt neue Heimatschutzdivision aufVergrößern des Bildes
Altpräsident Joachim Gauck vor Reservisten in Berlin: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine soll der Heimatschutz mehr Bedeutung bekommen. (Quelle: Hannes P. Albert/dpa/dpa-bilder)
News folgen

Die Gefahr eines großen Krieges ist wieder real geworden. Das ändert alles. Persönliche Gespräche, sogar in die Träume schleichen sich Ängste ein. Aber weiß Deutschland wirklich schon hinreichend, was die Stunde geschlagen hat?

Als ich Chefredakteur von "Cicero" war, hatten wir einen Kollegen mit einer buchstäblich unbezahlbaren Eigenschaft: einem untrüglichen Gespür. Dazu muss man zunächst wissen, dass bei einem Magazin das Cover, also die Kombination aus Titelbild und Zeile, über Wohl und Wehe der Ausgabe entscheidet. Es sind diese paar Zehntelsekunden, in denen die Mischung entweder zündet und zum Kauf am Kiosk animiert – oder eben verpufft. Deshalb legten wir die zwei bis drei Entwürfe dem besagten Kollegen vor und baten ihn um seine Wahl. Welches sollen wir nehmen? Wenn er voller Überzeugung und mit todsicherem Instinkt auf ein bis zwei der Entwürfe deutete, wussten wir genau: Die sind es genau nicht. Den Nachweis hatte die Praxis schmerzhaft erbracht, als wir zu Anfang hin und wieder seine Vorschläge genommen hatten.

So ähnlich geht es mir seit Jahren in regelmäßiger Verlässlichkeit mit den politischen Essays von Jürgen Habermas. Wenn der greise weise Mann sich ins politische Geschehen einmischt, dann weiß ich genau, dass ich in fast allen Fällen beim Gegenteil dessen gut aufgehoben bin, was einer der wenigen verbliebenen Großintellektuellen dieses Landes hier soeben postuliert hatte.

Jetzt wieder so geschehen bei der aufmerksamen Lektüre seines aktuellen Aufsatzes "Für Europa" in der "Süddeutschen Zeitung" vom Wochenende. Dabei bin ich ihm, das sei jetzt bitte ohne jede unterstellte Ironie so für bare Münze genommen, unendlich dankbar dafür, dass er als Leitfigur des Linksliberalismus seinen Anhängern bei allem sympathischen Drang zum Pazifismus klargemacht hat, weshalb Europa sich jetzt schleunigst rüsten muss für die dunkle Zeit, die angebrochen ist.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".

Doch irrt der Mensch, solange er schreibt. Selbst ein Jürgen Habermas. Am Ende seines Aufsatzes nämlich merkt er an, dass in dieser "Aufrüstungswelle" irrtümlicherweise einige Übereifrige einer "postheroischen Jugend" mit der Wehrpflicht wieder den Stahlhelm überstülpen wollten. Dabei befinde man sich doch "inmitten von Staaten, die aus guten Gründen fast alle die Wehrpflicht abgeschafft hätten", aus der Einsicht heraus, "dass diese mörderische Form der Gewaltausübung menschenunwürdig" sei.

Mal abgesehen davon, dass erste Länder wie Schweden sie schon wieder eingeführt haben: Das ist so rührend schlicht und kurz gedacht, dass man meinen könnte, diese Aussage komme vom Loisl oder dem Mariandl, irgendwo von ganz hinten in Vorarlberg und nicht von einem der größten lebenden deutschen Denker. Leider ist es nun mal so, dass wir uns tatsächlich inmitten von Staaten befinden, die diesen Fehler in den Zeiten der großen vermeintlichen Friedensdividende gemacht haben. Aber nun steht all diesen Ländern und uns ein Wladimir Putin in Russland gegenüber, der diese mörderische Form der Gewaltausübung, vulgo: Krieg, furchtbarerweise zum ersten Mittel seiner Politik gemacht hat.

Die Sorgen der Mütter

Das hat eben alles geändert. Alles. Die Gespräche unter Freunden und Bekannten. Ja, sogar die Träume. Unlängst schlief ich einige Nächte in der Höhe, und da träumte ich immer viel. Dieses Mal sah ich im Traum, wie auf einem gegenüberliegenden Hügel eine Salve in eine Ortschaft einschlug, sie ging wie ein Vorhang aus einer Regenwolke über den Ort nieder. Wir flüchteten in eine Art Garage und versuchten von drinnen, das brennende Zeug zu löschen, das durch die Öffnungen der Garage hereinzüngelte. Zudem hatte ich in den vergangenen Tagen zwei intensive Gespräche mit Müttern von Söhnen im wehrfähigen Alter. Sie redeten beide davon, wie sie es nicht ertragen könnten, ihre Söhne im Krieg zu verlieren, und was sie alles in Bewegung setzen würden, damit ihre Söhne im Kriegsfall nicht eingezogen werden.

Der "Stern" (dessen amtierender Chefredakteur zeigt ein sehr gutes Gespür für Cover und Zeilen) hat seine aktuelle Ausgabe diesem Thema gewidmet. "Würden Sie für Deutschland kämpfen?", fragt die Zeile und zeigt die Bildmontage eines lockigen Jünglings mit unschuldigem Blick und einem halben Helm auf dem Kopf. In der Tagesschau laufen Bilder von Heimatschutzbrigaden aus ergrauten älteren Herren, die wieder in die Uniform schlüpfen.

Europa wacht auf

"Nie wieder." Haben wir gesagt. Und dafür gibt es auch jeden Grund. Aber dieses "Nie wieder" setzt voraus, dass alle so denken. Wenn nur einer ausschert, dann ist es vorbei. Das ist auch der Denkfehler bei so zauberhaften Songs wie "Imagine" von John Lennon und "Der Traum ist aus" von Rio Reiser respektive Ton Steine Scherben. Dieses komplett friedfertige Land, von dem Reiser singt, kann es nicht geben, solange auch nur ein einziges anderes von der Größe wie Russland diesen zutiefst sympathisch-utopischen Ansatz nicht teilt.

Weil nicht nur Russland mit Krieg droht, sondern auch noch der neue amerikanische Präsident berechtigte Zweifel daran nährt, ob sich Europa im Ernstfall auf den Schutz der USA verlassen kann, beginnt sich dieser Kontinent rasant politisch zu bewegen, nachdem er fast 70 Jahre still in seinem Ohrensessel geruht hatte. Nicht nur Deutschland hat mit seinen 300 bis 500 Milliarden Euro erneuten Schulden (nach den 100 Milliarden Sondervermögen) den Hebel von Friedensdividende auf massive Aufrüstung umgelegt. Auch die EU hat ein riesiges Paket an Geld zusammengesammelt, 800 Milliarden Euro, um Europa wehrtüchtig zu machen.

Ich räume ein, dass ich bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen immer etwas reserviert bin, weil der Bombast ihrer Worte meistens nicht so richtig substanziell hinterlegt ist. War nicht eben noch Green Deal, angekündigt mit eben jenen Superlativen und Prioritätsbeschwörungen wie jetzt beim olivgrünen Deal?

Eine unerschütterliche Front als Botschaft an Putin

Gleichviel: Es ist gut und richtig und tatsächlich ohne vernünftige Alternative, das zu tun, was auch Habermas preist und fordert. Denn selbst wenn eine Portion Theaterdonner drin sein mag: So schnell und so oft hintereinander haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs inklusive des britischen Premiers Keir Starmer noch nie getroffen und auf den Hosenboden gesetzt.

Das ist der erste unerlässliche Schritt: Putin eine politische Front und einen eisernen Willen aufzuzeigen. Und das dann so schnell wie möglich substanziell zu unterfüttern.

Auch die Nato war nicht von Beginn an das militärisch wehrhafte Bündnis, das sie bis Donald Trump war. "Die Nato war ein Bluff", schreibt der grandiose Historiker Tony Judt in seinem 1000-Seiten-Ziegelstein und Klassiker über "Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg" über die Geburt des Bündnisses in den frühen Fünfzigerjahren. Und er zitiert einen späteren britischen Verteidigungsminister (Denis Healey), der in seinen Memoiren über jene Zeit notierte: "Für die meisten Europäer bestand der Wert der Nato nur darin, einen neuen Krieg zu verhindern, den zu führen sie gar kein Interesse hatten."

Die Lehren der Nachkriegsgeschichte

Nebenbei bemerkt, findet sich auf jenen Seiten bei Judt auch eine interessante Zahl – nur, weil wir heute immer stöhnen über zwei, drei oder vier Prozent Verteidigungsausgaben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Die USA stockten in jenen Zeiten unter Präsident Truman die Mittel innerhalb eines Jahres von 15,5 Milliarden auf 70 Milliarden Dollar auf. Damit, so Judt, entsprach in den Jahren 1952/53 der Anteil des Militärbudgets am Bruttosozialprodukt 17,8 Prozent! Gegenüber 4,7 Prozent im Jahr 1949.

Europa muss in höchster Geschwindigkeit in die Lage versetzt werden, Russland die Stirn zu bieten. Auf dass eben deshalb ein direkter Krieg Putins nach dem (gar nicht mehr so) indirekten in der Ukraine verhindert wird. Dass so etwas geht, zeigt die Geschichte der Fünfzigerjahre. Dafür ist eine riesige Anstrengung vonnöten, ein eiserner Wille, die Einsicht in neue Prioritäten. Und vor allem: ein fundamentaler Mentalitätswechsel, gerade in der jungen Generation. Sie soll gerne "postheroisch" sein, wie Habermas postuliert. Aber dabei bitte und unbedingt bereit, den neuen Realitäten in die Augen zu schauen. Und zu wissen: Die Zeit der Behaglichkeit und des Hedonismus ist bis auf Weiteres und auf ganz lange Sicht vorbei.

Verwendete Quellen
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



Telekom