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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Früherer Merkel-Berater Heusgen "Wir dürfen uns keine Illusionen machen"
Während die Schweiz zu einer Friedenskonferenz einlädt, greift Russland in der Ukraine weiter an. Der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, drängt auf mehr Unterstützung für Kiew – und wirft der deutschen Politik fehlenden Mut vor.
Die Nato und Russland lassen die Muskeln spielen. Während die russische Armee am Dienstag den Einsatz von taktischen Atomwaffen trainierte, erinnerte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg einen Tag später an die nuklearen Fähigkeiten der westlichen Allianz. Die Eskalationsspirale dreht sich weiter, während Kreml-Chef Wladimir Putin an seinen Kriegszielen in der Ukraine festhält.
Im Angesicht der russischen Aggression versucht der Westen aktuell, gleichzeitig die militärische Unterstützung für die Ukraine zu steigern und die eigene Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen. Aber reichen die aktuellen Maßnahmen der Nato aus, um Putin abzuschrecken?
Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz, wirbt im Interview für eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Die Nato bräuchte eine Politik der Stärke und eine konsequente Verbesserung der eigenen Verteidigungsfähigkeit, um Putin Einhalt zu gebieten.
t-online: Herr Heusgen, die EU ist bei der Europawahl weiter nach rechts gerückt. Kann sich die EU angesichts der aktuellen geopolitischen Krisen diese innere Zerrissenheit leisten?
Christoph Heusgen: Es ist natürlich nicht schön, dass es im Europäischen Parlament zahlreiche Parteien gibt, die gegen den europäischen Gedanken arbeiten. Doch während in Deutschland oder Frankreich diese Kräfte mehr Stimmen bekommen haben, gibt es in anderen Ländern keinen Rechtsruck. Das Entscheidende: Die Mehrheit im Europäischen Parlament ist nach wie vor pro-europäisch.
Anlässlich des Erfolgs von Marine Le Pen hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das Parlament aufgelöst. Auch in Deutschland wird über politische Konsequenzen des AfD-Wahlerfolgs diskutiert. Droht uns nun eine Phase der Selbstbeschäftigung in den wichtigsten Staaten der EU?
In der Tat, aber das können wir uns nicht leisten. In dieser Zeit mit derart vielen Konflikten brauchen wir ein stabiles Europa. Die deutsch-französische Achse sollte funktionieren, Europa sollte mit einer Stimme sprechen. Nur so können wir die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigen.
Zur Person
Christoph Heusgen ist seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. 1980 trat der promovierte Wirtschaftswissenschaftler in den Auswärtigen Dienst ein, ab 2005 beriet Heusgen die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Anschließend war der Diplomat von 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen.
Die AfD wird von anderen rechtsextremen Parteien in Europa als zu radikal wahrgenommen. Wie blicken Deutschlands internationale Partner auf die politischen Entwicklungen in der Bundesrepublik?
Alle blicken mit Sorge nach Deutschland. Es ist ein Alarmsignal, wenn eine Partei wie die AfD, in der ein Spitzenfunktionär gerichtsfest Faschist genannt werden darf, so viele Stimmen bekommt. Das ist für Deutschland, dessen nationalsozialistische Vergangenheit so viel Leid über Europa gebracht hat, ein Problem.
Apropos deutsch-französische Achse: Hat es Sie überrascht, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Staatsbankett für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin erschienen ist?
Nein. Warum sollte es das?
Merkel tritt nur noch selten in der Öffentlichkeit auf.
In den zwölf Jahren, in denen ich sie beraten habe, waren die deutsch-französischen Beziehungen immer das Fundament der deutschen Außenpolitik, die Grundlage einer funktionierenden EU. Für Angela Merkel war immer wichtig, dass Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Position haben. Zwar haben beide Länder oft unterschiedliche Interessen, aber Europa kommt nur dann voran, wenn es den Regierungen gelingt, Differenzen zu überwinden. Das darf Europa auf keinen Fall verlieren.
Trotzdem scheinen weder Merkel noch Bundeskanzler Olaf Scholz Macrons europäische Vision zu teilen. Frankreich fordert mehr europäische Autonomie, Deutschland möchte im strategischen Fahrwasser der USA bleiben. Warum lässt sich in der Frage keine gemeinsame Position finden?
Diese Frage stand schon immer zwischen Deutschland und Frankreich. Paris konzentrierte sich mehr auf eine europäische Verteidigung, für Berlin waren die transatlantischen Beziehungen immer äußerst wichtig. Deutschland war dabei in einer anderen Position: Die Amerikaner standen in kritischen Situationen von der Blockade Berlins bis zum Nato-Doppelbeschluss an unserer Seite, und es war wichtig, diese Beziehung prioritär zu entwickeln. Nun stehen wir aber vor einer anderen Situation.
Warum das?
Weil Macron mit seinen Initiativen einen richtigen Weg eingeschlagen hat, indem er eine stärkere europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik propagiert. Wir dürfen nicht mehr davon ausgehen, dass die Amerikaner auch in Zukunft immer bereitstehen werden, um uns aus der Patsche zu helfen.
Wie sollte diese europäische Außen- und Sicherheitspolitik aussehen?
Es muss auf jeden Fall mehr passieren. Wir bräuchten zum Beispiel einen europäischen Kommissar für die Rüstungsindustrie, der eine bessere Rüstungszusammenarbeit auf dem Kontinent koordinieren kann. Somit könnten die EU-Staaten zu einer besseren Arbeitsteilung kommen, gemeinsam Rüstungsgüter entwickeln und beschaffen. Das spart auch Geld, was im Angesicht der großen Herausforderungen wichtig ist. Wir sollten also unsere Zusammenarbeit auf EU-Ebene systematischer gestalten und die Binnenmarktregeln auch für Rüstungsgüter anwenden.
Warum wird der europäische Rüstungsbereich nicht innerhalb der Nato koordiniert?
Das schließt sich nicht aus. Aber die Nato ist eine reine Verteidigungsorganisation und verfügt nicht über die Instrumente der Europäischen Union.
Das bedeutet?
Die Nato als Organisation vergibt kein Geld und setzt keine Regeln für den innereuropäischen Handel fest. Dafür haben wir die EU – sie kann das Fundament für die Stärkung der europäischen Streitkräfte sein und würde damit auch den europäischen Pfeiler in der Nato stärken. Das würde sich gut ergänzen: So drohte Donald Trump bei seinem Amtsantritt 2017 mit dem Austritt aus der Nato, wenn seine Bündnispartner ihre Hausaufgaben nicht machen und nicht mehr für ihre Verteidigung ausgeben.
Wenn also die Europäer gemeinsam und effektiv ihre Verteidigung stärken, stabilisiert das auch die Nato, weil die Amerikaner mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Bündnis treu bleiben werden.
Trotzdem ringt auch Deutschland mit seiner Verteidigungsfähigkeit. Die deutsche Politik verliert sich erneut in Haushaltsdebatten und Parteien gewinnen an Zuspruch, die den Ukraine-Krieg einfrieren möchten. Fehlt der Bundesregierung der Mut, den Leuten reinen Wein einzuschenken?
Verteidigungsminister Boris Pistorius bringt es auf den Punkt: Deutschland muss wieder kriegstüchtig werden. Die Politik scheut sich aber noch davor, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie wir eine Verstetigung der Zeitenwende längerfristig finanzieren können. Der russische Präsident Wladimir Putin hat klargemacht, was er sich noch in sein russisches Imperium einverleiben könnte. Und er hat auch gesagt, dass er mit seiner Aggression nicht aufhören wird, nur weil der Ukraine die Munition ausgeht. Wir dürfen diese Gefahr nicht herunterspielen, nur weil wir den Menschen hierzulande keine Angst machen möchten.
Wie können wir Putin Einhalt gebieten?
Das gelingt nur mit einer Politik der Stärke. Eine andere Sprache versteht Putin nicht. Auch deshalb sollten wir an unserer Verteidigungsfähigkeit in Europa arbeiten.
Bislang zeigt sich Russland nicht verhandlungsbereit.
Das stimmt. Putin bekommt weder von außen noch aus Russland großen Druck, seine Militäraktion zu beenden. Er kann weiter aus entfernt gelegenen Republiken Menschen für seinen Krieg rekrutieren und sie an die Front bringen. Er kann das alles fortsetzen und kontrolliert die öffentliche Meinung in Russland.
Sehen Sie Anzeichen für eine innere Ermattung der Kriegsdynamik in Russland?
Nein. Vorerst nicht. Die russische Führung stellt Ihre Aggression propagandistisch so dar, als ob Russland sich in einem Verteidigungskrieg gegen den Westen befände, der die russische Art des Lebens vernichten möchte. Die Ukraine leidet unglaublich und ist kriegsmüde. Aber die Ukrainer wissen genau, was passiert, wenn sie jetzt aufgeben würden.
Das haben sie bereits in Mariupol und anderswo erlebt: Wenn die Russen irgendetwas besetzen, dann sind Zerstörung, Vergewaltigung und Kindesentführungen die Folgen. Deswegen wird die Ukraine weiterkämpfen, und es ist auch weiterhin unsere Pflicht, sie zu unterstützen. Dabei geht es auch um unsere eigene Verteidigung, denn Putin hat Städte wie Warschau genannt, die mal russisch waren.
Am Wochenende findet die Schweizer Friedenskonferenz statt. Wie sinnvoll ist eine Friedenskonferenz, zu der Russland als eine der beiden Kriegsparteien nicht eingeladen ist?
Ich bin nicht mit den Details vertraut, aber in meiner Wahrnehmung geht es bei dieser Konferenz auch um Symbolik. Es geht um Bilder der Solidarität und eine hoffentlich kraftvolle Abschlusserklärung. Zentral ist, dass auch Vertreter von Staaten aus Asien, Lateinamerika und Afrika an der Konferenz teilnehmen. Das wird in anderen Teilen der Welt wahrgenommen. Russland hat die internationale regelbasierte Ordnung infrage gestellt, was Ländern im globalen Süden nicht egal sein kann.
Wir dürfen uns keine Illusionen machen: China wird Putin nicht fallen lassen.
Christoph Heusgen
Hinter den Kulissen versucht der Westen seit Monaten, die Staaten des globalen Südens auf seine Seite zu ziehen. Russland und China tun dasselbe. Wer ist gerade erfolgreicher?
Die Ukrainer haben den Chinesen vorgeworfen, andere Länder davon abhalten zu wollen, zur Schweizer Friedenskonferenz zu gehen. Die Zahl und Zusammensetzung der Teilnehmer wird also auch darüber Auskunft geben, wie die globalen Machtverhältnisse derzeit sind. Dass China und Brasilien nicht teilnehmen, ist eine schlechte Nachricht.
Peking verspricht offiziell, sich für Frieden einzusetzen, tatsächlich nähern sich China und der Aggressor Russland immer mehr an. Was sind Chinas Interessen in dem Krieg?
Russlands Krieg spielt den Chinesen in die Hände. Erstens durch die westlichen Sanktionen, die Russland in die wirtschaftliche Abhängigkeit Chinas bringen. Zweitens profitiert China davon, dass die USA abgelenkt sind und sich nicht stärker um das aggressive Auftreten Chinas im pazifischen Raum kümmern kann.
Politiker etwa in der SPD, die mehr diplomatische Initiativen fordern, verweisen meist auf China als Schlüsselakteur, um Russlands Krieg zu stoppen oder einzugehen. Kann der Westen überhaupt Einfluss auf China nehmen?
Kaum. Aber wir sollten das Thema immer wieder ansprechen, China unter einen gewissen Druck setzen, den russischen Völkerrechtsbruch immer wieder anprangern, sodass es seine Unterstützung zumindest nicht erhöht. Wir dürfen uns keine Illusionen machen: China wird Putin nicht fallen lassen. Ein Juniorpartner Russland, der wirtschaftlich von China abhängt, ist sehr viel nützlicher als ein Russland, das den Krieg verliert. Im schlimmsten Fall könnte es zu einem Umsturz und einer neuen Hinwendung zum Westen kommen, was aus chinesischer Sicht ein Albtraum wäre.
Im November ist die US-Wahl, in Europa wachsen die Befürchtungen, dass Donald Trump erneut ins Weiße Haus einziehen könnte. Wie soll sich Europa darauf vorbereiten?
Wir sollten unsere Politik unabhängig vom Ausgang der Wahl gestalten. Wir müssen in Europa sicherheits- und verteidigungspolitisch endlich auf der Höhe der Zeit ankommen. Wir reden seit zwei Jahren über die Zeitenwende, aber es passiert noch nicht genug. Auch ein wiedergewählter US-Präsident Joe Biden würde sich künftig stärker um eigene Interessen kümmern. Europa und Deutschland müssen militärisch endlich erwachsen werden.
Was bedeutet das konkret?
Kanzler Olaf Scholz hatte am 27. Februar 2022 die Zeitenwende ausgerufen. Seitdem ist die Dynamik erlahmt. Bei den Rüstungskapazitäten sind wir längst nicht da, wo wir sein müssten. Die Bundeswehr ist weit vom Ziel entfernt, kriegstüchtig zu sein. Aber diese Tatsache, die allen bewusst ist, führt nicht zu den nötigen politischen Konsequenzen.
Ist die Zeitenwende schon wieder vorbei?
Ich verstehe bis heute nicht, warum die Linie, die der Kanzler Anfang 2022 noch vertreten hat und die auch Verteidigungsminister Boris Pistorius vertritt, nicht weitergeführt wird. Auch Willy Brandt hatte gute Beziehungen zu Russland, aber aus einer Position der Stärke heraus. Wir sehnen uns zurück in eine Zeit, in der Frieden in Europa war. Doch wir machen uns etwas vor. Die Zeiten werden unruhiger. Einziges Rezept ist die Rückkehr zu einer starken Verteidigung, dann sind wir wieder sicher. Die Demokratie muss besser gerüstet sein als die Tyrannei.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Heusgen.
- Interview mit Christoph Heusgen