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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz unter Druck Das bringt er nicht über die Lippen
Olaf Scholz wird beim G20-Gipfel in Brasilien von der K-Frage in der SPD eingeholt. Doch auch außenpolitisch gibt es für Deutschland beim Treffen in Rio de Janeiro Ärger. Der Bundeskanzler steht unter Druck – und er macht Fehler.
Aus Rio de Janeiro berichtet Patrick Diekmann.
Eigentlich hätte die Reise für ihn eine kleine Atempause werden sollen. Schließlich hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach dem Ausstieg der FDP aus der Bundesregierung seine Regierungsmehrheit verloren. Zwei Tage G20-Gipfel in Brasilien, zwei Tage die große politische Bühne, um in diesen Kriegs- und Krisenzeiten womöglich auch innenpolitisch punkten zu können.
Am Ende gab es beim Treffen der führenden Industrie- und Schwellenländer durchaus politische Sieger. Doch keiner von ihnen hieß Olaf Scholz.
Vielmehr hat der G20-Gipfel gezeigt, wie sehr Mächte wie China, Indien oder auch Gastgeber Brasilien an Einfluss gewonnen haben. Der brasilianische Präsident Lula da Silva überrumpelte etwa die anderen G20-Mächte, indem er die Abschlusserklärung überraschend schon am Montag zur Abstimmung stellte.
Die G20 stimmten zu, die Abschlusserklärung enthielt die Gründung einer globalen Allianz gegen den Hunger, einen Kompromiss bei der Einführung einer Reichensteuer und die Absicht, internationale Institutionen wie den UN-Sicherheitsrat zu reformieren. Denn es gibt viele aufstrebende Schwellenländer, die mehr politischen Einfluss verlangen.
Zwar enthält die Abschlusserklärung auch viele vage Absichtsbekundungen, doch immerhin: Der Kompromiss ist vor allem ein Erfolg für Lula, der so ziemlich alle Punkte in dem Papier unterbrachte, die für Brasilien wichtig sind. Er kann sich nun innenpolitisch dafür feiern lassen, die Welt zum Wohle der sozial Schwächeren in eine Richtung bewegt zu haben. Das kommt bei seinen Anhängern gut an.
Die westliche Achse in der Gruppe G20 aber ist geschwächt wie selten. Das liegt insbesondere an der Tatsache, dass zwei führende westliche Länder durch Politiker vertreten werden, die innenpolitisch kaum noch über Macht verfügen – US-Präsident Joe Biden und eben Kanzler Olaf Scholz. Während sich allgemein der Schatten des kommenden US-Präsidenten Donald Trump auch über den G20-Gipfel legte, ist Scholz auch innenpolitisch schwer angeschlagen.
Ukraine spielt Nebenrolle
Dabei gab es aus westlicher Perspektive einen Tag vor Gipfelbeginn zunächst eine faustdicke Überraschung. Biden hob am Sonntag die Reichenweitenbeschränkung für ukrainische US-Waffen auf, damit diese auch gegen Ziele eingesetzt werden können, die weiter im russischen Landesinneren liegen. Das wird der Ukraine besonders dann helfen, wenn sie auch ausreichend von diesen Waffensystemen hat, aber immerhin: In Kiew nahm man diese Nachricht euphorisch auf.
Doch dieser Funke verflog in Rio relativ schnell wieder. Der Ukraine-Krieg war während der zwei Gipfeltage präsent. Es wurde aber auch deutlich, dass viele Länder des Globalen Südens den Konflikt als europäisches Problem sehen. In der Abschlusserklärung sprechen sich die G20 lediglich für einen "gerechten Frieden" aus, vager hätte man es kaum formulieren können.
Zur Erinnerung: Noch vor zwei Jahren beim G20-Gipfel in Indonesien war Russland so stark unter Druck geraten, dass es in der Abschlusserklärung indirekt seinen eigenen Angriffskrieg verurteilen musste.
Doch das ist nun offenbar vorbei: Ein Sieg für Wladimir Putin, der sich beim Gipfel von seinem Außenminister Sergej Lawrow vertreten ließ.
Überdies gelang es der brasilianischen Präsidentschaft, den Ukraine-Krieg thematisch relativ kleinzuhalten. Lula wusste, dass es hier kaum Aussicht auf einen Kompromiss gibt, und er wollte das Scheitern einer gemeinsamen Abschlusserklärung verhindern. Es gab aber auch kaum einen westlichen Regierungschef, der Druck in der Ukrainefrage auf die G20 machte oder machen konnte.
Der Westen ist geschwächt
Der neue US-Präsident Donald Trump war derweil in Rio allgegenwärtig. Er ist der Grund, warum die Absichten der G20 in ihrer Abschlusserklärung alle noch einmal auf den Prüfstein gestellt werden. Denn ab Januar wird sich mit seiner Amtseinführung auch der außenpolitische Kurs der USA erneut ändern.
Mehr internationale Zusammenarbeit und das Festhalten am 1,5-Grad-Ziel zur Bekämpfung der Klimakrise: Das alles sind Dinge, mit denen Trump politisch wenig anfangen kann.
Und der Republikaner hat innerhalb der G20-Gruppe bereits Verbündete, etwa den argentinischen Präsidenten Javier Milei. Dieser verachtet – ähnlich wie Trump – internationale Organisationen. Doch dieses Mal stimmte er in Rio noch einmal einem Kompromiss zu.
Wenn Trump erst einmal zurück im Weißen Haus sein wird, gewinnen die Protektionisten innerhalb der G20 an Boden. Einigungen dürften beim kommenden Gipfel in Südafrika also noch deutlich schwerer werden.
Der andere G20-Sorgenfall war sicherlich Olaf Scholz. Seine Regierung ist geplatzt und seine Position als Kanzlerkandidat für die Neuwahl umstritten. Seine innenpolitischen Probleme schwächten auch sein außenpolitisches Auftreten. In Rio wirkte Scholz daher angeschlagen und genervt. Letzteres lag sicherlich auch daran, dass er von den mitreisenden Journalisten so häufig auf die K-Frage angesprochen wurde.
Wird er als Amtsinhaber der Kandidat seiner Partei oder wird es doch Verteidigungsminister Boris Pistorius? Diese Frage schwebte in Rio über vielem, was der Kanzler tat. Doch eine Antwort fand die SPD bisher nicht. Das wiederum schwächt Scholz’ Macht immer mehr, solange die Diskussion anhält.
Dabei waren es auch immer wieder schlechte Umfragewerte, die den Kanzler in Brasilien erreichten. In einer Insa-Umfrage für die "Bild"-Zeitung war Scholz am Montag nur noch auf Platz 20 der beliebtesten Politiker in Deutschland. Pistorius war erneut auf dem ersten Platz. Hinzu kommt, dass die SPD in allen Umfragen nur zwischen 15 und 16 Prozent steht – und dass Scholz’ Rauswurf des ehemaligen Finanzministers Christian Lindner eben nicht den erhofften Befreiungsschlag brachte.
Scholz will punkten
Hinter den Kulissen wurde in Rio deutlich, dass der Kanzler immer noch der Kandidat seiner Partei werden will. Und eigentlich geht Scholz davon aus, dass die Spitzengremien der SPD an ihm festhalten werden. Doch öffentlich sagen, dass er als Kanzler der logische Kandidat sei, das wollte und konnte Scholz in Brasilien auch nicht.
Stattdessen betonte er in einem Pressestatement nach dem Ende des G20-Gipfels und danach in zahlreichen TV-Interviews, dass die SPD "gemeinsam" siegen werde. Mehr über seine Zukunft brachte er nicht über die Lippen.
Eines liegt also auf der Hand: Für Scholz wird es eng. Er weiß, dass die SPD-Spitze zu ihm steht, übte aber keinen Druck aus, um die Basis nicht zu verärgern. Denn die Stimmung in der Parteibasis schwenkt – so scheint es zumindest – immer weiter in Richtung Pistorius.
Eigentlich wollte der Kanzler nach dem G20-Gipfel weiter nach Mexiko reisen. Doch die SPD braucht nun möglichst schnell eine Entscheidung, sonst wird der politische Schaden für die Partei und einen Kanzlerkandidaten immer größer – und das zerrt an den Nerven. Deshalb reiste Scholz schon am Dienstagabend zurück nach Deutschland.
Lawrow lobte Scholz
In der vergangenen Woche wollte Scholz eigentlich noch einmal inhaltlich bei der SPD-Basis mit außenpolitischen Themen punkten. Wiederholt erklärte der Bundeskanzler auf dem G20-Gipfel daher, dass er zu seinem Nein zu einer Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine stehe. Das kommt zwar bei vielen SPD-Anhängern gut an.
Aber ausgerechnet Lawrow nannte Scholz in Brasilien "verantwortungsbewusst". Ein Lob, auf das der Kanzler wahrscheinlich gerne verzichtet hätte. Denn erst am vergangenen Freitag hatte der Kanzler mit Wladimir Putin telefoniert. Der SPD-Politiker wollte demonstrieren, dass er sich für Frieden einsetzt, und das Kanzleramt veröffentlichte sogar ein Foto von der Interviewsituation. Auch dieser Schuss ging also nach hinten los.
Die Ukraine warf dem Kanzler überraschend deutlich vor, Putin aus der internationalen Isolation zu helfen. Schließlich habe das Gespräch nichts gebracht. Scholz betonte zwar auch in Brasilien, dass es wichtig sei, den russischen Präsidenten daran zu erinnern, dass die Ukraine weiterhin unterstützt wird. Aber warum sollte Putin daran zweifeln?
Außerdem ist er aktuell im Ukraine-Krieg auf der Siegerstraße, weil die westliche Unterstützung nicht ausreicht. Das Telefonat wurde von westlichen Diplomaten in Rio eher als Wahlkampfmanöver mit geringer Aussicht auf einen Verhandlungserfolg gesehen.
Für den Kanzler war der G20-Gipfel also ein Spießrutenlauf: irgendwo zwischen Ukraine, China und dem innenpolitischen Chaos in Deutschland. Letztlich könnte es – und das realisierten einige Beobachter gegen Ende des G20-Gipfels – die letzte Reise von Scholz als Kanzler gewesen sein. In Brasilien zeigte sich der Kanzler noch unbeirrt. Doch der Druck auf ihn steigt.
- Berichterstattung vom G20-Gipfel in Rio de Janeiro