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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Andreas Rödder "Trump hat uns Deutschen sicher nicht vergeben"
Mit Donald Trump zieht die Unberechenbarkeit in die US-Politik ein, mitten in einer Zeit, in der der Westen schwächelt und die Autokraten erstarken. Historiker Andreas Rödder analysiert alte Fehler und neue Herausforderungen.
Eigentlich sollte in unserer Gegenwart nahezu weltweit Frieden und Demokratie herrschen. So zumindest hatten es sich die Staaten des Westens nach dem Untergang des Kommunismus vorgestellt. Doch weit gefehlt: Russland, China und andere Mächte fordern den Westen unverhohlen heraus, während dessen Führungsmacht USA bald wieder von Donald Trump regiert wird. Für Andreas Rödder, Historiker und Autor des Buches "Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer bis zum neuen Ost-West-Konflikt", befinden wir uns derzeit in der "Champions-League historischer Konflikte".
Wie konnte es so weit kommen? Was sind die drohenden Konsequenzen für Deutschland und Europa? Und warum ist der wiedergewählte Donald Trump auch für den Kriegsherrn Wladimir Putin eine schwer einschätzbare Größe? Diese Fragen beantwortet Andreas Rödder im Gespräch.
t-online: Professor Rödder, die liberale Weltordnung bröckelt, in den USA kehrt Donald Trump zurück und in Deutschland erstarken AfD und BSW. Haben Sie als Historiker einen Ratschlag angesichts dieser brisanten Situation?
Andreas Rödder: Wir sollten dringend mehr politische Fantasie entfalten – und zwar dem gegenüber, was auf uns zukommen kann. Wir erleben dramatische Veränderungen. In den USA haben sich neue Allianzen und Verbindungen gebildet, evangelikale Christen und libertäre Milliardäre aus dem Silicon Valley taten sich etwa zusammen, um Donald Trump ins Weiße Haus zu bringen. In Deutschland hingegen hieß es lange Zeit, neue Parteien haben keine Chance.
AfD und BSW haben diese Aussage Lügen gestraft.
So ist es. AfD und BSW haben eine ganz neue Konfliktlinie in die Politik der Bundesrepublik eingezogen. Es geht um Grundpfeiler deutscher Außenpolitik, die selten zuvor derart stark infrage gestellt worden sind. Angegriffen wird vor allem die Westbindung als zentrales Element der Bundesrepublik Deutschland. Historische und politische Fantasie hilft uns, für die kommenden Herausforderungen vorbereitet zu sein. In den USA lässt sich eine fortgeschrittene Polarisierung beobachten, die wir in dieser Form hierzulande noch nicht haben. Das kann uns aber durchaus blühen.
Vor rund 35 Jahren schien hingegen eine andere Zukunft möglich zu werden als die Polarisierung, die wir nun erleben. Nach dem Ende des Eisernen Vorhangs 1989 erhofften sich viele Zeitgenossen eine globale Ära von Frieden, Demokratie und Wohlstand. Was ist schiefgegangen?
Die Zukunft wurde mit Erwartungen überfrachtet, die sich als illusorisch erwiesen. Als sich die Machtverhältnisse im 21. Jahrhundert verschoben, kamen die Konflikte an die Oberfläche, die der Westen in seinem Sieg über den Kommunismus übersehen hat.
Zur Person
Andreas Rödder, geboren 1967, lehrt Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und ist Senior Fellow am Henry Kissinger Center for Global Affairs an der Johns Hopkins University in Washington, D.C. Zugleich ist der Historiker Leiter der liberal-konservativen Denkfabrik Republik21. 2022 und 2023 war Rödder Vorsitzender der CDU-Grundwertekommission. Rödder hat zahlreiche Bücher verfasst, kürzlich erschien "Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt".
In Ihrem neuen Buch, "Der verlorene Frieden: Vom Fall der Mauer bis zum neuen Ost-West-Konflikt", analysieren Sie die überzogenen Erwartungen. Welche waren es?
Zunächst war der Westen damals von der universalen Gültigkeit der eigenen Ordnung überzeugt, die sich weltweit verbreiten würde. Das war die Hybris, die schließlich in den Irak-Krieg von 2003 führte. Ein Zweites kam hinzu, und das ist der eigentliche Grund für das Scheitern der Ordnung von 1990: Zwar deuteten die Machtverhältnisse nach dem Ende des Kalten Krieges auf eine Dominanz des Westens hin, das verdeckte aber ungebrochene Konkurrenz grundlegend unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen.
Konkurrenz vor allem seitens Chinas und Russlands?
Ja. Russland hat die Vormacht des Westens niemals akzeptiert, China ebenso wenig. So gibt es nunmehr auf der einen Seite die westlichen Staaten, die eine liberale, universell geltende Ordnung vertreten, die auf der Souveränität, der Selbstbestimmung und der Integrität der Teilnehmer dieser Ordnung beruht. Auf der anderen Seite haben wir Staaten, die imperialen Vorstellungen von hegemonialen Einflusszonen, in denen sie als Vormächte über die Souveränität und Integrität der anderen Staaten bestimmen, anhängen.
Die Grundlage für den von Ihnen beschriebenen neuen Ost-West-Konflikt?
Ja. Dramatisch wurde es, als sich die Machtverhältnisse verschoben und Akteure konkrete politische Entscheidungen zur Revision der alten liberalen Ordnung trafen. Im Ergebnis sehen wir einen neuen Konflikt zwischen dem herausgeforderten globalen Westen und einem revisionistischen globalen Osten.
Wobei die Staaten des liberalen Westens nun besorgt gen Washington, D.C. schauen, wo Donald Trump mit beiden Kammern des US-Kongresses im Rücken bald erneut die Geschicke der Vereinigten Staaten bestimmen wird.
Die Dinge sind in Bewegung geraten. Ikonen des Silicon Valley haben sich von den Demokraten fortbewegt, zugleich gibt es eine aufgestaute neue soziale Frage. Für Trumps Wahlsieg waren neben kulturellen Konfliktpunkten wie der Wokeness offensichtlich die hohe Inflation und sozialen Lebensbedingungen entscheidend.
Es mutet absurd an, wenn ein selbsternannter Milliardär wie Donald Trump zusammen mit anderen Milliardären Politik für die amerikanischen Arbeiter machen will.
Trump hat es geschafft, sich als Mann der breiten Bevölkerung gegen das politisch-kulturelle Establishment zu inszenieren. Das Irre ist geradezu, wie Trump am Ende des Wahlkampfs mit seinem Auftritt bei McDonalds nochmal richtig Punkte bei der Wählerschaft machen konnte. Ja, er inszeniert sich geradezu als Volkstribun, der jenseits der eingespielten politischen Rituale agiert. Die Nominierungen für wichtige Posten in seiner Administration spiegeln das: Er ist auf Disruption aus. Die US-Politik ist inhaltlich, aber auch kommunikativ mächtig in Bewegung geraten.
Wie können Deutschland und die Europäer in dieser Situation mit Trump umgehen?
Erstens müssen wir akzeptieren, dass Donald Trump einen nahezu erdrutschartigen Sieg errungen hat. Dieser Erfolg war nicht einmal knapp. Eine Mehrheit der Amerikaner will Trump als Präsidenten, das ist eine Tatsache. Das muss uns nicht gefallen, aber wir täten gut daran, diese Tatsache zu verstehen. Zweitens sind uns selbst die von Trump regierten USA hundertmal näher als Wladimir Putins Russland und Xi Jinpings China. Uns bleibt, drittens, auch gar nichts anderes übrig, als uns den sich verändernden USA gegenüber zu verhalten.
Aber wie?
Wir sollten es selbstbewusst tun, aber auf Doppelmoral und Überheblichkeit verzichten. Das sollten wir uns wirklich sparen. Trump hat uns Deutschen sicher nicht vergeben, wie überheblich seinerzeit Außenminister Heiko Maas reagierte, als er an unsere Säumigkeit bei den Verteidigungsausgaben erinnerte – zu Recht im Übrigen, wie die Deutschen heute kleinlaut eingestehen müssen. Deutschland muss Handlungsbereitschaft und Zuverlässigkeit beweisen, alles andere wird böse auf uns zurückfallen.
Der neue Ost-West-Konflikt hat bereits begonnen. Hat Europa die Dringlichkeit verstanden, sich dafür zu wappnen?
Nein. Dabei ist es entscheidend, dass Europa zu einem handlungsfähigen weltpolitischen Akteur wird. Ohne deutsche Führung wird das nicht gehen, weil Führung in Europa nicht aus Brüssel kommt, sondern aus den großen Hauptstädten. Berlin muss in vorderster Position dazu beitragen, dass Europa den USA ein zuverlässiger und selbstbewusster Partner im westlichen Bündnis ist. Und sollten sich die USA in eine andere Richtung orientieren, dann muss Europa auf eigenen Beinen stehen. Es ist doch geradezu aberwitzig, wie sich die EU mit dreifacher Einwohnerzahl und fast neunfachem Bruttoinlandsprodukt von Russland einschüchtern lässt!
Leichter gesagt als getan. Die kollabierte Ampelkoalition hat in der Hinsicht wenig bewegt.
Die bisherige Bilanz ist dürftig, ja. Um die Glaubwürdigkeit deutscher Politik ist es insgesamt schlecht bestellt. Wenn wir überall in der Weltgeschichte moralisieren, aber zugleich immer wieder den Verdacht nähren, dass wir unter diesem Deckmantel ökonomische Interessenpolitik verfolgen, dann unterhöhlt das unser Ansehen. Für die neue Bundesregierung wird es eine wichtige Aufgabe sein, hier endlich den richtigen Ton zu treffen und glaubwürdige Führung auszuüben, auf die Europa wartet.
Friedrich Merz, der mit hoher Wahrscheinlichkeit nächster Bundeskanzler wird, hat bereits gesagt, dass er zu "Deals" mit Trump kommen wird. Ist das der richtige Ton für den zukünftigen Umgang mit den USA?
Trump betrachtet sich als einen Dealmaker, er ist ein Transaktionalist. Das ist Gefahr und Chance zugleich: Gefahr, wozu er alles bereit ist, Chance aber auch, weil er bereit ist, "out of the box" zu denken. Trump ist erratisch und disruptiv. So risikoreich das auch sein mag, es könnte sich auch die Gelegenheit ergeben, gordische Knoten zu durchschlagen. Nehmen wir die Abraham-Abkommen von 2020 zum Ende von Trumps erster Amtszeit.
Darin verständigte sich Israel mit Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Und Saudi-Arabien im Hintergrund. Die Abraham-Abkommen könnten sich langfristig als Gamechanger im Nahen Osten erweisen, wenn sich die Staaten, die sich konstruktiv auf die Zeit nach dem Erdöl vorbereiten, mit der dort führenden Technologiemacht Israel verständigen – zumal gegen die Herausforderung des von den schiitischen Mullahs kontrollierten Iran. Die Initiative zu den Abraham-Abkommen ging von Trump aus. Auch im Hinblick auf die Ukraine kann bislang niemand wissen, was Trumps Ankündigung bedeutet, diesen Krieg zu beenden. Wird Trump die Ukraine zur Unterwerfung drängen? Oder wird er die Russen zu wirklichen Verhandlungen zwingen, möglicherweise mit der Androhung, den Krieg ansonsten zu eskalieren? Putin wird sich darüber Gedanken machen. Trump wird weit eher in der Lage sein, disruptiv auf diesen Krieg einzuwirken, als es Joe Biden gewesen ist.
Von einem "Ende der Geschichte" kann also kaum die Rede sein, wie es ein Aufsatz des US-Politologen Francis Fukuyama vor mehr als drei Jahrzehnten prophezeite?
Nein. Wir spielen derzeit in der Champions-League historischer Konflikte. Die Lage ist sehr, sehr ernst. Als Historiker bin ich fasziniert, wenn es derart kracht, als Bürger bin ich wirklich besorgt. Nehmen wir doch nur das Scheitern der Ampelkoalition, die sich völlig festgefahren hatte – nach nicht einmal drei Jahren. Nur die Prozeduren der Neuwahlen und die verfahrenen Mehrheitsverhältnisse in der deutschen Politik bewahren Scholz davor, als Kanzler mit der bislang kürzesten Amtszeit in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einzugehen.
Verspüren Sie einen Hauch von Weimar, der ersten deutschen parlamentarischen Demokratie, die für ihre sich schnell ablösenden Regierungen berüchtigt ist?
So weit sind wir nicht. Zum Glück. Allerdings haben wir es gegenwärtig mit einer sich ausbreitenden Ausschließeritis zu tun, was politische Koalitionen betrifft. Das beunruhigt mich wirklich. Markus Söder schließt eine Koalition der Union im Bund mit den Grünen aus, Christian Lindner will nicht mehr mit Scholz koalieren, hinzu kommen Brandmauern und Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Wie wollen wir ab einem bestimmten Punkt überhaupt noch zu politischen Mehrheiten kommen? Die Handlungsfähigkeit der deutschen Politik steht auf dem Spiel, und mit ihr das Vertrauen der Gesellschaft in das politische System. Das ist aber die entscheidende Grundlage für politische Stabilität.
Sie haben der CDU, deren Mitglied Sie sind, einen Strategiewechsel in Bezug auf die Brandmauer gegen die AfD nahegelegt und sich für mögliche Minderheitsregierungen im Osten Deutschlands ausgesprochen.
Was ja jetzt in Sachsen auch wohl so kommen wird. Mein Vorschlag zielte darauf, dass sich die Union aus der Defensive von Unvereinbarkeitsbeschlüssen befreit, indem sie klare rote Linien in der Sache markiert und dazwischen selbstbewusst ihre eigenen Positionen vertritt. Die Union ist die entscheidende Kraft in einem sich dramatisch verändernden politischen System, aber dazu muss sie selbstbewusst und handlungsfähig sein. Was sich im Moment zwischen den USA, Budapest und Schnellroda aufbaut, muss man schon sehr ernst nehmen.
Sie spielen auf Donald Trump in den USA, Viktor Orbán in Ungarn und den neurechten Vordenker Götz Kubitschek in Deutschland an?
So ist es. Bürgerliche Politik muss dringend die politisch-theoretische Auseinandersetzung mit einer sich intellektuell formierenden Neuen Rechten forcieren. Viele meinen, diese politisch-intellektuellen Dinge seien nur abgehobener Schaum auf der Welle – in Wahrheit sind sie die treibende Unterströmung. Angesichts des neuen Ost-Welt-Konflikts haben wir keine Zeit zu verlieren, denn der Westen wird mächtig herausgefordert, von außen und von innen. Darauf müssen wir Antworten haben.
Der Historiker und Osteuropaexperte Karl Schlögel hat kürzlich vor einer "Vorkriegssituation" gewarnt, ähnlich zum Ersten Weltkrieg. Was ist Ihre Einschätzung?
Die Lage ist angespannt, ja. Es ist etwa nur eine Frage der Zeit, bis sich China Taiwan mit Gewalt wieder einverleiben will. Dann wird die Lage hochexplosiv, China ist ein anderer Gegner als Russland. Dennoch bin ich skeptisch, was derartige Vergleiche angeht. Denn solche Einschätzungen können leicht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Was uns die Zukunft bringen wird, ist das Ergebnis unserer Handlungen in der Gegenwart. Wichtig wäre es nun, dass wir unsere Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit ziehen.
Haben wir das denn getan? Der Schriftsteller Marko Martin hat im Schloss Bellevue kürzlich Frank-Walter Steinmeier in einer Rede für dessen Russlandpolitik als früherer Bundesaußenminister kritisiert. Die Reaktion des Bundespräsidenten sorgte für einen Eklat.
Die langjährige deutsche Russlandpolitik – auch und gerade unter Steinmeier – war von eklatanten Fehlannahmen, Fehlentscheidungen und ökonomischen Interessen geprägt. Selbstverständlich können Politiker Fehler machen. Aber das kann doch nicht bedeuten, dass man sich mit dünnen Worten hinterher selbst exkulpiert – und notwendige Debatten aushebelt, indem man die eigene Blase nachträglich mit staatlichen Ehrungen adelt.
Steinmeier verweist auf den "damaligen Kenntnisstand" in Bezug auf die Ausrichtung seiner Russlandpolitik.
Machen wir uns doch nichts vor. Deutschland hat seine Appeasementpolitik gegenüber Russland spätestens seit 2015 sehenden Auges betrieben. Nehmen wir das Pipeline-Projekt Nord Stream: Die Amerikaner haben immer davor gewarnt, ebenso die Balten, die Polen und andere. Es gibt einen Unterschied, ob man einen politischen Fehler gemacht hat, den man erst hinterher erkennen kann, oder ob man ihn sehenden Auges gemacht hat.
Würde es der Politik schaden, wenn sie den Bürgern öfter Fehler eingesteht?
Im Gegenteil. Niemand ist vollkommen. Eine gesunde Fehlerkultur ist wichtig. Da läuft derzeit viel falsch, gewählte Politiker verbitten sich Kritik von Leuten, die angeblich keine Ahnung hätten. Wer ist denn aber bitte der Souverän in diesem Land? Es sind die Bürgerinnen und Bürger, das Volk. An der ganzen Geschichte rund um die Rede von Marko Martin hat mich auch die Tatsache gestört, dass Steinmeier ihm offenbar den Vorwurf machte, Martin sei Gast im Schloss Bellevue.
Genaugenommen ist Steinmeier Gast im Schloss Bellevue.
Eben. Hält sich der Bundespräsident für einen Monarchen? Sehr merkwürdig. Insofern war Martins Rede auch aus diesem Grund dringend notwendig.
Was ist nun notwendig, damit der Westen die Herausforderung des neuen Ost-West-Konflikts bestehen kann?
Der Westen braucht Stärke nach außen und Stärke von innen – und die kommt von dem, was man im Englischen "the better story" nennt. Der Westen braucht eine solche bessere Geschichte, um sich im Inneren auf das zu verständigen, was ihn ausmacht und was es zu verteidigen lohnt. Demokratische Politik muss realistisch und glaubhaft vermitteln können, dass sie den Menschen eine bessere Zukunft ermöglicht. Dann kann die Idee des liberalen Westens auch weltweit wieder Zug- und Anziehungskraft entwickeln.
Auch mit den schwächer gewordenen Vereinigten Staaten?
Nicht die USA sind schwächer geworden sind, sondern der Westen insgesamt. Russland hat unter Putin insbesondere seit 2012 militärisch massiv aufgerüstet, während China im frühen 21. Jahrhundert eine beispiellose ökonomische Entwicklung genommen hat. Wir müssen dagegenhalten. Das Gesellschaftsmodell der offenen bürgerlichen Gesellschaft im Gefolge der Aufklärung hat unseren Gesellschaften das höchste Maß an Freiheit und Wohlstand verschafft, das wir historisch je gehabt haben. Das ist doch ein Erbe, auf dem sich aufbauen lässt.
Die Ukraine ist Schlachtfeld des neuen Ost-West-Konflikts. Würde eine sogenannte Finnlandisierung des Landes als neutraler Staat eine Lösung sein, wie zumindest Olaf Scholz es ins Gespräch brachte?
Wenn mit Finnlandisierung die unangebundene Neutralität der Ukraine bedeuten soll, dann wäre das die fatalste denkbare Fehlentscheidung: Es wäre die Fortsetzung des Bukarester NATO-Gipfels von 2008, auf dem der Ukraine die Nato-Mitgliedschaft versprochen, aber kein konkreter Schritt vereinbart wurde. Das hat die Ukraine in der Grauzone exponiert, in der Putin sie überfallen hat.
Was wäre besser?
Dreh- und Angelpunkt jeglicher Friedenslösung – egal, wie die dann territorial und ganz konkret im Einzelnen aussieht – müssen verlässliche Garantien für die staatliche Existenz und die Sicherheit der Ukraine sein. Die konkrete Ausgestaltung ist Sache der Diplomatie, deren handwerkliche Bedeutung man nicht unterschätzen darf. Entscheidend ist zunächst aber diese eindeutige politische Zielbestimmung, ohne die der Westen die Grundlage seiner Glaubwürdigkeit verlieren würde.
Professor Rödder, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Andreas Rödder via Videokonferenz