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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drohung an die Nato Putin schießt ein Eigentor
Für die russische Armee läuft es in diesem Jahr im Ukraine-Krieg bisher gut. Trotzdem sendet der Kreml neue Drohungen in Richtung Nato. Was hat Wladimir Putin vor?
Wladimir Putins Albtraum ist wahr geworden: Nach seiner Invasion der Ukraine sind Schweden und Finnland der Nato beigetreten. Das westliche Verteidigungsbündnis rüstet in Europa auf, besonders im Ostseeraum: Während das Meer noch vor dem Fall der Sowjetunion russisch dominiert war, ist es nun größtenteils ein Nato-Gewässer. Das stellt Moskau vor größere Sicherheitsprobleme und es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis Putin mit Maßnahmen darauf reagiert.
Nun macht ein Dokument aus dem russischen Verteidigungsministerium Schlagzeilen, in dem die russischen Seegrenzen in der Ostsee neu gezogen werden sollen. Begründet wurde das Vorhaben damit, dass die alten noch zu Sowjetzeiten festgelegten Koordinaten ungenau seien und es nicht erlaubten, eine durchgehende Grenzlinie zu ziehen. Das Verteidigungsministerium verwies konkret auf ein Seegebiet südlich der russischen Inseln im Finnischen Meerbusen und auf Abschnitte bei den Städten Baltijsk und Selenogradsk im Gebiet Kaliningrad. Das Vorgehen erlaube es, "das entsprechende Seegebiet als russisches Binnenmeer zu nutzen", heißt es in dem Dokument.
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Einen Tag später, am Mittwoch, meldeten zwar mehrere russische Agenturen unter Berufung auf eine Quelle in militärisch-diplomatischen Kreisen, dass es bei dem Gesetzesprojekt nicht um eine Ausweitung russischer Gebiete gehe. Doch die internationale Empörung ist trotzdem groß, vor allem bei Russlands Nachbarländern im Ostseeraum. Ihre Sorge: Putin könnte ähnlich wie China im Südchinesischen Meer einfach neue Seekarten zeichnen und seine Ansprüche mit militärischen Mitteln durchsetzen.
Diese Sorgen sind berechtigt. Die Ostsee rückt zunehmend ins Zentrum geopolitischer Spannungen. Das hat vor allem mit Putins Misstrauen gegenüber dem Westen zu tun.
Umkämpfte Ostsee
Die Ostsee ist eben nicht nur Erholungsort für viele deutsche Urlauber, sondern hat auch eine bewegte Geschichte, die oft von Kriegen zwischen Ost und West geprägt war. Einst war die Ostsee Fischern und Bernsteinhändlern vorbehalten. Doch wegen ihrer Bedeutung für Handels- und Seewege waren ihre Ufer schon früh umkämpft. Es war der russische Zar Peter der Große – in dem Putin ein Vorbild sieht –, der im Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 Schweden besiegte und damit das Russische Zarenreich als europäische Großmacht und die russische Vorherrschaft im Ostseeraum etablierte.
Diese Vorherrschaft wollte der sowjetische Machthaber Josef Stalin im Winterkrieg ab 1939 mit seinem Angriff auf Finnland ausbauen. Die sowjetische Armee musste sich nach dem erbitterten Widerstand der Finnen zurückziehen, aber Stalin rang dem Kriegsgegner trotzdem ein Zugeständnis ab: die militärische Neutralität Finnlands. Diese endete erst mit Putins Überfall auf die Ukraine.
Auch im Zweiten Weltkrieg wurde die Ostsee zum Schlachtfeld. Auf dem Meeresgrund liegen noch immer zahlreiche Minen, chemische Waffen und Schiffswracks. Das macht die Ostsee heute zu einem der dreckigsten Meere weltweit.
Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland konnte die Sowjetunion ihren Einfluss über den Ostseeraum weiter ausbauen. Die baltischen Länder waren Teil der Großmacht und im Warschauer Pakt wurden Polen und die DDR sowjetische Satellitenstaaten. Das machte die Ostsee für die Großmacht auch zu einem wichtigen ökonomischen Faktor. Die Sowjetunion wickelte hier mehr als 20 Prozent ihrer Warenexporte ab.
"Ostsee darf nicht zu Putins Spielwiese werden"
Für viele Länder in der Region lösten die sowjetische Unterdrückung und die Bedrohung durch die Atommacht ein Trauma aus, das bis heute anhält. Ein Beispiel dafür ist Schweden: Im schwedischen Vokabular gibt es das Wort "Rysskräck", welches laut Wörterbuch die Angst vor Russland beschreibt. Und so schauen Schweden, Finnland und die baltischen Staaten stets genau hin, was der Kreml im Ostseeraum plant – insbesondere vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen Russland und der Nato im Zuge des Krieges in der Ukraine.
Der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, Micael Byden, hat vor Russlands Machtambitionen in der Ostsee gewarnt. "Ich bin sicher, dass Putin sogar beide Augen auf Gotland geworfen hat. Putins Ziel ist es, die Kontrolle über die Ostsee zu erlangen", sagte der Armeechef den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND). "Wenn Putin aber in Gotland einmarschiert, kann er die Nato-Länder vom Meer aus bedrohen. Das wäre das Ende von Frieden und Stabilität in den nordischen und baltischen Regionen." Und in der Tat: Die schwedische Insel hat vor allem deswegen große strategische Bedeutung, weil von dort der Ostseeraum militärisch kontrolliert werden kann. Mehr dazu lesen Sie hier.
"Wenn Russland die Kontrolle übernimmt und die Ostsee abriegelt, hätte das enorme Auswirkungen auf unser Leben – in Schweden und allen anderen Ostseeanrainerstaaten. Das dürfen wir nicht zulassen", sagte Byden. "Die Ostsee darf nicht zu Putins Spielwiese werden, auf der er die Nato-Mitglieder in Angst und Schrecken versetzt."
Immerhin geht es Russland in dem von Putins Verteidigungsministerium am Dienstag veröffentlichten Dokument nicht um einen Anspruch auf Gotland. Vielmehr spricht sich die Militärführung darin dafür aus, das russische Seegebiet auf Kosten der internationalen Gewässer zu erweitern. Das hätte natürlich Folgen für die internationale Schifffahrt und das könnte der erste Schritt Putins sein, um seinen Einfluss im Ostseeraum zu erweitern. Schließlich sieht er sich der Kreml-Chef als Nachfolger von Peter dem Großen.
Alarmglocken läuten bei Nato-Staaten
In jedem Fall läuten im Westen die Alarmglocken.
Russlands Vorgehen könne als "bewusste, gezielte und eskalierende Provokation" angesehen werden, mit der die Nachbarländer und ihre Gesellschaften eingeschüchtert werden sollen, hieß es aus dem litauischen Außenministerium. Demnach soll der russische Gesandte zu einer ausführlichen Erklärung einbestellt werden. Eine Reaktion will Litauen mit seinen Partnern koordinieren.
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Etwas zurückhaltender fiel die Einschätzung in Finnland aus. Dort wollen die Behörden zunächst die Informationen aus russischen Medien prüfen. "Russland hat in dieser Angelegenheit keinen Kontakt mit Finnland aufgenommen. Finnland handelt wie immer: ruhig und auf der Grundlage von Fakten", schrieb der Präsident Alexander Stubb auf X.
Finnland hat eine 1.340 Kilometer lange Grenze zu Russland, die die finnischen Behörden seit Monaten geschlossen halten und immer weiter befestigen. Dort, wo lange Zeit Flüchtlinge oder auch Bürger und diplomatisches Personal aus Russland herauskamen, ist jetzt kein Durchkommen mehr. Dies war vor allem deswegen notwendig, weil Russland seine militärische Präsenz und im Norden verstärkte und der Kreml Geflüchtete in Richtung der finnischen Grenze bringen ließ, um Finnland und die Europäische Union zu destabilisieren.
Putins Plan ging nicht auf. Seine Drohungen gegenüber der Nato und sein Angriff auf die Ukraine führen dazu, dass sich Länder, die sich von Russland bedroht fühlen, in die Arme des Westens flüchten. Besonders im Ostseeraum schoss sich der Kremldespot also ein strategisches Eigentor.
Putins Misstrauen ist groß
Klar, Putin könnte im Ostseeraum so vorgehen wie der chinesische Präsident Xi Jinping in Südostasien – also neue Gebietsansprüche anmelden und sie kontrovers historisch begründen. Davon könnte er sich versprechen, dass sich dadurch die internationale Schifffahrt ein Stück weiter vom russischen Festland entfernt. Aber im Gegensatz zu China könnte Russland diese Ansprüche gegenüber der Nato nicht durchsetzen, weil die westliche Militärallianz besonders im maritimen Bereich deutlich überlegen ist. Welche Strategie des Kremls steckt also dahinter?
Das Dokument des russischen Verteidigungsministeriums über die neuen Gebietsansprüche im Ostseeraum ist nur die Spitze des Eisbergs. Immer wieder werden im Ostseeraum russische Militärflugzeuge gesichtet, die in Richtung Nato-Luftraum fliegen. Moskau demonstriert aktuell nahe der ukrainischen Grenze die Bereitschaft seiner Atomstreitkräfte. Putin lässt mit diesen Provokationen vor allem die Muskeln spielen.
Dabei läuft es für die russische Armee in der Ukraine in diesem Jahr vergleichsweise gut. In dem Krieg ist sie derzeit in der Offensive und Moskau konnte sich in den vergangenen Monaten über die Uneinigkeit des Westens bei der Unterstützung der Ukraine freuen.
Das Problem für den Kreml liegt anderswo: Putin misstraut der Nato und vor allem den USA. Er fürchtet wahrscheinlich, dass wenn die Ukraine den Krieg zu verlieren droht, am Ende doch die Amerikaner aktiv eingreifen könnten. Das Nato-Großmanöver, welches noch bis Ende Mai hauptsächlich in Litauen läuft, bestärkt ihn wahrscheinlich noch in seinem Misstrauen. Schließlich könnte das Nato-Manöver aus Perspektive des Kreml ein verdeckter Truppenaufmarsch sein. Deswegen die Muskelspiele, die neuen russischen Gebietsansprüche; deswegen die Demonstration von Atomwaffen. Das alles ist vor allem eines: Es ist Ausdruck von Putins Angst. Und eine Warnung, vor allem an die Amerikaner.
- moscowtimes.ru: Россия решила сдвинуть госграницу в Балтийском море рядом с Литвой и Финляндией (russisch)
- reuters.com: Russian defence ministry proposes revising Baltic Sea border (englisch)
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr
- EDigene Recherche