Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zwei Kriege gegen den Westen Diese Beobachtung verblüfft
In der Ukraine ist Frieden momentan keine Option. Im Nahen Osten bemüht man sich zwar um Feuerpausen, die aber an der Hamas wie an Israel abprallen. Wie lange noch?
In den USA haben sie Berechnungen darüber angestellt, wie viele Zivilisten in Gaza innerhalb des nächsten halben Jahres sterben werden, wenn der Krieg in dem Maße weitergehen sollte wie heute. Die Schätzungen belaufen sich auf eine Zahl zwischen 58.260 und 66.720. Nimmt der Krieg an Intensität wieder zu, sterben zwischen 74.290 und 83.750 Menschen.
Natürlich können Zahlen gar nicht ermessen, was der Tod bedeutet. Aber Zahlen kennzeichnen inzwischen diesen Krieg. Anfangs sollte die Terrororganisation Hamas eliminiert werden, was politisch bedeutet, dass sie den Gazastreifen nicht mehr "regieren" darf – dass sie nicht mehr Waffen unterirdisch hortet, um sie dann wie am 7. Oktober und seither einzusetzen. Daraus ist jedoch ein Krieg gegen Zivilisten geworden und alle Appelle aus den Regierungszentralen und der Uno, doch bitteschön Rücksicht zu nehmen, verhallen ungehört.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Die israelischen Streitkräfte haben die Menschen in Gaza wie eine Viehherde erst dahin und dann dorthin gescheucht. Sie hungern sie aus. Sie schalten Strom und Wasser nach Belieben aus. Den Krankenhäusern fehlt es längst an allem. Auch dieser Krieg ist ein schreckliches Beispiel für den Verlust an Humanität.
Wie viele Soldaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine ums Leben gekommen sind, wird wie ein Geheimnis gehütet. Einigermaßen verlässlich scheinen diese Zahlen zu sein: 120.000 russische und 75.000 ukrainische Soldaten sind in den vergangenen zwei Jahren gestorben. Die Zahl der Verletzten summiert sich angeblich hier auf 400.000, dort auf 200.000. Dazu kommen 10.000 ukrainische Zivilisten, gestorben bei Luftangriffen und ermordet in Butscha oder Cherson.
Zwei Kriege, zweimal Tod, zweimal Leid und egal, wie lange sie andauern, nimmt der Hass nur zu. Die Gebiete liegen weit auseinander, schon wahr, und jeder Krieg hat seine eigene Logik. Aber auch die Gemeinsamkeiten stechen ins Auge: keine Aussicht auf Frieden; Zivilisten als Opfer von Tod, Entführung, Folter, Vergewaltigung; Zerstörung der Infrastruktur; ideologisch ein Krieg gegen den Westen; und Europa ist jeweils mittendrin.
Der renommierte britische Historiker Timothy Garton Ash, ein wahrhaft überzeugter Europäer, führte auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein Experiment durch. Er fragte nach den Kriegsparteien in der Ukraine. Verblüffung erntete er, wenn er seine Meinung kundtat, dass Europa mittendrin steckt.
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Stimmt ja auch. Deutschland ist der zweitgrößte Unterstützer, militärisch und für den Wiederaufbau. Dänemark liefert, was es an Munition und Kriegsgerät besitzt. Die Niederlande und Großbritannien sind alles andere als zurückhaltend, Frankreich, auch wahr, redet mehr, als es liefert. Amerikas nächstes milliardenschweres Hilfspaket ist aus innenpolitischen Gründen blockiert. Ohne Amerika mangelt es aber gewaltig an Nachschub, weil die europäische Rüstungsindustrie eher auf dem Papier existiert.
Europa hat jeden Grund, der Ukraine zu helfen, auch aus Eigeninteresse. Welches Land kommt als Nächstes dran? Putin spielt auf Zeit. Der Ukraine fehlt es an Munition, schweren Waffen, an Soldaten und mittlerweile auch an der Hoffnung auf den Sieg, nachdem die letzte große Offensive keinen Durchbruch erbracht hatte.
In der Ukraine wie im Nahen Osten steht die Reputation des Westens auf dem Spiel. Putin rechtfertigt den Krieg als Gegenwehr gegen den dekadenten Westen, der Russland angeblich nach 1989 betrogen hat. Der Iran, der wahre Gegenspieler Israels, rechtfertigt den Krieg als Befreiung von der Hegemonialmacht USA, der die Existenz Israels garantiert.
Europa fällt im Nahen Osten eine andere Rolle zu als in der Ukraine. Europa arbeitet sich wie die USA daran ab, Ideen für einen Frieden zu entwickeln, der dieser Region nach dem Gaza-Krieg mehr Stabilität gewähren kann. Dort ist Europa "Kriegspartei", hier Friedenspartei.
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Europa ist keine Macht aus eigenem Recht. Amerika ist zwar nicht alles, aber ohne Amerika ist so gut wie alles nichts, sowohl in der Ukraine als auch im Nahen Osten. Dass die Abhängigkeit ein unguter Zustand ist, lässt sich nicht länger leugnen, zumal sich Amerika schon seit Barack Obama dem Fernen Osten zuwenden will – der Rivalität mit China, militärisch, politisch und kulturell.
So lassen sich beide Kriege als ein einziger großer Weckruf verstehen, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Je länger sie anhalten, desto mehr Zeit bleibt, endlich die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Zu Beginn des Fastenmonats Ramadan will Israel die länger schon angekündigte Offensive gegen Rafah starten. Die Menschen dort leben in Zeltstädten, da ihre Häuser entweder nur noch Ruinen sind oder sie ihre zerstörten Behausungen im Norden aufgaben, als sie gezwungen waren, in den Süden zu fliehen. Dass eine humanitäre Katastrophe droht, ist fast schon ein müder Allgemeinplatz. Sie droht nicht, sie ist längst da.
- Experte zu Israels Rafah-Plan: Die Verbündeten hoffen auf einen "Lucky Punch"
Das große Sterben geht weiter
In Paris verhandeln die Chefs der Geheimdienste aus der Region ziemlich lange schon über eine Feuerpause für einen Gefangenenaustausch. Benjamin Netanjahu lehnt die Zweistaatenlösung, die ohnehin nur auf lange Sicht möglich wäre, mit aller Entschiedenheit ab. Man muss ihm zutrauen, dass er nach Gaza militärisch gegen die Hisbollah im Libanon vorgeht. Der Premierminister erweist sich als Problem, weil ihm, wäre der Krieg vorbei, Amtsenthebung bevorstünde.
Auch in der Ukraine besteht keine Aussicht auf Frieden. Nach zwei Jahren der Selbstbehauptung unter hohen Opfern käme ein Status-quo-Friede aus ukrainischer Sicht einer Niederlage gleich. Wladimir Putin hat nicht nur die stärkeren Bataillone, er schert sich auch nicht um die Legionen an Toten. Seine Armee erscheint jetzt besser sortiert und sogar in der Lage, unter hohen Verlusten verlorenes Gebiet zurückzuerobern. Und natürlich hofft Putin auf die Wiederkehr Donald Trumps, dem weder die Ukraine noch die Nato noch Europa einen Pfifferling wert sind.
So geht das große Sterben, das erbarmungswürdige Leiden in der Ukraine und im Gaza weiter. Keine Aussicht nirgends, dass dem Irrsinn Einhalt geboten werden kann.