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Afghanistan: Muss der Westen mit den Taliban verhandeln?


Machtübernahme in Afghanistan
Werden die Taliban nun international salonfähig?

dpa, Von Can Merey, Michael Fischer und Ansgar Haase

Aktualisiert am 19.08.2021Lesedauer: 4 Min.
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Ansage im Staatsfernsehen: Das haben die Taliban laut eigener Aussage jetzt vor. (Quelle: t-online)

Während ihres ersten Regimes waren die Taliban fast überall auf der Welt geächtet. Nach der erneuten Machtübernahme sucht die Gruppe nun internationale Anerkennung. Wird der Westen ihnen entgegenkommen?

Als der damalige US-Außenminister Mike Pompeo im November in Doha mit Taliban-Vizechef Mullah Ghani Baradar zusammenkam, ging es um Friedensverhandlungen in Afghanistan. Keine neun Monate später sind solche Verhandlungen obsolet: Die Taliban sind zurück an der Macht, die von den USA gestützte Regierung ist vertrieben, und Europa fürchtet eine neue Flüchtlingskrise.

Baradar – mit dem Pompeo damals in Doha für die Kameras posierte – wird als möglicher künftiger Regierungschef gehandelt. Eine der vielen Fragen, die die Rückkehr der Taliban an die Macht aufwirft: Werden die Islamisten dieses Mal auf dem internationalen Parkett salonfähig?

Die erste Taliban-Regierung in Afghanistan war international fast gänzlich isoliert. Das Regime, das von 1996 an in Kabul herrschte, ließ angebliche Ehebrecherinnen steinigen und Dieben die Hand abhacken – nur eine Auswahl der Grausamkeiten. Anerkannt wurde es lediglich von drei Staaten: Saudi-Arabien, Pakistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Den selbst ernannten Gotteskriegern wurde schließlich zum Verhängnis, dass sie Al-Kaida-Chef Osama bin Laden Schutz boten. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem US-geführten Einmarsch in Afghanistan stürzte das Regime.

Die USA werteten die Taliban zu Verhandlungspartnern auf

Trotz des stetigen Wiedererstarkens der Taliban galt es über Jahre hinweg als tabu, Verhandlungen öffentlich auch nur zu erwägen. Der damalige SPD-Chef Kurt Beck holte sich vor 14 Jahren eine blutige Nase mit einem Vorstoß, gemäßigte Taliban in Verhandlungen einzubeziehen. Im vergangenen Jahr unterzeichnete die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump in Doha dann eine Vereinbarung mit den Taliban, die eigentlich zu einer politischen Lösung führen sollte. Spätestens mit diesem Abkommen werteten die Amerikaner die Taliban zu Verhandlungspartnern auf.

Doch an das Abkommen hielten sich die Islamisten nicht. Statt zu verhandeln, verstärkten sie ihre Militäroffensive. Angesichts von Gräueltaten wie der willkürlichen Tötung von Zivilisten drohten EU-Spitzenvertreter den Taliban noch zu Monatsbeginn mit Verfolgung. Keine Woche ist es her, dass Repräsentanten der USA, der EU, Deutschlands und anderer Staaten bekräftigten, keine Regierung in Afghanistan anzuerkennen, "die durch den Einsatz von militärischer Gewalt durchgesetzt wird".

Tiefes Misstrauen im Westen

Seit ihrer Rückkehr an die Macht versuchen die Taliban, sich als moderate Kraft zu präsentieren. Bei seiner ersten Pressekonferenz versicherte Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid in Kabul, die neue Regierung sei nicht auf Rache aus, Gegner hätten nichts zu befürchten. Human Rights Watch berichtete allerdings, die Taliban hätten Sicherheitskräfte in Gefangenschaft getötet. Die Menschenrechtler verwiesen zudem darauf, dass Mudschahid zwar Frauenrechte zugesichert habe – aber nur im Rahmen der Scharia, dem von den Taliban extrem streng ausgelegten islamischen Recht.

Ob in Washington, Brüssel oder Berlin – überall herrscht tiefes Misstrauen. Überall ist der Tenor der gleiche: Man werde die Islamisten an ihren Taten messen. US-Vizeaußenministerin Wendy Sherman sagte am Mittwoch: "Die Taliban hoffen darauf, eine Regierung in Afghanistan zu bilden. Sie streben Legitimität an. Wir alle beobachten ihre Handlungen."

Den Taliban geht es um internationale Anerkennung – wichtig vor allem, weil das bitterarme Land auch unter ihrer Herrschaft auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen sein wird.

Nouripour: "Wir sind jetzt erpressbar durch die Taliban"

Die USA und die stehen vor einem Dilemma: Sie wollen die afghanische Bevölkerung nicht im Stich lassen, der sie genau das 20 Jahre lang immer wieder versprochen haben. Helfen können sie aber nur noch, indem sie mit denjenigen sprechen und womöglich sogar kooperieren, vor denen sie die Menschen beschützen wollen. Für Deutschland war Afghanistan bisher Empfängerland Nummer eins der Entwicklungshilfe. Jetzt sind Hilfszahlungen von insgesamt 430 Millionen Euro für dieses Jahr eingefroren – bis auf die humanitäre Hilfe.

Ob das lange so bleibt, ist fraglich – auch, weil die EU eine neue Flüchtlingskrise fürchtet. "Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen", befand der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nüchtern nach Beratungen mit den Außenministern der Mitgliedstaaten. Es gehe darum, eine mögliche Migrationskatastrophe, eine humanitäre Krise und eine Rückkehr internationaler Terroristen nach Afghanistan zu verhindern.

Schon jetzt haben Vertreter der USA und der EU-Staaten keine andere Wahl, als mit den neuen Machthabern zu sprechen: Sie müssen mit ihnen darüber verhandeln, dass die eigenen Bürger und afghanische Ortskräfte ausgeflogen werden dürfen. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour sagt: "Wir sind jetzt erpressbar durch die Taliban, wenn wir die Leute dort befreien wollen."

Ein weiterer Grund für Gespräche

Während die USA und andere westliche Staaten ihre Diplomaten aus Kabul ausfliegen, wird in den Botschaften Russlands und Chinas ungerührt weitergearbeitet. Nach dem schmählichen Abzug der Roten Armee aus Afghanistan 1989 hat Russland durch das Scheitern der USA am Hindukusch weiter an Selbstbewusstsein und Einfluss gewonnen. China wiederum will zu den Vereinigten Staaten als einziger Supermacht aufschließen – und sie langfristig überflügeln. Taliban-Vize Baradar wurde erst im vergangenen Monat in Moskau und Peking empfangen.

EU-Chefdiplomat Borrell rechtfertigt auch mit diesen Entwicklungen die Offenheit für Gespräche mit den Taliban. "Was wir nicht tun können, ist, den Chinesen und Russen die Kontrolle über die Lage zu überlassen", sagte er am Donnerstag.

Das Online-Magazin "The Diplomat" schrieb dazu: "Ein möglichst desaströser Abzug Washingtons aus Afghanistan ist ein politischer Gewinn für Moskau und Peking." Frage sei, ob die Vereinigten Staaten ein von den Taliban geführtes Afghanistan isolieren könnten. "Die Antwort ist jetzt, im Jahr 2021, weniger klar, als sie es 1996 war."

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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