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Joe Biden in Europa: "Eigentlich sind die USA gar keine Demokratie mehr"


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US-Präsident in Europa
"Biden macht es nur geschickter als Trump"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

10.06.2021Lesedauer: 9 Min.
Joe Biden: Der US-Präsident befindet sich auf Europa-Reise.Vergrößern des Bildes
Joe Biden: Der US-Präsident befindet sich auf Europa-Reise. (Quelle: Susan Walsh/ap)

Die USA wollen zu alter Stärke finden, deshalb ist Joe Biden nach Europa gereist: Der US-Präsident braucht die Verbündeten. Die sollten sich aber hüten, sagt der Experte Stefan Baron.

Von Donald Trump gab es viel Schelte für die Europäer, sein Nachfolger Joe Biden wird bei seinem Besuch sanftere Töne anschlagen. Einen regelrechten Gipfelmarathon absolviert der US-Präsident in den nächsten Tagen: G7, Nato, EU, USA-Russland-Gipfel. Die europäischen Verbündeten will Biden wieder enger an Amerika binden.

Aber wäre das überhaupt gut für Deutschland und die EU? Nein, sagt der Publizist und China-Experte Stefan Baron. Stattdessen solle sich Europa nicht mehr in Amerikas Händel ziehen lassen, sondern sich endlich emanzipieren. Warum China dabei eine besondere Rolle zukommt, die USA eigentlich keine wahre Demokratie mehr seien und sich auch Russland vom Westen bedroht sieht, erklärt Baron im t-online-Gespräch:

t-online: Herr Baron, Joe Bidens erste Auslandsreise als US-Präsident führt ihn nicht ins aufstrebende China, sondern nach Europa. Welchen weltpolitischen Einfluss hat Europa heute noch?

Stefan Baron: Weltpolitisch ist Europa derzeit umworben wie nie. China will den Schwerpunkt der Weltwirtschaft und Weltpolitik vom Atlantik nach Eurasien zurückverlagern, wo er nahezu die gesamte Geschichte über lag. Das geht schon definitionsgemäß nicht ohne Europa. Und die USA brauchen uns im Abwehrkampf gegen das aufstrebende China, um ihre globale Hegemoniestellung verteidigen zu können. Für Europa bietet dies eine einmalige Chance, weltpolitisch wieder eine zentrale Rolle zu spielen. Dafür muss es sich aber von den USA emanzipieren.

Aber jahrzehntelang ging es uns Europäern unter dem Schutzschirm der USA doch sehr gut.

Emanzipation heißt ja nicht, mit den USA nicht länger zusammenarbeiten zu wollen oder gar zu Gegnern zu werden. Es bedeutet, sich künftig auf Augenhöhe zu begegnen und konsequent die eigenen Interessen zu verfolgen, gegenüber Amerika genauso wie gegenüber China. Europa darf sich von Washington nicht in dessen Machtkonflikt mit China als Hilfssheriff einspannen lassen.

Genau darauf zielt Joe Bidens Europareise ja aber ab, er will die EU auf seine Seite ziehen und gegen China und Russland in Stellung bringen. Wird ihm das gelingen?

Im Großen und Ganzen steht das leider zu befürchten. Europa und speziell Deutschland haben sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten in dem "luxuriösen Protektorat" – wie Egon Bahr, der Architekt der deutschen Ostpolitik, gegenüber der einstigen Sowjetunion, den Zustand einmal nannte – bequem eingerichtet. Darüber will es offenbar nicht wahrhaben, dass seine Interessen und die Amerikas längst nicht mehr so übereinstimmen, wie das früher einmal der Fall war. Nach dem berühmten Diktum des britischen Staatsmanns Palmerston gibt es aber weder ewige Verbündete noch immerwährende Feinde, ewig und immerwährend sind allein die Interessen. Dementsprechend muss Europa handeln. So wie es die USA ja auch tun.

Stefan Baron, Jahrgang 1948, ist Publizist und Berater. Der diplomierte Volkswirt arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Entwicklungsländer-Abteilung am Kieler Institut für Weltwirtschaft, war danach unter anderem Redakteur und Korrespondent beim "Spiegel", 16 Jahre lang Chefredakteur der "Wirtschaftswoche" und später globaler Kommunikationschef der Deutschen Bank. Zusammen mit seiner Frau Guangyan Yin-Baron hat er den Bestseller "Die Chinesen. Psychogramm einer Weltmacht" veröffentlicht. Soeben erschien Barons neues Buch "Ami go home! Eine Neuvermessung der Welt".

Schon Bidens Vorgänger Donald Trump hat deshalb die EU-Staaten unter Druck gesetzt, ihre Verteidigungshaushalte zu erhöhen. Besonders Deutschland bekam dies zu spüren. Wird Biden sanftere Töne anschlagen?

Bei Trump hieß es: "America first!", Biden spricht jetzt von "America is back!" Das hört sich zwar freundlicher an, ändert aber nichts am Kern: Washingtons Hegemonialpolitik. Biden macht es nur geschickter als Trump: Er umgarnt die Verbündeten in Europa, statt sie vor den Kopf zu stoßen – und wird damit am Ende sicher mehr erreichen.

Aber es gibt doch deutliche inhaltliche Unterschiede zwischen der Außenpolitik der beiden Präsidenten: Während Trump seine berühmt-berüchtigten "Deals" anstrebte, macht Biden die Menschenrechte zu einem zentralen Thema. Das kommt doch den europäischen Interessen entgegen.

Die Menschenrechte spielen in Bidens Außenpolitik tatsächlich eine größere Rolle als bei Trump. Aber sie dienen ihm vor allem als Instrument, um China, Russland und andere Länder zu diskreditieren und so zu schwächen. Sie kaschieren eine im Grunde unveränderte knallharte Interessenpolitik. Das zeigt sich allein schon daran, dass die Menschenrechte den USA keineswegs in allen Ländern gleich wichtig sind.

Weil sie mit autoritären Regimen kooperieren?

Zum Beispiel. Denken Sie etwa daran, wie nachsichtig sie mit Saudi-Arabien umgehen. Oder Vietnam und gegenwärtig Kambodscha umwerben, um sie gegen China einzunehmen. Die Beispiele sind Legion. Auch unter Biden stehen die sogenannten westlichen Werte, die Europa und Amerika verbinden, oft nur auf dem Papier.

Welche Rolle spielt dabei die gesellschaftliche Spaltung in den USA?

Diese Spaltung ist ein weiterer Beleg dafür. Eigentlich sind die USA gar keine Demokratie mehr.

Was denn dann?

Eine Oligarchie, mehr noch: eine Plutokratie. Präsident werden, in eine politische Führungsposition kommen, kann man dort zum Beispiel nur noch mit der finanziellen Unterstützung superreicher Sponsoren, der Wall Street, aus dem Silicon Valley oder den großen Rüstungsunternehmen. Entsprechend ist deren Einfluss auf die politische Agenda.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Machtpolitik der USA mittlerweile eine Gefahr für Frieden und Wohlstand in der Welt sei. Wie sollte Europa damit umgehen?

Europa muss die USA dazu bringen, von ihrer militanten Politik abzulassen, die Macht in der Welt zu teilen, die derzeit unipolare in eine multipolare Weltordnung zu überführen, kurz: Demokratie auf der internationalen Ebene zuzulassen. Wenn überhaupt jemand, vermag nur Europa, Amerikas wichtigster Verbündeter, das zu erreichen. Aber dafür muss es sich von den USA emanzipieren. Tun wir das nicht tun, werden wir in einen gefährlichen Konflikt zwischen Amerika und China hineingezogen.

Nun übertreiben Sie aber!

Ganz und gar nicht. In Deutschland ist man sich dieser Gefahr offenbar nur nicht bewusst oder ignoriert sie. Die Konfrontation Amerikas gegen China führt zum einen zur Deglobalisierung und bedroht damit den Wohlstand, gerade bei uns in Deutschland. Wir leben vom Export. Mehr noch: Sie bedroht auch den Frieden in der Welt inklusive Europa. Ein neuer Kalter Krieg, diesmal zwischen Amerika und China, hat bereits begonnen, ein Schießkrieg ist keineswegs undenkbar. So wird etwa die Lage um Taiwan immer brisanter. Falls die Insel sich von China formell für unabhängig erklären würde, müsste die Volksrepublik militärisch einschreiten. Die Regierung in Peking ist dazu gesetzlich verpflichtet. Amerika würde dann wohl auf Seiten Taiwans eingreifen. Ein solcher Konflikt hätte ein dramatisches Eskalationspotential und würde die gesamte Welt schwer in Mitleidenschaft ziehen.

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Peking verfolgt eben skrupellos seine Ziele.

Peking betrachtet Taiwan als Teil Chinas. Und das haben auch die USA einmal offiziell anerkannt, um die Volksrepublik im Kalten Krieg mit der Sowjetunion seinerzeit ruhigzustellen. Wenn sie davon jetzt, da China zu einem ernsthaften Rivalen aufgestiegen ist, nichts mehr wissen wollen, hat das natürlich Konsequenzen. China verfolgt weltpolitisch vor allem ein Ziel: Es will es selbst sein können und sich von niemandem Vorschriften machen lassen müssen. Statt der derzeitigen unipolaren, von den USA geschaffenen und dominierten Weltordnung will es eine multipolare Ordnung, in der es einen ihm gebührenden Platz einnimmt. Dem dient auch das Projekt der Neuen Seidenstraße, das Asien mit Europa enger verzahnen soll.

Aber damit begibt sich Europa doch in noch größere wirtschaftliche Abhängigkeit von China.

Das sehe ich nicht so. Europa kann von der Neuen Seidenstraße stark profitieren. Die wirtschaftliche Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens sowie Afrikas liegt mindestens so sehr im Interesse Europas und speziell Deutschlands wie in dem Chinas. Besonders unsere starke Investitionsgüterindustrie könnte davon enorm profitieren und der deutschen Wirtschaft den nötigen Wachstumsschub verleihen, den wir brauchen, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen: den Klimawandel, die Digitalisierung, die Alterung der Gesellschaft. Mit zunehmender Entwicklung der betreffenden Regionen nimmt überdies der Migrationsdruck auf Europa und speziell Deutschland ab. Auch das trägt wesentlich zur Stabilisierung Europas und seiner Einheit bei.

Europa und vor allem Deutschland profitieren zwar stark vom Handel mit China, zugleich ist China aber eine Überwachungsdiktatur, die systematisch Menschenrechte verletzt. Warum sollten wir uns vor so einem gewalttätigen Staat nicht fürchten?

Unsere Außenpolitik darf sich nicht vor allem an der Innenpolitik anderer Länder ausrichten, sondern muss sich an deren Außenpolitik orientieren.

Sie meinen, Europa sollte im Dialog mit China darauf verzichten, auf die Einhaltung der Menschenrechte zu pochen? Das käme doch einer moralischen Bankrotterklärung gleich.

Selbstverständlich müssen wir uns immer für unsere Überzeugungen und Werte einsetzen, aber dabei müssen wir zum einen immer erst einmal vor der eigenen Tür kehren und zum anderen auch beachten, dass Menschenrechte in anderen Kulturen und auf anderen Entwicklungsstufen oft anders gesehen werden. Wir selbst haben das, was wir heute für richtig und notwendig halten, ja auch nicht schon immer so betrachtet. Vor allem dürfen wir die Menschenrechte aber nicht als Instrument einer Machtpolitik einsetzen, wie es die USA tun. Durch eine Politik der friedlichen Koexistenz und beharrlichen Überzeugungsarbeit wird diesen Rechten am Ende mehr gedient als durch Konfrontation.

Wenn China im Südchinesischen Meer künstliche Inseln zur militärischen Nutzung aufschüttet, in Afrika Land aufkauft und den griechischen Hafen Piräus übernimmt, muss Europa doch eine Haltung dazu entwickeln.

Sie halten mir ständig China vor, als wollte ich, dass Europa sich statt mit den USA künftig mit China verbünden soll. Das ist mitnichten der Fall und steht überhaupt nicht zur Debatte. Europa ist und bleibt Teil des Westens. Ich plädiere lediglich für eine eigenständige, interessengeleitete europäische Außenpolitik – und zwar in alle Richtungen. Es wäre doch widersinnig, die Emanzipation von den USA zu fordern und sich stattdessen in eine neue Abhängigkeit von China zu begeben. Im Übrigen hilft China Afrika zweifellos viel mehr als es ihm schadet. Dasselbe gilt für den Hafen von Piräus. Dort hätte sich überdies auch Europa engagieren können. Hat es aber nicht.

Bleiben die künstlichen Inseln im Meer.

Die sind defensiver Natur, Peking will damit vor allem seine lebenswichtigen Versorgungswege für Energie, Rohstoffe und Nahrungsmittel sichern, die überwiegend durch das Südchinesische Meer führen.

Hm.

Sie können das natürlich bezweifeln. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt: Anders als die USA will China nicht die Welt beherrschen. Das hat es nie gewollt, obwohl es durchaus die Möglichkeit dazu hatte.

Was will es denn dann?

Es will die USA als einzige Supermacht entthronen, aber nicht ersetzen, das heißt an seine Stelle treten. China ist so riesig, das Land genügt sich im Grunde selbst. Im Übrigen ist seine Kultur so spezifisch, dass sie sich gar nicht zum Export eignet.

China hat aber doch den klaren Plan formuliert, bis zum hundertsten Jubiläum der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 2049 die führende Industrienation zu werden. Also die Nummer eins der Welt.

Ja, wirtschaftlich will es zweifellos die Nummer eins werden und damit auch politisch eine Position einnehmen, die es unangreifbar macht. Aber das ist etwas anderes als eine globale Hegemoniestellung anzustreben, wie sie die USA derzeit innehaben.

Die imperialistischen Mächte Europas haben China im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder gedemütigt, etwa beim "Boxeraufstand", der auch von deutschen Soldaten brutal niedergeschlagen wurde. Muss Europa fürchten, dass China sich nun für die Niederlagen der Vergangenheit revanchiert?

"Revanchieren" würde ich nicht sagen. Aber China will diese historische Schmach tilgen, indem es so stark wird, dass es nie wieder gedemütigt werden kann.

Im Gegensatz zu China sucht Europa seine Rolle in der Welt noch und tut sich schwer, seine Interessen durchzusetzen. Wird die EU außenpolitisch überhaupt ernst genommen?

Europa wird derzeit sehr ernst genommen. Deshalb führt die erste Auslandsreise von Herrn Biden als Präsident ja auch zu uns. Aber wenn Europa auf Dauer ernst genommen werden will, muss es sich von den USA emanzipieren. Deutschland muss viel enger mit Frankreich kooperieren und Europas weitere Integration vorantreiben. Wenn diese beide Staaten gemeinsam vorangehen, werden andere folgen. Zudem muss Europa Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik zulassen. Denn wenn 28 Staaten einstimmig entscheiden müssen, kommt nur der kleinste gemeinsame Nenner dabei heraus. Das ist für geopolitische Einflussnahme zu wenig.

Und wie sollte die EU sich zur Nato stellen?

Statt der Nato brauchen wir eine europäische Verteidigungsunion. Die Nato wurde einst als Verteidigungsbündnis für Europa gegründet, ist aber immer mehr zu einem Instrument der amerikanischen Hegemoniepolitik geworden. Wird dürfen uns jedoch nicht mit der Rolle eines globalen Hilfssheriffs der USA abfinden.

Die Stabilität Europas wird auch durch Russland unterminiert, Beispiele sind der Hackerangriff auf den Bundestag und Moskaus Unterstützung für populistische Parteien, die den Austritt aus der EU fordern. Die amerikanische Historikerin Anne Applebaum hat kürzlich im Interview mit t-online davor gewarnt, dass Russland die Europäische Union zerstören wolle.

Ja, und in Moskau glaubt man, dass die EU und Amerika Russland zerstören wollen, indem sie das Nato-Territorium immer weiter nach Osten ausgedehnt haben und nun auch noch die Ukraine und Weißrussland in ihr Lager ziehen wollen. Die Gefahr, die von den USA für die EU ausgeht, wird darüber jedoch vernachlässigt.

Inwiefern?

Russland hat wirtschaftlich überhaupt nicht die Kraft, die EU zu zerstören. Die Konfrontationspolitik der USA gegenüber China und Russland, die Deglobalisierung und die damit verbundenen Wohlstandseinbußen sowie Migrationsbewegungen stellen dagegen eine ernst zu nehmende Gefahr für die Europäische Union dar.

Herr Baron, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Stefan Baron per Zoom
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