Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online."Bedingungen kommen Sklaverei gleich" Das erwartet Nawalny in der Strafkolonie
Alexej Nawalny wurde zu mehr als zwei Jahren Strafkolonie verurteilt. Dort drohen miserable hygienische Bedingungen und gefährliche Zustände. Was erwartet den Kreml-Kritiker?
Gezwungen zu mehr als zwölf Stunden Arbeit pro Tag, ohne Privatsphäre, oft unter korrupten Wärtern: Oppositionsführer Alexej Nawalny soll in Russland zwei Jahre in einem Straflager verbringen, hat ein Moskauer Gericht diese Woche entschieden.
Nawalny reiht sich damit in eine Linie bekannter politischer Gefangener ein, die russische Gerichte unter dem Putinregime für Monate oder Jahre weggesperrt haben: die Pussy-Riot-Musikerinnen und Kreml-Kritikerinnen Maria Alyokhina und Nadezhda Tolokonnikova, der Programmierer und Ukraine-Aktivist Konstantin Kotov, der LGBTQ- und Nawalny-Aktivist Ildar Dadin.
Eine halbe Million Menschen sitzen in Strafanstalten
Russische Politikwissenschaftler werten das Urteil als eindeutigen "Akt der politischen Aggression" gegen die Opposition. "Die Kriminaljustiz ist zu einem mächtigen Werkzeug der Repression gegen politische Aktivisten geworden", sagt auch Olga Podoplelova von der Organisation "Russland hinter Gittern" t-online. Sie habe "höchste Bedeutung" für das Putinregime – die Gerichte hätten durch Änderungen der Verfassung 2020 ihre Unabhängigkeit vollkommen verloren. Die Quote der Freisprüche betrage jetzt nur noch ein Prozent. "Wird ein Mensch einmal angeklagt, ist eine Verurteilung wahrscheinlich."
Rund eine halbe Million Menschen (483.000) sitzen zurzeit in russischen Gefängnissen, Straflagern oder Arrestanstalten. Damit liegt Russland im europäischen Vergleich auf Platz 1 und international hinter den USA, China und Brasilien auf Platz 4 der Länder mit den meisten Inhaftierten. Was hat Nawalny als politischer Häftling in der Strafkolonie zu erwarten?
Monatelange Anreise in fensterlosem Waggon
Die Strafkolonien liegen weit über Russland verteilt, Hunderte Kilometer weit entfernt von der russischen Hauptstadt. Gefangene werden meist in fensterlosen Bahnwaggons transportiert, die Reisen dauern mehrere Wochen, oft sogar Monate. In dieser Zeit seien Gefangene in der Regel wie vom Erdboden verschluckt, die Familien würden nicht informiert, kritisieren Menschenrechtsorganisationen.
Ein Monat lang verschwand etwa Ildar Dadin bei einer Verlegung zwischen zwei Straflagern von der Bildfläche. Der "Guardian" berichtet von einem Fall, in dem die Verlegung einer Frau drei Monate dauerte. Ihre Familie sei erst Wochen nach ihrer Ankunft im neuen Quartier über ihren Aufenthaltsort informiert worden.
In den Strafkolonien hätten Gefangene schon wegen ihrer Abgeschiedenheit mit zahlreichen Gefahren zu rechnen, sagt Olga Podoplelova: Es mangele an medizinischer Versorgung ebenso wie öffentlicher Überwachung, Anwälte erhielten oft keinen Zugang, das Risiko, gefoltert zu werden, steige. Oft sehen Inhaftierte ihre Familien monate- oder jahrelang nicht.
Schlafen mit Dutzenden auf engem Raum
Die überwiegende Zahl der Gefangenen ist wegen Drogendelikten oder Mordes verurteilt, berichtet "Russland hinter Gittern". In den Straflagern wird meist in Baracken geschlafen, mit Dutzenden, manchmal Hunderten, auf wenig Raum. Je nach Lagerart variiert der Bewegungsspielraum, Rückzugsorte gibt es aber nicht. Die Hackordnung ist streng, Neulinge müssen sich, Berichten von ehemaligen Insassen zufolge, erst einmal verdient machen – zum Beispiel um die beliebteren unteren Etagenbetten zu erhalten. In vielen Lagern übernehmen Gefangene Aufgaben für die Lagerleitung – Quell von Bevorzugung, Feindseligkeit und Ärger.
Es mangelt an dem Nötigsten: Dadin teilte sich eine Zelle mit zehn weiteren Männern – es gab aber nur acht Betten. Geschlafen wurde abwechselnd, geraucht wurde Kette. Um die Langeweile zu bekämpfen, fingen die Männer Mäuse, von denen es in der Unterkunft wimmelte, in Milchtüten, wie Dadins Verlobte in einem Blogeintrag berichtet.
Arbeiten für zwei Euro im Monat
Oft arbeiten Lagerinsassen 12 bis 14 Stunden an 6 Tagen die Woche, wie eine Untersuchung der Organisation „Russland hinter Gittern“ von 2019 ergab. Die Gefängnisse und Lager produzieren demnach vor allem Kleidung für die Regierung – zum Beispiel Uniformen für Armee und Polizei – und regierungseigene Unternehmen. Auch in der Möbel- und Metallindustrie werden Gefangene eingesetzt.
Olga Podoplelova berichtet von Fällen, in denen Gefangene unter Strafandrohung gezwungen wurden, zu unterzeichnen, dass sie „freiwillig“ zusätzliche Arbeit verrichten und auf ihr Gehalt verzichten. Die Bezahlung liege dabei weit unter Mindestlohn, oft nur bei 200 bis 300 Rubel pro Monat – also 2,20 bis 3,30 Euro. "In der Praxis kommen die Arbeitsbedingungen der Häftlinge oft Sklaverei gleich", sagt sie.
Respekt von Gefangenen, Schikane durch die Lagerleitung
Mehrere politische Gefangene berichteten der "New York Times", dass sie recht leicht Schutz und Verbündete in den Lagern finden konnten. Wer zum Beispiel wegen Angriffs auf einen Polizeibeamten verurteilt wurde, ernte Respekt. Der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov sagte, Nawalny werde im Straflager vermutlich keine Probleme mit seinen Mitgefangenen bekommen, denn: "Er ist mutig."
Auch Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski, der rund acht Jahre lang eingesperrt verbrachte, schilderte das Verhältnis zu seinen Barrackennachbarn als positiv: "Du sitzt ein für die Wahrheit", habe er häufiger gehört.
Problematischer könnte das Verhältnis zur Lagerleitung werden. Die Organisation "Human Rights Watch" kritisiert, dass die Lagerleitungen politische Gefangene immer wieder für kleine Verstöße gegen den Verhaltenskodex drangsalieren und bestrafen. Chodorkowski zum Beispiel sei wiederholt in Strafhaft gesteckt worden, weil er die Handschuhe eines anderen Gefangenen trug.
Pussy-Riot-Mitglied Maria Alyokhina beschrieb ihre Zeit im Straflager als Zeit "endloser Demütigungen". Drei Wochen lang sei sie beinahe täglich gynäkologisch untersucht worden. Menschenrechtsorganisationen erklären: In russischen Straflagern sind Untersuchungen des Intimbereichs bei Frauen oft Teil der Checkliste, die Sicherheitskräfte durchgehen, wenn Insassinnen das Lager für Prozesse verlassen und wieder betreten.
Gefahr von Mordanschlägen
Nawalny wurde zuletzt im August 2020 Opfer eines Mordanschlags mit dem Giftstoff Nowitschok, überlebte nur knapp. Er wurde nach Deutschland geflogen und erholte sich in Berlin fünf Monate lang. Er macht Putin für den Anschlag verantwortlich. Es war laut Nawalny nicht der erste Mordversuch: Bereits 2019 erhob sein Team den Vorwurf, dass Nawalny vergiftet worden sei – im Gefängnis.
Ob das Straflager für Nawalny wegen möglicher Mordversuche des Kremls ein lebensgefährlicher Ort ist, darüber streiten Experten. Putin könne sich das nicht leisten, der Kreml sei dann der einzige mögliche Mörder, die Schuld zu offensichtlich, sagen die einen. Andere, wie Russlandexpertin Sabine Adler vom Deutschlandfunk, warnen: "Es gibt immer noch diesen "Ups"-Faktor: Ach, dann war das irgendein Wärter, ein Mitgefangener, eine Lebensmittelvergiftung." Dass jeder Ort in dieser Welt für Nawalny gefährlich sei, habe der Anschlag in diesem Sommer gezeigt.
Oft vor Gericht
Noch ist nicht bekannt, in welcher Kolonie Nawalny seine Strafe absitzen soll. Der Kreml hat neue Vorwürfe gegen ihn erhoben, derzeit steht er noch in Moskau vor Gericht. Fraglich ist auch, wie viel Zeit Nawalny in Zukunft überhaupt dort verbringen muss. Michail Chodorkowski erklärte dem „Spiegel“ in einem Interview 2010, er sei "kein gewöhnlicher Gefangener" gewesen.
Er habe von rund acht Jahren lediglich ein Jahr und zwei Monate in dem Straflager verbracht, zu dem er eigentlich vom Gericht verurteilt wurde. "Die restliche Zeit habe ich in unterschiedlichsten Untersuchungsgefängnissen verbracht", so Chodorkowski. Grund seien die zahlreichen Prozesse gegen ihn gewesen, auf die er sich habe vorbereiten und zu denen er hätte erscheinen müssen.
- Anfrage an "Russland hinter Gittern"
- OSW: "Russia behind bars: the peculiarities of the Russian prison system"
- New York Times: "What Awaits Navalny in Russia’s Brutal Penal Colony System"
- The Russian Reader: "Ildar Dadin: “When I Get Out, We Will Change the Country for the Better”
- Guardian: "How will the Pussy Riot band members fare in Russia's 'harshest prisons'?"
- Guardian: "Freed Pussy Riot members say prison was time of 'endless humiliations'"
- World Prison Brief: "Prison Population Worldwide"
- Radio Liberty: "Russian Opposition Activist Kotov Released From Prison"
- Spiegel-Interview mit Michail Chodorkowsky: "Ich bin doch kein Narr"
- Deutsche Welle: "Nawalny gegen Putin: Wer gewinnt den Machtkampf in Russland?"