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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Urteil gegen Alexej Nawalny "Dies ist eindeutig ein Akt politischer Aggression"
Das Urteil für Alexej Nawalny ist gefallen. Die Leitfigur der russischen Opposition muss für Jahre ins Straflager. Was macht ihn aus, dass er dem Kreml so gefährlich wurde? Ein Experte gibt Antworten.
Die Verhandlung vor dem Moskauer Stadtgericht nutzte Alexej Nawalny am Dienstag noch einmal für einen Großangriff auf den russischen Präsidenten. Wladimir Putin werde als "der Vergifter der Unterhosen" in die russische Geschichte eingehen, rief der Oppositionspolitiker in den Saal. Er erinnerte an das "Killerkommando", das das Nervengift in seiner Unterhose angebracht haben soll, an dem er fast gestorben war. "Sein einziges Kampfinstrument ist das Töten", sagte Nawalny mit Blick auf Putin.
Mehr als zwei Jahre wird Russlands stärkste Oppositionsstimme in einem Straflager verbringen müssen. Das Gericht wandelte eine Bewährungsstrafe von dreieinhalb Jahren gegen den 44-Jährigen in eine Haftstrafe um, weil er mehrfach gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben soll. Ein früherer Hausarrest wird jedoch wohl auf die Strafe angerechnet. Unterstützer wie internationale Beobachter sprachen von einem politischen Prozess, mit dem Nawalny mundtot gemacht werden soll. Hat Putin so viel Angst vor ihm? Und was macht Nawalny zu so einer wichtigen Figur in Russland? Antworten gibt der Leiter des Instituts für Politikwissenschaft an der Europäischen Universität Sankt Petersburg, Professor Grigorii Golosov.
Alexej Nawalny ist zu dreieinhalb Jahren Haftstrafe verurteilt worden. Mit welchen Gedanken haben Sie diesen Prozess verfolgt?
Grigorii Golosov: Dass dies eindeutig ein Akt der politischen Aggression ist. Denn nun hat die Opposition ihren Anführer verloren.
Es ist ein hartes Urteil; Nawalnys Unterstützer sprechen von einem politischen Urteil. Hat Wladimir Putin Angst vor Nawalny?
Alexej Nawalny stellt eigentlich keine akute Bedrohung für den Kreml dar. Aus zwei Gründen: Erstens kann er Putin bei einer Wahl nicht schlagen. Er darf dort schlicht nicht antreten, weder persönlich aufgrund einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Russlands, noch als Führer einer politischen Partei. Trotz zahlreicher Versuche wurden seine Parteien nie zu Wahlen zugelassen. Zweitens ist es unrealistisch, dass Nawalny eine Revolution gegen Putin anzettelt. Dieser Versuch könnte durch den gewaltigen Machtapparat leicht unterdrückt werden.
Aber dennoch wird er bekämpft, als ob er eine massive Bedrohung für den Kreml darstellt.
In der Tat. Er bleibt ein Faktor, der dem Kreml Sorgen bereitet. Erstens ist Nawalny nach dem Tod – oder besser der Ermordung – von Boris Nemzow der bekannteste Führer der russischen Opposition. Und er ist der einzige, der von der russischen Bevölkerung als solcher anerkannt wird. Er hat sich zu einer Leitfigur für Menschen entwickelt, die mit der Führung unzufrieden sind.
Und es gelingt ihm, sie auf die Straße zu rufen.
Genau, Nawalny ist die einzige Figur außerhalb der offiziellen Politik, die große politische Aktionen mobilisieren kann, was bei den Massenprotesten im Januar deutlich aufgezeigt wurde. Außerdem ist er der einzige unabhängige Akteur, der eine zwar kleine, aber effiziente politische Organisation kontrolliert. Da ist nicht nur seine Anti-Korruptions-Stiftung. Er verfügt auch über eine regionale Infrastruktur mit Zweigstellen in allen wichtigen Städten.
Das ist der Grund, warum er bekämpft wird.
Wahrscheinlich denkt der Kreml, wenn Nawalny erst einmal weg ist, gibt es keine Bedrohung mehr. Deshalb werden Aktionen wie der Giftanschlag durchgeführt.
Warum gelingt es Nawalny so gut, die Menschen zu mobilisieren?
Er ist der erste und im Grunde der einzige russische Politiker, der die sozialen Medien zu nutzen weiß. Er versteht es, sein Publikum – vor allem sein junges Publikum – in einer für sie verständlichen Sprache anzusprechen. Es gibt zahlreiche unabhängige Medien in Russland, aber fast alle sprechen ein überschaubares Publikum an. Nicht nur weil der Zugang zu ihnen erschwert ist, sondern auch weil das Zielpublikum auf die Intelligenzia beschränkt ist und es meist Menschen über 40 sind.
Und das ist bei Nawalny anders?
Ja. Nawalny ist es gelungen, zur Jugend aber auch zur breiten Bevölkerung durchzudringen. Das ist ein wesentlicher Grund für seinen Erfolg. Dafür hat er einen enormen Aufwand betrieben und viel persönliche Energie und Engagement investiert.
Erzielt sein Einsatz politische Wirkung?
Auf jeden Fall, wie Sie an der Reaktion der Behörden erkennen können. Das Gleiche gilt für seine Smart-Voting-Kampagne. Meine Studien zeigen, dass sie den Wahlprozess im Allgemeinen verändert.
Können Sie das bitte präzisieren? Was ist Smart Voting?
Smart Voting ist ein Projekt, das darauf abzielt, die Wähler zu koordinieren. Die Idee ist, dass sich die Bürger hinter einem einzigen Kandidaten vereinen, der nicht mit der Regierungspartei "Einiges Russland" verbunden ist. In der Theorie könnten es solche "vereinigten" Kandidaten mit den Kandidaten der regierenden Administration aufnehmen. Aber die Wirkung dieser Kampagne geht noch weiter.
Bitte erklären Sie das.
Für die Machthabenden ist die komfortabelste Situation, wenn im Wahlkampf überhaupt keine kritische Stimme zu hören ist. Unter diesen Bedingungen gehen nur Leute zur Wahl, die die Regierung unterstützen. Die Wähler der Opposition ignorieren den Wahlkampf einfach. Die Ergebnisse zeigen folglich eine große Unterstützung für die Regierung.
Und das hat sich geändert?
Die Smart-Vote-Kampagne hat dieses Muster durchbrochen. Sie bringt Menschen, die denken, dass das Regime autoritär und korrupt ist und dass Wahlen manipuliert werden, dazu, trotzdem zur Wahl zu gehen. Weil sie wissen, dass es einen Unterschied macht.
Wie wirkt sich das konkret aus?
Mit der Anwesenheit von stärkeren Oppositionskandidaten verschlechtert sich das Abschneiden von "Einiges Russland". Außerdem erkennen die Menschen, dass Wahlbetrug im Spiel ist, wenn sie sehen, dass ihre Stimme für die Kandidaten der Opposition einfach nicht gezählt wird. Das schafft eine andere Atmosphäre bei den Wahlen. Und das ist nicht die Atmosphäre, die der Kreml gerne sehen würde.
Verfolgt Nawalny ein langfristiges Ziel?
Wie er selbst schon oft gesagt hat: Er will das politische System öffnen. Niemand, auch Nawalny selbst nicht, weiß, wie das geschehen wird. Aber es ist klar: Um dieses Ziel zu erreichen, muss politische Unterstützung mobilisiert und eine Organisation geschaffen werden. Jetzt etwas zu tun, kann in der Zukunft von Nutzen sein. Aber wie sich die politische Lage im Alltag entwickeln wird, weiß niemand.
Herr Golosov, vielen Dank für das Gespräch.