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Presse über "Sea-Watch": "Rackete ist das humanitäre Gewissen auf hoher See"


Presse über "Sea-Watch"-Kapitänin
"Die Empörung hat eine heuchlerische Note"

Von dpa, afp, ds

Aktualisiert am 02.07.2019Lesedauer: 4 Min.
Carola Rackete wird von italienischen Beamten am Hafen festgenommen. Sie steht seit Samstag unter Hausarrest.Vergrößern des Bildes
Carola Rackete wird von italienischen Beamten am Hafen festgenommen. Sie steht seit Samstag unter Hausarrest. (Quelle: Guglielmo Mangiapane/reuters)

Eine deutsche "Sea-Watch"-Kapitänin steht in Italien unter Hausarrest – und könnte für ihre Rettungsfahrt angeklagt werden. Auch die Presse beschäftigt der Fall. Und sie benennt einen klaren Schuldigen in diesem Dilemma.

Weil sie ohne Erlaubnis mit einem Seenotrettungsschiff mit 40 Migranten an Bord einen italienischen Hafen ansteuerte, ist die deutsche "Sea-Watch"-Kapitänin Carola Rackete festgenommen worden. Nun sitzt sie in Hausarrest. Die deutsche Presse bewertet die Rettungsaktion und die Reaktion Italiens unterschiedlich: Rackete sei "das humanitäre Gewissen auf See", sagen die einen. Auch die deutsche Lebensretterin "müsse sich an italienische Gesetze halten", die anderen. Einig ist man sich aber, wer die Schuld an der Situation trägt: die deutsche und die europäische Migrationspolitik.

Neue Zürcher Zeitung: "Es ist erstaunlich, wie leichtfertig deutsche Prominente, Politiker und selbst der Bundespräsident übersehen, dass auch Italien ein Rechtsstaat ist, der legitimerweise seine Migrationspolitik selber definiert, seine Grenze schützt und seine Gesetze durchzusetzen sucht. (...) Frau Rackete scheint sich nicht so viele Gedanken zu machen über die systemischen Gesetzmäßigkeiten des Schlepperwesens und über Risikokalkül und Anreize beim Migrationsentscheid. Sie scheint nur ihrem Reflex zu folgen, unmittelbar Menschen in Not zu helfen. Das ist ehrenhaft und nicht zu tadeln. Doch für die übergeordneten Regeln und Ziele der Migrationspolitik ist die Politik zuständig – und zwar in diesem Fall die italienische Politik, die vom italienischen Volk demokratisch dazu legitimiert wurde. Das hat auch eine deutsche Kapitänin zu respektieren."

Rhein-Zeitung (Koblenz): "Carola Rackete ist sozusagen der Gegenentwurf zu Salvini. Sie ist das humanitäre Gewissen auf hoher See. Sie lässt niemanden untergehen – und kämpft dafür, dass Rechtspopulisten kein Oberwasser bekommen. Als Kapitänin der "Sea-Watch 3" hatte sie 40 verzweifelte Flüchtlinge an Bord und fuhr nach zwei Wochen auf dem Meer "unerlaubt" in den Hafen der italienischen Insel Lampedusa ein. Dort wurde sie festgenommen. Sie wusste, welches Risiko sie im Namen der Menschlichkeit einging. Carola Rackete ist eine Heldin unserer Zeit. Dass das viele so sehen, zeigt die enorme Resonanz auf zwei Spendenaufrufe. Über die Aktion der Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf kamen bis Montagmittag mehr als 735.000 Euro zusammen, auf einer italienischen Facebook-Seite wurden mehr als 410.000 Euro gesammelt. Das Geld ist ein Rettungsanker – für ein teures Gerichtsverfahren, ein neues Schiff und für einen humanitären Kurs."

Tagesspiegel (Berlin): "Die Empörung über den Fall Carola Rackete in deutschen Ministerien hat darum eine heuchlerische Note. Schließlich sah die Politik hierzulande der humanitären Katastrophe im Mittelmeer lange genug zu. Auch weil sie einst mit dem Dublin-Abkommen die Verantwortung an die Außengrenzen der Europäischen Union verlagern konnte. Aus Berlin hieß es später oft genug, Italien habe sich an die Regeln zu halten, Flüchtlinge seien das Problem der dortigen Regierung. Das erzeugte einen wachsenden Unmut, begünstigte den Aufstieg des Rechtspopulisten Salvini zum Innenminister und dessen menschenverachtenden Umgang mit Geflüchteten. Letztlich ist nicht die Inhaftierung von Rackete der Skandal, sondern der Umstand, dass sowohl Ankläger als auch Verteidiger die Kapitänin in die Lage gebracht haben, hinausfahren zu müssen. Das allerdings wäre eigentlich die Aufgabe einer Staatengemeinschaft, die ihrer 'humanitären Verpflichtung' (Maas) wirklich nachkommt."

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t-online.de: "Innenminister Salvini mag formal im Recht sein, wenn er Flüchtlingsboote abweist. Aber europäische Werte tritt er mit Füßen. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht darum, möglichst vielen Afrikanern den ungeregelten Zugang zu Europa zu ermöglichen oder das schmutzige Geschäft der Schlepper zu unterstützen. Es geht schlicht und einfach darum, dass man Hilfsbedürftige auf dem Meer weder im Stich lassen noch sie einfach nach Libyen zurückschicken darf, wo ihnen gegenwärtig schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. 'Wir befinden uns in einem ethischen Dilemma, weil die humanitäre Hilfe einerseits Pflicht ist, andererseits von Schleppern als Argument ausgenutzt wird, um weitere Menschen in die Schlauchboote zu holen und damit ihr Leben zu gefährden", sagt NRW-Integrationsminister Joachim Stampf. "Bis es allerdings eine geordnete Migrationspolitik gibt, … bleibt die Verpflichtung, niemanden einfach sterben zu lassen.'"

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Münchener Merkur: "Von Italien, sagt Bundespräsident Steinmeier, dürfe man erwarten, dass es mit einem Fall wie dem der "Sea-Watch" und seiner deutschen Kapitänin Carola Rackete anders umgehe. In Deutschland gibt es für solche Appelle viel Beifall. Doch wie genau soll Italien denn umgehen mit dem grundsätzlichen Problem? Schließlich wird es von den Europäern seit Jahren mutterseelenallein gelassen mit seiner unhaltbaren Situation. Den Schwall der Empörung, der sich von Deutschland aus nun über das Land ergießt, nehmen die meisten Italiener als ziemlich selbstgerecht wahr. Sollen für Europas Grenzschutz die Italiener zuständig sein, für die Moral aber, aus sicherer Entfernung, mal wieder die Deutschen? Das wäre eine ziemlich unfaire Arbeitsteilung. Aber eine, mit der Europa inzwischen viel Erfahrung hat."


Reutlinger General-Anzeiger: "Wenn das Gerangel um die 'Sea-Watch 3' und ihre Kapitänin für etwas gut ist, dann dafür, das Augenmerk wieder einmal auf die Tragödien im Mittelmeer zu richten. Die Tatsache, dass zur Hauptnachrichtenzeit kaum noch Bilder von Flüchtlingen in überfüllten Nussschalen zu sehen sind, heißt nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Jeder sechste Migrant stirbt laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR beim Versuch, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Schlepper agieren als Menschenhändler und zwingen Geflüchtete ins Drogengeschäft. Doch einfache Lösungen gibt es nicht, schon gar nicht kann Europa den Mittelmeeranrainern die Last allein aufbürden. Gefragt ist der lange Atem: Bekämpfung der Fluchtursachen, fairer Handel und legale Zuwanderungskontingente".

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa, AFP
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